Bonus-System
Ärzte, die mehr operieren, kriegen einen Bonus

Jeder fünfte Spitalarzt erhält einen leistungsbezogenen Bonus. Spitäler entlöhnen Ärzte zunehmend nach Menge der Untersuchungen und Operationen. Jetzt fordert der Ärzteverband FMH eine Änderung der Lohnpraxis.

Anna Wanner
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Boni für Spitalärzte: Das Vergütungssystem stösst auch bei Medizinern auf Kritik.

Boni für Spitalärzte: Das Vergütungssystem stösst auch bei Medizinern auf Kritik.

Keystone

Jeder fünfte Spitalarzt in leitender Funktion erhält einen Bonus, wenn er in einer gewissen Zeit eine bestimmte Anzahl an Patienten behandelt.

Die sogenannt zielbezogenen Boni tauchen immer öfter in den Arbeitsverträgen Schweizer Spitäler auf. Das hat eine Umfrage des Ärzteverbandes FMH ergeben, die im Sommer durchgeführt und gestern veröffentlicht wurde.

Die Ärzte sind wenig glücklich mit dieser Entwicklung und kritisieren die Bonus-Zahlungen, die im Schnitt 20 Prozent des Lohnes ausmachen.

Der Grund: Die Boni würden die Ärzte dazu verleiten, unnötigerweise mehr Patienten und Symptome zu behandeln, um den Umsatz eines Spitals zu steigern. Der Verband hat deshalb eine Resolution verabschiedet, die von Bonusvereinbarungen in Spitalarztverträgen abrät.

Inhaltlich bezieht sie sich dabei auf die Standesordnung der Ärzte, die verbietet, mengenmässige Verpflichtungen einzugehen, die den Umsatz fördern sollen.

Pathologe Carlo Moll, der den Verein der Leitenden Spitalärzte der Schweiz (VLSS) präsidiert, sagt, der Verzicht auf einen solchen Bonus sei nicht ganz so einfach, weil er im Interesse des Spitals sei.

Deshalb hätten Ärzte, die Zielvereinbarungen nicht einhalten und darum für ein Spital nicht rentabel seien, mit Konsequenzen zu rechnen (siehe Interview unten).

Um welche Spitäler es sich genau handelt, ist unklar. Jedes Haus hat seine eigene Lohnpolitik, Listen werden keine geführt. Der Spitalverband H+ hat weder Angaben noch Zahlen zu den Vergütungsregeln.

Auch hat der Verband keine offizielle Haltung oder Vorgaben für Spitaldirektoren. Sprecherin Dorit Djelid sagt, das Vergütungssystem hänge vom Spital ab, welche Anreize geschaffen werden sollen.

«Ein Fixlohn kann zur Unterversorgung führen, weil ein Arzt zu wenig tut. Er habe keinen Anreiz, seine Leistung zu steigern, weil er den Lohn sowieso erhalte. «Ein leistungsorientiertes System kann hingegen einen Anreiz schaffen, zu viel zu tun», sagt Djelid.

FMH fordert Transparenz

Um Transparenz zu schaffen, fordert die FMH jetzt, dass die Spitäler öffentlich darlegen müssen, ob und in welcher Form sie Verträge mit zielbezogenen Boni abschliessen.

Für die Patientenschützerin Margrit Kessler reicht das nicht, sie hält die Bonuskultur, die sich in den Spitälern breitmacht, für «bedenklich».

Die St. Galler Grünliberale sagt aber, überrascht sei sie nicht von dieser Situation. Ganz im Gegenteil.

Die Entwicklung sei seit der Einführung der Fallpauschalen vor zwei Jahren absehbar gewesen. «Seitdem jeder medizinische Eingriff und jede Untersuchung finanziell rentieren muss, regieren in den Spitälern die Ökonomen. Und die sitzen in der Direktion.»

Auch das frühere System der Tagespauschalen schützte die Patienten vor finanziell motivierten Ärzten nicht: Patienten wurden zu lange im Spital behalten.

Allerdings hat sich die Situation verändert, sagt Kessler. Sie warnt vor zu früh durchgeführten Operationen.

Um sich davor zu schützen, empfiehlt sie vor Eingriffen immer eine Zweitmeinung einzuholen. «Von einem Arzt, der weit weg praktiziert, in einem anderen Spital, in einem anderen Kanton.»

«Die Spitalärzte stecken in einer Zwangslage»

Herr Moll, zielbezogene Boni schaffen falsche Anreize. Wird zu viel operiert?
Carlo Moll*: Das ist noch nicht der Status quo. Wir befürchten aber eine solche Entwicklung, weil alle Spitalärzte, nicht nur Chirurgen, über Leistungsvereinbarungen der Spitaldirektionen angehalten werden, Kriterien anzuwenden, die nicht dem medizinisch Notwendigen entsprechen.

Was heisst das?
Sie haben eine vertragliche Vorgabe, wie viele Operationen oder Untersuchungen sie in bestimmter Zeit durchführen müssen. Je mehr, desto besser.

Wie kann denn ein Spitalarzt seine Menge ausweiten?
Nicht so direkt. Ärzte nehmen keine unnötigen Operationen in Kauf. Doch Medizin ist keine exakte Wissenschaft. Wenn jemand mit Bauchschmerzen ins Spital kommt, kann man viele Untersuchungen durchführen und am Ende immer noch nicht genau wissen, was die Schmerzen verursacht. Ein Tumor im Dickdarm, ein entzündeter Blinddarm oder eine Eierstock-Erkrankung. So wird rascher entschieden, den Bauch zu öffnen, um nachzusehen, was die Ursache ist.

Was wäre die Alternative?
Das konservative, günstigere Vorgehen wäre Abwarten, zunächst medikamentös behandeln und die Diagnostik vorantreiben. Doch die Patienten wollen selbst, dass es vorwärtsgeht, sie nehmen höhere Kosten in Kauf.

Möglicherweise ist ein Eingriff unnötig.
Es liegt sicher immer ein Grund vor, wenn ein Arzt operiert. Aber er muss auch abwägen: Operieren wir jetzt oder warten wir noch ab? Wenn alles immer sofort gemacht wird, überhitzt das System. Ausser bei Notfällen versteht sich.

Widerspricht das dem Ärztekodex?
Die Spitalärzteschaft steckt in einer Zwangslage. Sie wird als Angestellte dazu gedrängt, zunehmend nach wirtschaftlichen Kriterien zu entscheiden. Wer Widerstand leistet, beispielsweise gegen Boni bei Zielvereinbarungen, muss mit Konsequenzen rechnen.

Was sind das für Konsequenzen?
Wer die Leistungsvorgabe nicht erfüllt, kann im Beschäftigungsgrad zurückgestuft werden. So wurde unlängst einem Kaderarzt vorgerechnet, dass er für das Spital nicht rentabel sei, weil er sein Soll nicht erfüllt habe, weil er also nicht genügend Patienten pro Zeiteinheit abrechnungsrelevant behandelt habe. Ihm wurde deshalb eine Änderungskündigung vorgelegt: Er musste, bei Androhung einer Kündigung, sein Pensum reduzieren.

Woher kommt der Druck? Sind daran die Fallpauschalen schuld?
Nein. Das hat keinen direkten Zusammenhang. Die Fallpauschalen haben einen anderen negativen Effekt: Die Ärzte werden auf Wirtschaftlichkeit getrimmt, anstatt sich alleine an medizinischen Kriterien und Qualität zu orientieren. Wir dürfen zum Beispiel nicht mehr die beste Prothese implantieren, sondern müssen unter Umständen die günstigere nehmen.

Was ist zu ändern?
Man müsste mehr auf Qualität setzen, Spitäler sind nicht primär Cashcows. Sie müssen medizinische Leistungen zu angemessenen Preisen bei optimierten Kosten anbieten. Dabei soll nicht bei der Medizin, sondern in der Administration gespart werden. Wir sind zu stark administrativ belastet. Grundsätzlich sollte nicht ein Betriebsgewinn das Ziel sein.

Kosten müssen aber gedeckt werden.
Im Vergleich zu dem, was Spitäler für die Volkswirtschaft leisten, ist der betriebswirtschaftliche Aufwand gering. Wir führen erkrankte oder verunfallte Arbeiter oder Managerinnen schnell in den Arbeitsprozess zurück. Damit werden der Wirtschaft Milliarden gespart. Aber jeder stöhnt, wenn 100 000 Franken in der Klinikkasse fehlen.

* Carlo Moll präsidiert den Verein der Leitenden Spitalärzte der Schweiz VLSS und arbeitet als Facharzt in Aarau.