Die Zahl der Eingriffe steigt – das sorgt für Unmut bei den Krankenkassen. Zwei Hamburger Ärzte erklären, warum die Operationen zunehmen und in welchen Fällen sie erforderlich sind

Hamburg Kaputte Bandscheiben, Verschleißerscheinungen an den Knochen: Immer mehr Menschen in Deutschland werden an der Wirbelsäule operiert. Das sagt jedenfalls die Statistik. Der Verband der Ersatzkassen (vdek) teilte erst kürzlich mit, dass in Hamburg die Versteifungsoperationen an der Wirbelsäule bei gesetzlich Versicherten von 1681 im Jahr 2008 auf 2132 Eingriffe im Jahr 2010 gestiegen sind. Im gleichen Zeitraum verdoppelte sich in Hamburg die Zahl der Operationen, bei denen Chirurgen eine künstliche Bandscheibe einsetzten, von 93 auf 187. Im Zusammenhang mit diesen Steigerungen kommen auch immer wieder Vermutungen auf, Patienten würden voreilig und unnötig an der Wirbelsäule operiert. „Wir haben ein Mengenproblem in Krankenhäusern. Wenn zu viel oder unnötig operiert wird, steigt die Arbeitsbelastung der Ärzte und Pflegekräfte, mit unklarem Nutzen für die Behandlungsqualität und für die Patienten“, sagte Kathrin Herbst, Leiterin der vdek-Landesvertretung Hamburg. Das Bundesgesundheitsministerium berichtet von einer Verdoppelung der Wirbelsäulenoperationen in Deutschland zwischen 2005 und 2011.

Ärzte sehen dagegen mehrere Gründe, mit denen sich die steigenden Zahlen erklären lassen: „Operationstechniken haben sich verfeinert, die Narkose ist verträglicher geworden. Deswegen können im Gegensatz zu früher heute auch Menschen bis ins hohe Alter operiert werden. Wenn ein 85- bis 90-jähriger Mensch noch komplett unabhängig lebt und seine Beweglichkeit als einen hohen Wert ansieht, spricht nichts dagegen, ihn zu operieren“, sagt Dr. Alvaro Rebolledo-Godoy. Der Neurochirurg hat eine Praxis in Hamburg und operiert seine Patienten in der Facharztklinik Hamburg. Er hat auch festgestellt, dass sich das Anspruchsdenken bei den Älteren extrem erhöht hat: „Während sich die Menschen früher eher mit Einschränkungen abgefunden und sie ihrem Alter zugeschrieben haben, kommen heute viele Ältere zu uns, die sich dann lieber operieren lassen wollen. Das ist ein Grund für die größere Nachfrage nach Operationen, den es vor 20 Jahren noch nicht gegeben hat.“ Hinzu komme, dass durch die steigende Lebenserwartung auch die degenerativen Erkrankungen mehr ins Gewicht fallen, ergänzt Dr. Torsten Hemker, Orthopäde und Ärztlicher Geschäftsführer der Facharztklinik.

Ein weiteres Kriterium ist eigentlich nichts anderes als eine Definitionsfrage: Welche Eingriffe werden in die Statistik mit einbezogen? „Viele Eingriffe, die minimal invasiv durchgeführt werden, zählen in unseren Augen nicht zu den Operationen, gehen aber in die Operationsstatistik mit ein. Das sind zum Beispiel Injektionstherapien wie die Periradikuläre Therapie, bei der Medikamente an eine Nervenwurzel gespritzt werden“, sagt Rebolledo-Godoy. Auch der Begriff der Versteifungsoperation umfasse unterschiedliche Methoden. So gebe es Operationen, die nach den Fallpauschalen (DRGs), mit denen Klinikbehandlungen abgerechnet werden, als Versteifung gelten, aber eigentlich nicht zu den klassischen Methoden der Stabilisierung gehörten, sagt Rebolledo-Godoy. Er ist Vorsitzender des Hamburger Landesverbandes niedergelassener Neurochirurgen, die für Wirbelsäulenbehandlungen Qualitätsstandards erarbeitet haben, an denen sich Neurochirurgen orientieren sollen.

Die Verdoppelung der in Hamburg eingesetzten Bandscheibenprothesen geht laut Hemker von einer sehr kleinen Zahl aus. „Wenn sich die Anzahl von 93 pro Jahr verdoppelt, kann das auch daran liegen, dass sich auch die Technik verbessert und die Chirurgen mehr Erfahrungen mit dieser noch relativ neuen Methode gesammelt haben. Ich betrachte das als eine übliche Zunahme bei einem neuen Verfahren.“

Gerade diese Operation ist nicht billig: In der Facharztklinik kostet sie mit Einsetzen der künstlichen Bandscheibe 6771 Euro. Darin enthalten sind die Kosten für das dort am häufigsten verwendete Implantat von 2000 Euro. „Die hohen Kosten einer Operation sind manchmal auch dadurch bedingt, dass die Implantate so teuer sind. Wenn etwas neu ist, wird es zunächst hoch bewertet. Doch durch die steigenden Fallzahlen und den Konkurrenzdruck sinken die Kosten, und auch die Fallpauschalen werden geringer“, sagt Hemker. Zum Vergleich: Für das Einsetzen eines künstlichen Hüftgelenks erhält die Facharztklinik 6895 Euro inklusive 1400 Euro für das Implantat, für den Ersatz eines Kniegelenkes 7225 Euro, inklusive 1840 Euro Implantatkosten.

Wenn ein Patient mit Rückenschmerzen in die Praxis kommt, stehen an erster Stelle die Erhebung der Krankengeschichte und die Untersuchung. Wenn es dann nötig ist, wird ein Röntgenbild oder eine Kernspinaufnahme gemacht. Bei deren Bewertung sei Vorsicht geboten, sagt Hemker: „Im Kernspin finden Sie bei 20 Prozent der Menschen Bandscheibenvorfälle. Aber nicht alle sind relevant, weil sie nicht auf Nerven oder das Rückenmark drücken.“

Die häufigste Rückenerkrankung ist eine harmlose Funktionsstörung, eine Blockade der Wirbel und Verspannungen der Muskulatur: der akute Hexenschuss. Je älter die Patienten werden, umso häufiger sind bandscheibenbedingte Rückenschmerzen, die zu Reizungen der Nervenwurzeln führen können. Die Folge davon sind auch degenerative Erkrankungen der Wirbelgelenke. Solche jahrzehntelangen Veränderungen können dann zur sogenannten Lumbalstenose führen. „Das ist eine Enge des Wirbelkanals, die dann zu einer Art Schaufensterkrankheit führt, sodass man nach einer bestimmten Gehstrecke eine Kraftlosigkeit in den Beinen spürt“, erklärt der Orthopäde. „Diese Erkrankungen betreffen am häufigsten die Lendenwirbelsäule “, ergänzt Rebolledo-Godoy.

Bei der Behandlung, so betonen beide Ärzte, steht an erster Stelle die konservative Therapie. „Es gilt, die Bandscheiben herauszufinden, die man operieren muss, weil sie sonst Schaden nehmen. Das ist dann der Fall, wenn Lähmungen auftreten“, sagt Hemker. Das zweite Kriterium: Wenn ein Rückenschmerz trotz einer konservativen Behandlung von mindestens sechs Wochen nicht besser wird, wenn Medikamente bis hin zu Cortison und physikalische Therapie mit Streckung, Wärmeanwendung, Krankengymnastik und eventuell Bewegungsbädern ausgeschöpft sind. „Schmerzen und Gefühlsstörungen sind hingegen keine Indikation für eine Operation. Gefühlsstörungen können durch eine Operation nicht immer vollständig behoben, sondern es kann schon ein Nervenschaden vorliegen. 80 Prozent der Patienten, die in meine Praxis kommen, werden nicht operiert“, sagt Rebolledo-Godoy.

Bei Bandscheibenvorfällen ohne Lähmung seien Patienten immer sehr aufgeschlossen für eine konservative Therapie, weil sie vor Bandscheibenoperationen relativ viel Angst hätten, so Hemker. „Die Angst ist unbegründet, weil die Verfahren sehr sicher sind.“ Aber es gibt auch Situationen, da kann nur der Patient entscheiden, ob operiert wird. Das hängt zum Beispiel bei der Lumbalstenose davon ab, wie aktiv er noch ist. Jemand, der sich die meiste Zeit des Tages in der Wohnung aufhält, wird sich nicht operieren lassen. Jemand, der jeden Tag mit seinem Hund vier Kilometer gehen will, dagegen schon. „Bei der Indikationsstellung solcher relativen Eingriffe spielt die individuelle Situation des Patienten eine wichtige Rolle“, sagt der Orthopäde.

Auch Rebolledo-Godoys Patienten wollen Operationen möglichst vermeiden. „Wenn ein Eingriff nötig ist, weil schon Lähmungen vorhanden sind, sind manchmal ausführliche Gespräche nötig, um zu einer Entscheidung zu kommen. Ich rate den Patienten dann, eine zweite Meinung bei einem Kollegen einzuholen. Das sollte ein mit Schwerpunkt Wirbelsäule behandelnder Neurochirurg oder Orthopäde sein.“

Doch was kann man selbst tun, um behandlungsbedürftigen Rückenleiden vorzubeugen? „Genetisch bedingte Abnutzungserkrankungen kann man nicht beeinflussen. Man geht davon aus, dass ein Wechselrhythmus am günstigsten für den Rücken ist. Das heißt, wenn man viel sitzt, braucht man einen Ausgleich durch Bewegung, um die Muskeln zu stabilisieren und die Durchblutung der Bandgewebes zu fördern“, sagt Hemker.