«Die Ökonomie hat der Medizin zu dienen – nicht umgekehrt»

«Die Ökonomie hat der Medizin zu dienen – nicht umgekehrt»

Gesundheitswesen

Fallpauschalen in deutschen Krankenhäusern (Diagnosis Related Groups, DRG) und ihre Folgen

von Heike Faller und Christiane Grefe

sl. Deutschland hat im Jahre 2003 die Fallpauschale eingeführt. Die Auswirkungen dieses neuen Abrechnungssystems sind damit über neun Jahre überschaubar. Es wird deutlich, was ein Teil der Ärzte schon zu Beginn vorausgesagt hat: Die Fallpauschale ist ein falscher politischer Entscheid gewesen. Sie hat die Gesundheitsversorgung nicht billiger gemacht, sondern der ökonomische Druck hat die patientenbezogene Arbeit verschlechtert, Fehlentscheidungen und verschleppte Fälle ergeben, die von angrenzenden Systemen übernommen werden müssen.
Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) hat kürzlich in einer Stellungnahme festgehalten, Krankenhäuser würden heute geführt «wie Industrieunternehmen». «Krankheiten werden zur Ware, Ärzte zu Anbietern und Patienten zu abgerechneten Fällen.» Der nach amerikanischem Vorbild von der neoliberalen Wirtschaft erzwungene Wechsel kann nicht Ärzten und Spitalpersonal angelastet werden, sondern die Entscheidung ist aus dem Finanzbereich und der Politik gekommen und muss auf politischer Ebene korrigiert werden. Für die Ärzte gilt weiterhin der hippokratische Eid und das «Genfer Gelöbnis». Neu haben europäische und amerikanische Ärzte (2002) eine «Charta of Medical Professionalism» erarbeitet und veröffentlicht, die aber in Deutschland wenig bekannt und nicht verpflichtend ist. Sie wäre auch nicht nötig, wenn nicht der ökonomisch-politische Fehlentscheid inzwischen den Klinikalltag durchökonomisiert hätte. In der Demokratie müssen Fehlentscheide aber auch korrigierbar sein.
Die deutsche Wochenzeitung «Die Zeit» hat deshalb dem Problem nicht nur einen Übersichtsartikel gewidmet, den wir nachstehend abdrucken, sondern in einem Interview mit Ärzten die Situation an Beispielen konkretisiert. Die beschriebene Situation bezieht sich auf deutsche Krankenhäuser. Jedes Land der EU wird seine Situation gesondert durchdenken und darlegen müssen, da grosse Unterschiede bestehen können.
In der Schweiz wurde die Fallpauschale (DRG) am 1. Januar 2012 eingeführt und zeigt auch hier bereits erste Auswirkungen in die gleiche Richtung. Im Rahmen der intransparenten Reform der Gesundheitsfinanzierung stehen immer weniger Steuermittel für die Gesundheitsversorgung zur Verfügung, worauf der Präsident der schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz Conti («Zeit-Fragen» Nr. 22 vom 21. Mai und «Neue Zürcher Zeitung» vom 31.12.2011) hinwies. Wenn in deren Folge die Krankenkassenprämien laufend steigen, darf dies nicht als Grund herhalten, deutsch-amerikanische Gesundheitsreformen zu importieren. Wenn ein System in den umliegenden Ländern bereits so krasse negative Auswirkungen hat, müsste für die Schweiz die Devise gelten: «Wehret den Anfängen!»
«Zeit-Fragen» hat am 4. Juli 2011 (Nr. 27) zur Einführung der Fallpauschale Stellung genommen.

Manifest für eine menschliche Medizin*

1.    Ärzte und Ärztinnen befinden sich in einem Dauerkonflikt zwischen dem Wohl des Patienten und den wirtschaftlichen Zielen der Klinik. Wenn ein Arzt sich in einem konkreten Fall, seinem Gewissen folgend, gegen die Klinik stellt, darf er nicht allein gelassen werden. Ärztekammern sollen Ärzten, die sich gegen ökonomische Vorgaben der Klinik wenden, den Rücken stärken. Sie sollen Schiedsstellen einrichten, vor denen Konflikte ausgetragen werden können.
2.    Ärzte und Ärztinnen ordnen sich zu bereitwillig ökonomischen und hierarchischen Zwängen unter und verlieren dabei mitunter das Wohl des Patienten aus dem Auge. Es gibt in deutschen Krankenhäusern eine Kultur des vorauseilenden Gehorsams, die durch eine übermässige Abhängigkeit der Assistenzärzte von Ober- und Chefärzten während ihrer Weiterbildungszeit gefördert wird. Deshalb sollen Weiterbildungskataloge für Chefärzte verbindlich gemacht werden. Die Ärzte­kammern sollen diese überprüfen.
3.    Der vorrangige Zweck von Krankenhäusern ist es nicht, Renditeerwartungen zu befriedigen. Die Ökonomie soll der Medizin dienen, nicht umgekehrt. Bonusverträge, die ärztliche Entscheidungen beeinflussen, sind deshalb unethisch.
4.    Ärzte und Pfleger verbringen zuwenig Zeit mit Patienten und zuviel Zeit mit Dokumentation und berufsfremden Tätigkeiten. Ihre Arbeit soll von fachfremden Aufgaben entlastet werden.
5.    Nicht nur Ärzte müssen die Ökonomie verstehen – Ökonomen müssen auch die medizinische Seite im Blick haben. Deshalb gehört zur Ausbildung von Gesundheitsökonomen ein Pflichtpraktikum auf Station.
6.    Gesprächsschulung und Supervision sollen fester Bestandteil der Arbeit sein.
7.    Auch Patienten können dazu beitragen, dass das Gesundheitssystem bezahlbar bleibt. Durch eine transparente Darstellung der in Anspruch genommenen Leistungen und durch Selbstbeteiligung können Kosten gespart werden.

*    Dieses Manifest haben die Teilnehmer eines Gesprächs mit der deutschen Wochenzeitung Die Zeit (20. September) – Susanne Sänger, Ursula Stüwe, Paul Brandenburg, Michael Scheele und Urban Wiesing – gemeinsam formuliert. Es soll eine Debatte über das gegenwärtige Gesundheitssystem anregen. Interessierte können sich unter anderem auf <link http: facebook.com medizinermanifest external-link-new-window>facebook.com/medizinermanifest an der Diskussion beteiligen.

Quelle: Die Zeit vom 20.9.2012

Diese Worte kennt jeder Arzt: «Ich werde ärztliche Verordnungen treffen zum Nutzen der Kranken nach meiner Fähigkeit und meinem Urteil, hüten aber werde ich mich davor, sie zum Schaden und in unrechter Weise anzuwenden […].» So steht es in jenem berühmten Eid aus der Antike, der nach dem griechischen Arzt Hippokrates benannt ist. Heute, 2500 Jahre später, schwören Mediziner zwar nicht mehr bei den Göttern Apollon und Asklepios. Doch die wichtigsten Gedanken dieser Ethik gelten noch immer: das Primat des Patientenwohls. Die Schweigepflicht. Das Euthanasieverbot. Oder das primum non nocere: das Gebot, einen Eingriff eher zu unterlassen, als künftige Beeinträchtigungen, gar den Tod zu riskieren.
Aber Papier ist geduldig, und in den Widersprüchen des Alltags verlieren sich die Ideale allzuoft. Wie gross der Leidensdruck vieler Ärzte mittlerweile ist, belegt die Flut von Leserbriefen, die uns nach Erscheinen unserer Titelgeschichte «Das Ende der Schweigepflicht» (Die Zeit Nr. 21/12) erreichte. Darin hatten Ärzte aus dem Alltag ihrer Krankenhäuser berichtet und geklagt, wie sie immer häufiger in den Interessenskonflikt zwischen dem Wohl der Patienten und den Gewinn­erwartungen ihres Hauses gerieten. Berichtet wurde von unnötigen Therapien, die aus finanziellen Gründen angeordnet wurden, oder davon, dass Kliniken Patien­ten, für die es lukrative Pauschalen zu kassieren gab, nicht gehen liessen.
Die Ärzte und Ärztinnen, die uns diese Fälle erzählten, hatten anonym bleiben wollen. Nur so schien es ihnen möglich weiterzuarbeiten, ohne vom Arbeitgeber oder von geschädigten Patienten verklagt zu werden. Doch das überwältigende Echo, das die Berichte auslösten, macht klar: Die bitteren Erfahrungen sind keine Einzelfälle. Auch die Mehrheit unserer Leserbriefschreiber, darunter viele Ärzte, beklagte, dass in deutschen Krankenhäusern ein brutaler Verteilungskampf tobt, bei dem das Überleben des Hauses immer wieder Vorrang hat vor einer adäquaten Behandlung der Patienten.

Bleibt der Patient zu lange – weil er alt ist oder gebrechlich –, zahlt die Klinik drauf

Ein entscheidender Grund liegt im veränderten Finanzierungssystem von Krankenhäusern und Arztpraxen. Seit 2003 bekommen die deutschen Kliniken keine Tagessätze mehr. Sie werden nach Fallpauschalen bezahlt, die sich aus der Einlieferungsdiagnose errechnen. Für eine künstliche Hüfte gibt es eine andere Pauschale als für einen Herzinfarkt. Wenn die Patienten länger bleiben müssen, als es die einkalkulierte Verweildauer vorsieht – weil sie alt und gebrechlich sind oder weil es Wartezeiten bei den Untersuchungen gibt –, dann geht die längere Liegezeit zulasten des Krankenhauses.
Das ist ein Anreiz, schneller zu arbeiten. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer wurde zwischen 2000 und 2010 um zwei Tage auf 7,8 Tage verkürzt.
Das trug dazu bei, dass die Krankenhausausgaben in Deutschland seit Jahren stabil bleiben, obwohl die Bevölkerung älter wird und der medizinische Fortschritt neue Möglichkeiten bietet.
Zugleich sorgte die Pauschalabrechnung dafür, dass die Effizienz von Krankenhäusern vergleichbar wurde und sich der Wettbewerb der Kliniken erhitzte. Wer es nicht schafft, wirtschaftlich zu arbeiten, der kann nun überführt werden – und wird früher oder später fusioniert, privatisiert oder geschlossen.
In den vergangenen Wochen haben die niedergelassenen Ärzte für höhere Honorare gekämpft. Auch in Arztpraxen werden Leistungen unterschiedlich vergütet, und hinter dem Streit mit den Krankenkassen steht der Unmut vieler Mediziner über das Abrechnungssystem. Welche Leistungen wie bezahlt werden, wird in Ausschüssen immer wieder neu ausgehandelt. So kommt es, dass auch Fachärzte die Patienten mal zur Akupunktur und mal zur vorsorglichen Darmspiegelung bitten, je nachdem, was gerade gesondert honoriert wird.
In den Kliniken aber hat die Steuerung über Fallpauschalen besonders drastische Folgen: Die Krankenhäuser suchen sich oft die lukrativsten Patienten oder Prozeduren heraus («Cherry Picking»). Der Anreiz ist gestiegen, das Lohnenswerte – aufwendige Operationen – häufig zu tun und das Notwendige zu vernachlässigen, etwa das Gespräch mit den Patienten. Ältere und gebrechliche Menschen werden entweder gar nicht erst aufgenommen oder zu früh nach Hause geschickt, wenn die Kosten ihrer Behandlung die Fallpauschale übersteigen («blutige Entlassung»). Dabei entstehen am Ende womöglich noch höhere Kosten, die von anderen Systemen getragen werden. Aber das Krankenhaus erscheint auf dem Papier wirtschaftlicher.
Die Arbeit in den Häusern hat sich bis in den letzten Winkel verändert. Pfleger sehen schon an Farbmarkierungen im Computersystem, ob ein Patient die Grenzverweildauer überschritten hat und zum Minusgeschäft geworden ist. Pfleger und Ärzte verbringen viel mehr Zeit am Rechner. Chef- und Oberärzte werden über Bonusverträge an betriebswirtschaftlichen Zielen beteiligt, die auch im Widerspruch zur angemessenen Behandlung stehen können. Krankenhäuser würden heute geführt «wie Industrieunternehmen», bemängelte jüngst die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM). Krankheiten würden «zur Ware, Ärzte zu Anbietern und Patienten zu abgerechneten Fällen».
Natürlich sitzen nicht in allen Klinikleitungen Spekulanten, und schon gar nicht arbeiten alle Ärzte fahrlässig oder rücksichtslos. Die Mehrheit versorgt die Kranken weiterhin professionell und verantwortungsvoll. Aber der Patient kann sich nicht mehr sicher sein, ob der Arzt, der ihn berät, wirklich nur seine Heilung im Sinn hat.
Nun könnte man sagen: Das ist doch nicht neu. In der Geschichte der Medizin gab es – allen Eiden zum Trotz – stets Quacksalber und Scharlatane, die nur aufs Geldverdienen aus waren. Und in modernen Krankenhäusern ging es neben der Genesung stets auch um Profit: Zur Zeit der Tagessätze behielt man Patienten gern ein paar Tage länger als notwendig da, um die vorhandenen Betten auszulasten. Privatpatienten laufen immer schon Gefahr, dass nicht nur zu viel auf ihre Rechnung gesetzt, sondern auch zu viel gemessen, durchleuchtet, operiert und verordnet wird.
Doch offensichtlich erhöhen die neuen Rahmenbedingungen das Risiko, dass mehr auf die Unternehmensziele des Krankenhauses als auf das Wohl der Patienten geachtet wird. Das geschieht oft ganz unbewusst, weil sich schon eine entsprechende Unternehmenskultur entwickelt hat. Ärzte folgen kritiklos den Weisungen ihres Ober- oder Chefarztes, weil sonst die eigene Karriere gefährdet wäre.

Die Ärzte selbst fordern inzwischen einen deutlichen Kurswechsel

Mittlerweile aber regt sich Widerstand. Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin stellte sich im Juli gegen «Fehlentwicklungen durch falsche Anreize». Bonusverträge, die höhere Fallzahlen oder Umsätze belobigen, könnten Ärzte zu «grosszügigen Indikationsstellungen» verleiten und «korrumpierbar» machen, heisst es in der Stellungnahme der DGIM. Berufsanfänger erlernten eine «falsche Priorisierung ärztlicher Tätigkeiten». Das betriebswirtschaftliche Denken vermindere «in erheblichem Masse die Möglichkeiten der Anteilnahme und der geduldigen Zuwendung». Die DGIM fordert einen deutlichen Kurswechsel. Doch solche Reformen dauern, und bis dahin stellt sich die Frage: Ist das alles noch mit dem Berufsethos des Arztes vereinbar?
Gerade Ärzte haben zu allen Zeiten grossen Wert auf die Selbstverpflichtung ihres Standes gelegt. So wurde der hippokratische Eid nach dem Zweiten Weltkrieg vom Weltärztebund zeitgemäss neu formuliert. Dieses «Genfer Gelöbnis» betont ausdrücklich, dass Ärzte ihre Patienten unabhängig von sozialer Stellung, Geschlecht oder ethnischer, konfessioneller und politischer Zugehörigkeit behandeln und ihre medizinischen Kenntnisse auch unter Drohung nicht «in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit» anwenden sollen. Der Text ist in Deutschland der Berufsordnung vorangestellt.
Von Boniverträgen ist im Genfer Gelöbnis noch keine Rede. Darum geht es in einer Charta of Medical Professionalism, die von europäischen und amerikanischen Ärzten erarbeitet und 2002 veröffentlicht wurde, aber in Deutschland wenig bekannt und nicht verpflichtend ist.
Braucht es also für das Arbeiten in Krankenhäusern und Praxen einen neuen Eid? Ein Gelöbnis, das Ärzten Standfestigkeit und Patienten Sicherheit gibt?     •

Quelle: Die Zeit Nr. 39 vom 20.9.2012

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