Ein Theaterstück namens Gesundheitswesen

Notizen aus dem Alltag eines Kreiskrankenhauses

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Es war bereits abends um elf, als die 81-jährige Dame den diensthabenden Notarzt in einem deutschen Bäderkurort anrief. Sie leide, bekannte sie, öfters unter erhöhtem Blutdruck. Da sie allein lebte, erweckte die Hypertonie in ihr eine gewisse Unruhe, die sich leicht zur Panik ausweiten konnte. Der überlastete Arzt bedauerte, sie nicht persönlich in Augenschein nehmen zu können. Sie konnte ihren Blutdruck selbst mit 200/100 messen. Er riet ihr daraufhin, sicherheitshalber die Ambulanz des Kreiskrankenhauses aufzusuchen. Durch seine Überweisung konnte ein einziges Mal in dem hier berichteten Vorgang eine Kosteneinsparung erzielt werden: Die Fahrt mit dem Krankenwagen kostete Dank Einweisung 41 Euro. Ohne Einweisung wären exakt 571 Euro fällig gewesen. Für 800 Meter Luftlinie und fünf Minuten Fahrt.

Dieses Business betreiben Firmen mit spirituellen Namen wie Malteser und Johanniter. Diese senden gerne Spendensammler aus, bestehen aber fast nur aus hauptamtlichen Mitarbeitern. Als so einer einmal vor meiner Haustüre um Spenden bat, fragte ich ihn, was er verdiene. Er daraufhin: "Das geht Sie gar nichts an."

Im KKH angekommen, wurde die Dame zuvorkommend behandelt. Im Aufnahmeschein für ihre stationäre Einweisung stand: "Hypertensive Entgleisung". Blutdruck bei Einweisung: 176/70. Das ist nicht dramatisch. Weitere Feststellungen in der Erstdiagnose: "Kein Thoraxschmerz, keine Dyspnoe, keine Angina Pectoris." Als Einweisungsgrund wurde die "Einstellung" des Bluthochdrucks genannt.

Wo soll man anfangen? Beim Geschäftsmodell des Kreiskrankenhauses? Bei der Versicherung der Patientin? Bei "dem Gesundheitssystem"? Oder bei Ärzten und Pharmaindustrie?

Es gibt in dem hier beschrieben Vorgang keinen kausalen Anfang. Handlungsstränge mit bekannten Routinen ergänzen sich und ergeben einen Handlungsfluss, dem die Beteiligten folgen wie Schauspieler in einer Sprechrolle. Sagst Du "Bluthochdruck", sagt einer "abklären" und ein anderer "Einstellung". Sind diese Worte gesprochen, setzt sich eine Armada von Krankenwagen, Hausmeistern und Außendienstmitarbeitern für Röntgengeräte, von Sachbearbeitern in Krankenkassen, Buchhaltern und Change-Management-Beratern, von Pharmavertretern, Gewerkschaftlern und Verbandsfunktionären in Gang, deren Rolle darin besteht, den weiteren Text nach den drei Einleitungsworten in vielen Einzeldialogen aufzusagen. Dabei soll ausdrücklich auch die Improvisation nicht zu kurz kommen.

Das Kreiskrankenhaus ähnelt in seiner Aufführungsästhetik daher einigen Performance-Stücken von Christoph Schlingensief, was bedeutet: Das Publikum wird aktiv in das Stück eingebunden, freiwillig und unfreiwillig. Es wird nicht zwischen Bühne und Publikumsraum getrennt. Die Regie ist in der Lage, spontane Dynamik zu managen.

Nach der erfolgreichen Einweisung wurde die Dame auf ein Zimmer gelegt. Wie wir alle wissen, ist es bei Bluthochdruck und der daraus resultierenden panischen Verunsicherung besonders heilsam zu liegen - erst recht, wenn man über 80 Jahre zählt, ein Alter, in dem Liegen geradezu als ideale Therapie gelten darf. Durch das Liegen können nicht nur rüstige Senioren schnell weitere Symptome entwickeln: Rückenschmerzen etwa. Harninfekte. Krankenhausinfektionen. Selbst Stürze können als Folge des Kontrollverlustes im KKH verstärkt auftreten, wie wir in der Dissertation von Markus Mai erfahren. Da laut Mai nur 5% der Sturzereignisse in Krankenhäusern überhaupt vom Personal beobachtet werden, ist die empirische Basis allerdings unbefriedigend. Dass allerdings in Krankenhäusern eine als Sturzgrund genannte, "Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten" durch Medikation und Passivität verstärkt auftrete, könnte auch der gesunde Menschenverstand nachvollziehen.

Wenn aber die Ausweitung der Symptome und Beschwerden bei der stationären Behandlung selbst bei über 80-Jährigen ausbleibt, etwa, weil diese als Fußgänger in einer steilen Berglage leben und deshalb bei jedem Wetter täglich zwei Kilometer zu Fuß gehen, tritt eine nicht unerhebliche Enttäuschung ein: Die Einweisung könnte sich als teure Fehldiagnose erweisen. Böse Controller könnten sie in Frage stellen. Im Falle unserer Patientin muss die Enttäuschung besonders groß gewesen sein, denn bereits nach einem Tag blieb ihr Blutdruck stabil im mittleren Bereich. Da hätten sie die Ärzte eigentlich nach Hause schicken müssen.

"Ich würde gerne noch einen Gewebeprobe nehmen"

Aber wie es so ist: Das KKH des Heilkurortes ist Mitglied eines Clusterkonsortiums benachbarter Orte, in dem es die Spezialität "Lunge" abdeckt. Vor hundert Jahren wurden rachitische Großstadtkinder und röchelnde Bergarbeiter in die Kurheime der Reinluftgebiete der deutschen Küsten, Mittelgebirge und Alpen verschickt. Das Prädikat "Luftkurort" ist geblieben, obwohl Deutschland insgesamt heute weitgehend ein einziger, riesiger Luftkurort ist. Aber Lungenleiden nehmen nicht zuletzt durch den Rückgang des Rauchens ständig ab.

Da kommt die Lungenabteilung des KKH auf eine geniale Idee: Warum nicht bei jedem erstmal die Lunge röntgen? Und bei jedem Zehnten eine Gewebeprobe unter Vollnarkose entnehmen? Eine Win-Win-Situation selbst für die wenig ausgelastete Anästhesie. Drei Tage mehr stationär. Amortisation der Röntgenabteilung. Höhere Auslastung. Erfolgsbeweis der USP-Division "Lunge".

Die Dame erzählt, dass ihre Lunge bei ihren Blutdruckbehandlungen bereits dreimal geröntgt wurde und dies auch bei allen anderen Patienten geschehe. Vorsorglich. "Thorax 2E" lautet der Name des begehrten Fotoproduktes, das offenbar wie die Kurtaxe zum Standardangebot des Kurortes zählt.

Und tatsächlich: Nach Thorax 2E tritt zu den bisherigen Schlüsselworten "Bluthochdruck", "abklären" und "Einstellung" die Wendung "abnorme Befunde" hinzu. Der Chefarzt persönlich teilt der Dame das schreckliche Wort mit. Sie ruft sofort ihre Kinder an: "Ich habe Verdacht auf Lungenkrebs und muss jetzt dableiben."

Inzwischen liegt die Bluthochdrucklerin sechs Tage mit normalem Blutdruck in der Klinik. Tageskosten laut Endabrechnung: Unterkunft 2919 Euro geteilt durch 11 Tage Aufenthalt. Das sind 265 Euro 36 Cent pro Tag. Zuzüglich sonstige Behandlungen und Medikamente für 2.344,94 Euro. Am Ende dürfen die beiden Kassen sich die Übernahme von 5.263 Euro 94 teilen. Bei Krankenhauskosten gibt es wenig Einwände. Die Abrechnungsprogramme sind durch Spezialisten optimiert und ausgerechnet der schwächste Punkt der ganzen Abrechnung, die Erstdiagnose der Ambulanz wird in die Prüfung gar nicht miteinbezogen. Gut, sie hätte einen Tag zur Beobachtung bleiben können. Aber 11 Tage mit Gewebeentnahme an der Lunge?

Fragen, die niemand stellt. Der "Befund" war dann negativ, widerlegte also den abnormen Befund. Da hat der Oberarzt eine neue Idee: "Ich bin nicht ganz sicher", offenbart er der betagten Patientin. "Ich würde gerne noch einen Gewebeprobe nehmen."

Wieder rief sie ihre Kinder an. Die rieten ihr von einem weiteren Eingriff ab. Nach 11 Tagen durfte sie gehen. "Auf eigene Gefahr", wie der Oberarzt vielsagend feststellte. Es könnte ja immer noch etwas "abgeklärt" werden, das zu "abnormen Befunden" führen könne, deren Überprüfung allein schon aus Sicherheitsgründen - nein, wir möchten hier den empirischen Teil der Reportage beenden.

Unter Klinikbewertungen.de wird das KKH teilweise sehr schlecht bewertet. Bei einer schlechten Bewertung meldete sich ein Pfleger, der die schlechte Pflege bestätigte und mitteilte, dass er selbst die Kündigung erwäge. Es gäbe leider, leider sehr wenig qualifiziertes Personal, die guten Kollegen hätten längst ihren Koffer gepackt und gekündigt.

Notfallmedizin: Freibrief für vielfältigste Geschäftsmodelle

In nicht wenigen Städten und Kreisen stellt das KKH den größten Arbeitgeber dar. 3600 Mitarbeiter beschäftigt der regionale Klinikverbund, in dem unsere Patientin zur Lungenpatientin erklärt wurde. Nach eigenen Angaben werden jährlich 50.000 Patienten behandelt - das wären etwa 20 Prozent der Bevölkerung. Im Jahresbericht 2012 rühmt die Klinik, den Bundesdurchschnitt in Sachen Aufenthaltsdauer und Patientenzahl "übertroffen" zu haben. Ein merkwürdiges Verständnis der eigenen Leistung im Gesundheitssystem, denn theoretisch wäre ja ein KKH dann am erfolgreichsten, wenn möglichst viele Bürger möglichst lange stationär Abklärungen von Thorax 2E abwarteten. Oder bei Bluthochdruck, Diabetes und Migräne die Klinik stürmten.

Angesichts des hier geschilderten 5.263-Euro-Abenteuers kommen natürlich sofort Lösungsideen hervor. Mehr Kontrolle der Leistungen. Deckelung der Honorare und Sätze. Aber das Gesundheitssystem ist wie eine Sturmflut - man baut Dämme, aber an ihrer schwächsten Stelle brechen sie. Oder die Flut kommt durch die Flüsse.

Während bei den niedergelassenen Ärzten mit einigen Ausnahmen wie Radiologen und Zahnärzten die Abrechnungen durchaus streng geprüft werden, ist die von den KKH angebotene Notfallmedizin noch immer ein Freibrief für vielfältigste Geschäftsmodelle.

Als ich vor einigen Jahren auf dem Europäischen Gesundheitskongress in einer Podiumsdiskussion erwähnte, dass das Gesundheitswesen zur Zufriedenheit aller überwiegend Selbstzweck sei, hielt mir in der Diskussion der Leiter des Deutschen Krankenhausverbandes als Argument die Notfallmedizin vor. Wer möchte schon im Notfall keine Hilfe erwarten dürfen? Wer hat nicht von den Schauermärchen von Patienten in Griechenland, England und den USA gehört, die vor der Klinik krepierten?

Es ist ein offenes Geheimnis, dass man die aufwändige CT, für die man in fachärztlichen Praxen oft monatelang warten muss, in der städtischen Klinik innerhalb von Stunden kostenfrei erhält. Dafür muss man nur in die Notaufnahme gehen und dann der Einweisung nicht Folge leisten. Die CT ist da und die Diagnose auch.

Auch das hat systemische Ursachen, ist die psychische Folge des Abklärungswahnes, der die persönliche Untersuchung und Diagnose des Patienten abgelöst hat. Der Patient fürchtet, nicht korrekt abgeklärt worden zu sein. Der Arzt fürchtet Haftung, wenn er beim Abtasten und Sprechen etwas übersehen hat. Beide zusammen überzeugen die Kassen davon, dass eine CT zu hundert Prozent zu erstatten ist. Im Notfall auch mehrfach. Wer etwa einmal wegen der Bandscheibe eine CT bekam, kann diese in jedem Akutfall neu bekommen. Völlig korrekt, denn durch Bewegungen kann sich die Kompression des Gewebes auf den Nerv bis hin zur Lähmung negativ verändern.

Etwa 100.000 Bandscheibenoperationen pro Jahr künden von dieser Gefahr. Überflüssig seien die meisten , wenden Fachleute ein.

Zumindest ökonomisch kann man sich diesem negativen Urteil nicht anschließen, bedeutet doch jede Bandscheibenoperation mit CT, Anästhesie und Klinikaufenthalt, ständiger Nachkontrolle und - Behandlung einen Umsatz im fünfstelligen Bereich mit vierstelligen Jahresfolgekosten.

Wenn es einen objektiven Maßstab für medizinische Notwendigkeit gäbe, würde dieser bedeuten, dass alle Placeboeffekte und psychosomatischen wie psychosozialen Faktoren als nicht existent betrachtet würden. Oder, einfacher gesagt: Auch die allopathische Schulmedizin ist eine gigantische Homöopathie.

Leben von der Krankheit

Die Dame hat deshalb auch das Kreiskrankenhaus inspiriert verlassen und die Beruhigung genossen, die in der Bestätigung liegt, außer leichtem Bluthochdruck keine behandlungswürdigen Krankheiten zu haben. Diese Bestätigung stärkt sie in ihrer Unabhängigkeit, lebt sie doch ohne Angehörige in der eigenen Wohnung am steilen Berghang. Sie kauft selbst ein und trägt zur Bevölkerung der Cafés und Fußgängerzonen des maroden Kurbades bei.

Paradox: Ihre Krankheit hält sie gesund.

Damit geht es ihr nicht anders als den Ärzten, Pflegern, Klinikbetreibern und Krankenkassen, Universitäten und Verbänden. Sie alle leben von der Krankheit, nicht von der Gesundheit.

Jede Kritik an der Vielfältigkeit der Interessen und Abhängigkeiten, die gemeinsam das im Grunde nicht existente "Gesundheitssystem" ausmachen, versagt, wenn wir auf die soziale, ökonomische und beschäftigungstherapeutische Funktion der Krankheit blicken.

Sie hat für die meisten Menschen eine sinngebende Bedeutung gewonnen. Oder war es doch die Gesundheit? Egal.

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