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Telemedizin Vorsprung durch Rückschritt

Tablets in der Klinik, Smartphones für Patienten oder die Diagnose per E-Mail - Ärzte und Patienten bleiben skeptisch. Dabei könnte die Telemedizin vieles erleichtern. Doch häufig scheitern die Nutzer selbst an vermeintlich einfachen Anwendungen.
Smartphone mit Adapter zur Blutzuckermessung: E-Mails überfordern Ärzte

Smartphone mit Adapter zur Blutzuckermessung: E-Mails überfordern Ärzte

Foto: OBS/ BVMed

Berlin - Beim Infarkt geht es um jede Minute: So schnell wie möglich muss mit einem Herzkatheter das verschlossene Gefäß geöffnet werden, ein einmal verlorener Herzmuskel ist nicht zu ersetzen. Kommen Patienten mit deutlicher Verzögerung ins Katheterlabor, sinkt die Überlebensrate.

Sven Meister ist Informatiker am Fraunhofer Institut für Software- und Systemtechnik. Gemeinsam mit dem Kardiologen Guido Michels von der Uni Köln hat er ein System entwickelt, das die Auswertung von EKG-Daten nach einem Herzinfarkt beschleunigt.

Normalerweise macht der Notarzt im Rettungswagen ein EKG, das er am Telefon einem Spezialisten in der Klinik beschreibt, gemeinsam wird entschieden, wie dringend ein Kathetereingriff ist. Durch das Telefonat verliert der Notarzt Zeit, in der er sich um den Patienten kümmern könnte. Oft kommt er nicht schnell genug zum Spezialisten durch, die mündliche Beschreibung ist fehleranfällig, in der Klinik kann sich herausstellen, dass ein Eingriff doch nicht notwendig ist, erklärt Michels beim Telemedizin-Kongress 2013  in Berlin.

Technik, die verschreckt

Meister und Michels System sendet das EKG automatisch per E-Mail an einen Kardiologen in der Klinik. Der Spezialist kann es direkt auf dem Smartphone analysieren und rückmelden, ob höchste Eile geboten ist - und das Katheterlabor vorwarnen.

Doch das deutsche Gesundheitssystem und die Anwender sind nicht bereit, die verfügbare Technik auch zu nutzen. Dieser Tenor zieht sich durch viele Vorträge auf der Telemed 2013. Auch Sven Meisters Fazit nach dem Versuch, das technologisch mögliche umzusetzen, fällt bitter aus: "Innovation durch technischen Rückschritt".

In ihrem Pilotprojekt in Köln stellte sich heraus, dass die Entwickler zu viel technisches Know-how vorausgesetzt hatten. Die Klinikärzte fanden es lästig, ein zusätzliches Gerät rumzutragen, auch war der W-Lan-Empfang im Krankenhaus lückenhaft.

Die Entwickler entwickelten ihr Konzept in die technologische Vergangenheit zurück: Jetzt sendet das EKG-Gerät keine E-Mail mehr, sondern ein Fax, über dessen Eingang die Kardiologen per Pager informiert werden. Anschließend können sie das EKG am Computer begutachten.

Frust durch gebrochene Versprechen der Industrie

Dass Technik überfordern kann, hat auch Stefan Becker erfahren. Der Nephrologe am Universitätsklinikum Essen entwickelte mit Kollegen einen interaktiven Medikamentenplan als Smartphone-App. Die korrekte und regelmäßige Einnahme einer verwirrend großen Pillenanzahl ist oft maßgeblich für den Therapieerfolg, aber gleichzeitig ein Problem für die Patienten. Becker erzählt von einem 28-Jährigen, der bei der Dialyse seinen Medikamentenplan nicht mithatte, aber sein Smartphone. "Da wurde mir klar, dass wir diese Welten zusammenführen müssen", sagt Becker.

Am Anfang sah es so aus, als ob der Plan aufgehen könnte. Über 10.000 Anwender luden die App herunter. In der App konnten sie einen Medikamentenplan und automatische Erinnerungen erstellen, soweit die Theorie. Eine Analyse der Daten ergab, dass von 1000 regelmäßigen Nutzern nach einem Jahr nur zehn übrig blieben.

Frust über die gebrochenen Versprechen der Telemedizin äußern viele Konferenzteilnehmer. Dass es zahlreiche einzelne Pilotprojekte gibt, aber nach Jahren immer noch keine flächendeckende Versorgung, bemängelt Hannelore Loskill von der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe: "Patienten fragen mich oft, ob ein Projekt etwas für sie ist. Die Antwort ist: Ja, aber kommt darauf an, wo du wohnst und bei welcher Krankenkasse du bist." Sie gibt zu, dass die Projekte die Forschung voranbringen. "Was haben die Patienten davon", fragt sie. "Bisher gar nichts", ist ihre ernüchternde Antwort.

Der Medizininformatiker Peter Haas macht dafür Interessenkonflikte und strukturelle Probleme verantwortlich. "Ärzte fürchten die Telemedizin, weil sie befürchten, dass sie dadurch Patienten verlieren", sagt Haas, der an der Fachhochschule Dortmund lehrt. "Die Telemedizin hat keine starke Lobby." Die Firmen, die innovative Ansätze entwickeln, seien oft klein, es mangele ihnen an der Finanzkraft, um aufwendige klinische Studien zu finanzieren. Die aber fordern die Krankenkassen, um die Ansätze zu integrieren.

Haas fordert ein zentrales Institut für Telemedizinforschung oder eine nationale Initiative zur Umsetzung. "Bis dahin nehmen wir in Kauf, dass Patienten sterben", sagt Haas, "und müssen den Menschen erklären, warum Krankenhäuser immer noch Briefe aneinander verschicken."