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Wirtschaft Pflegenotstand

„Nicht wir – die Kassen sind schuld“

Auf weniger Bewohner kommen mehr Pflegebedürftige Auf weniger Bewohner kommen mehr Pflegebedürftige
Auf weniger Bewohner kommen mehr Pflegebedürftige
Quelle: Infografik Die Welt
Nicht die Altenheime haben Schuld daran, dass es so viele Pflegeskandale gibt, sondern die Krankenkassen. Das zumindest sagt eine Gruppe von Heimleitern, die sich den Fakten stellen.

Alte, pflegebedürftige Menschen, die stundenlang in ihrem Urin liegen gelassen werden oder sich in ihren Betten wundliegen, weil die Pfleger keine Ausbildung haben; ein Pfleger, der ganz allein eine Station mit 34 Bettlägerigen bearbeiten muss: In den letzten Tagen häuften sich die Berichte über solche Pflegeskandale, vor allem aus Süddeutschland. Jeder neue Fall sorgt für Empörung – dabei dürften sie eigentlich nicht überraschen. Laut aktueller Schätzungen werden 240.000 Menschen in deutschen Altenheimen mit Psychopharmaka ruhiggestellt, weil nicht genügend Personal da ist, um die alten Menschen angemessen zu versorgen. 36.000 Heimbewohner müssen aus demselben Grund Hunger oder Durst leiden.

Eine Gruppe von Heimleitern und anderen Pflegeexperten verteidigt sich nun: Nicht die Heimleiter seien Schuld an Pflegeskandalen, sondern die Kranken- und Pflegekassen – und ihr rigider Sparkurs, der auch durch die Politik unterstützt werde.

Die Welt: In deutschen Heimen sind Pflegeskandale an der Tagesordnung – weil die Heime zu wenige Pfleger beschäftigen, um die Alten gut zu versorgen. Warum?

Helmuth Schaffert: Die Menschen, die wir in deutschen Heimen versorgen müssen, sind im Schnitt weitaus kränker als dies noch vor einigen Jahren der Fall war – und trotzdem wurden die Beitragssätze für die Pflegeversicherung nicht bedarfsgerecht angepasst. Im Schnitt muss ein Pfleger weiterhin pro Schicht 12,5 Bewohner pflegen, dazu kommen noch vielfältige andere Aufgaben.

Die Welt: Das heißt, die deutschen Heime sind schlecht?

Andreas Bik: Sagen wir einmal so: Sie können den ihnen gestellten Aufgaben nicht gerecht werden. Das liegt an den politischen Rahmenbedingungen, die zu wenig Geld im System vorsehen. Die Pflegenoten gaukeln daher mit einem Durchschnitt von 1,2 etwas vor, das so nicht gegeben ist.

Die Welt: Das heißt, die Krankenkassen und die Sozialhilfeträger sind letztendlich Schuld an Pflegeskandalen?

Bik: Ja! Gehen Sie mal in eine Pflegesatzverhandlung, also die Gespräche, in denen unser Budget ausgehandelt wird. Dann werden Sie sehen, dass auf der anderen Seite des Tisches, also bei den Kassen und den Sozialbehörden, Leute mit ausschließlich fiskalischen Interessen sitzen, die überhaupt nicht interessiert, was mit diesem Geld faktisch geleistet werden kann.

Die Welt: Können Sie ein Beispiel nennen?

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Bik: Nehmen Sie den Personalschlüssel: Der hat rein gar nichts mit dem tatsächlichen Aufwand zu tun. In Pflegestufe 3 muss ein Bewohner sechs Stunden am Tag gepflegt werden. Der Pflegeschlüssel beträgt aber nur 148 Minuten. Also die Hälfte von der Zeit, auf die der Pflegebedürftige laut Gesetz Anspruch hätte. Die Politik gaukelt den Pflegebedürftigen also Leistungen vor, die so überhaupt nicht geleistet werden können, weil sie in diesem Umfang nicht finanziert werden.

Georg Bonerz: Die Pflegesatzverhandlungen sind so hart, dass wir zeitweise Herrn Schleicher, unseren Pflegeanwalt, mit dahin genommen haben. Was meinen Sie, was da los war? Da war Entsetzen bei den Kostenträgern! Auf einmal war nicht mehr die AOK zwei Meter groß und wir 1,50 Meter – auf einmal waren wir beide auf einer Augenhöhe.

Die Welt: Wie geht es in einer Pflegesatzverhandlung ganz konkret zu?

Günter Schröder: Ein gutes Beispiel sind die Verhandlungen über die Tarifverträge. In diesem Jahr gab es eine Tarifsteigerung um zwei Prozent. Unsere Verhandlungspartner, die Landes-BKK Essen und der Landschaftsverband Westfalen-Lippe, waren aber nicht bereit, diese zwei Prozent zu geben, sondern nur 1,6 Prozent. Wir sind aber an den Tarif gebunden. Also mussten wir Personal abbauen, um die Tarifsteigerung schultern zu können. Das bedeutet dann, dass wir von den Verhandlungspartnern unter die gesetzlich vorgeschriebene Fachkraftquote – 50 Prozent unserer Pfleger müssen ausgebildete Alten- oder Krankenpfleger sein – gedrängt werden.

Die Welt: Warum können unter solchen Bedingungen die Heimbetreiber trotzdem noch Gewinne erzielen?

Schaffert: Bei vielen privaten Heimbetreibern funktioniert das, weil sie keine Skrupel haben und von einem Pfleger 20 bis 30 Bewohner pro Schicht pflegen lassen.

Die Welt: Die kirchlichen Heime sind also aus Ihrer Sicht besser? Das würde der Statistik der Kassen widersprechen, die besagt: Es gibt keine Qualitätsunterschiede abhängig davon, ob die Heime private oder kirchliche sind.

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Norbert Schöner: Es gibt dort viele Kollegen, die arbeiten an der Grenze der Belastbarkeit. Sie müssen Lösungen für die Versorgung finden, die aus meiner Sicht unwürdig sind. Sie ziehen den Bewohnern morgens die Tageskleidung über den Schlafanzug, weil sie es nicht anders schaffen. Oder es gibt Bewohner, die sitzen mit nacktem Hintern auf dem Toilettenstuhl und werden damit an den Frühstückstisch geschoben, um so zu essen. Und dieser Druck – die privaten können es so billig, warum ihr nicht? – der wird innerhalb des Systems an die anderen Einrichtungen weitergegeben.

Die Welt: Brauchen wir demnach also mehr Kontrollen in den Pflegeheimen?

Schröder: Nein! Es gibt jetzt schon 43 verschiedene Institutionen, die uns beaufsichtigen. Ein Beispiel: Seit ein paar Jahren gibt es das sogenannte Medizinproduktegesetz. Seither ist jedes Fieberthermometer ein Medizinprodukt, das der Überwachung unterliegt. Da kommt dann ein schicker Audi A6 Kombi mit drei Personen – und die Kontrolleure prüfen nach, ob überall die TÜV-Aufkleber drauf sind, elektrisch betriebene Pflegebetten zum Beispiel. Wir müssten theoretisch bei jedem Bewohnerwechsel diese Behörde anrufen und sagen: Überprüft mal bitte das Bett.

Heike Großheimann: Inhalationsgeräte, Blutdruckmessgeräte, und, und, und – das alles müssen wir auch dokumentieren, ein wahnsinniger Arbeitsaufwand ist das.

Frank Schleicher: Der Arbeitsaufwand ist riesig, nicht nur für die Dokumentation. Die Pfleger müssen sich für jede einzelne Prüfung die Zeit nehmen, die Prüfer durchs Haus zu führen, damit geht jeweils ein guter halber Tag drauf. Und das neben ihrer ohnehin schon enormen Arbeitsbelastung.

Die Welt: Sinnvoller erscheint aber die Arbeit des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung, den MDK, der im Auftrag der Kranken- und Pflegekassen bei Ihnen die Pflegequalität kontrolliert.

Schröder: Der MDK ist eine der vielen Aufsichtsbehörden – und eine überflüssige. Würde man ihn auflösen, könnte man mit dem Geld einen großen Teil der fehlenden Pflegekräfte finanzieren.

Bonerz: Der MDK ist ein Beispiel für Bürokratie in Reinform. Er hat bundesweit Hunderte Mitarbeiter aus der Pflege abgezogen. Viele Pfleger haben sich bei der Gründung da beworben, weil sie so fertig waren.

Schröder: Bei uns hat der MDK zum Beispiel, wie ein Staubsauger, drei Mitarbeiter abgeworben, die wir ausgebildet hatten. Genauso die Kreisverwaltung: Die haben zwei Mitarbeiter aus unserem Haus fürs Sozialamt abgeworben. Diese Leute gehen jetzt in die Heime und prüfen, ob die Bewohner überhaupt heimbedürftig sind. Das heißt, teilweise entscheidet das Sozialamt, die Leute seien nicht heimfähig – obwohl sie in Pflegestufe 1 sind – und die Zahlungen einstellen. Dann stehen wir als Heim da und haben Bewohner, die plötzlich 15.000 Euro mit ihren Zahlungen im Rückstand sind und denen wir letztendlich kündigen müssen.

Die Welt: Das heißt, ich kann mich als Bürger nicht darauf verlassen, dass ich als Pflegebedürftiger tatsächlich die Leistungen bekomme, die ich brauche.

Schröder: Richtig. Jeder Kfz-Versicherte weiß genau, welche Leistungen er im Schadensfall bekommt. Bei der Pflegeversicherung wird dagegen mit Absicht verschleiert, wer welchen Anspruch hat und von wem er das Geld bekommt.

Bonerz: Es scheint sogar innerhalb von Städten Vorgaben zu geben, wie viele Pflegebedürftige es pro Stadt und Pflegestufe geben darf. Mir hat schon einmal ein MDK-Prüfer gesagt: Sie haben hier zwei typische Bewohner, die Pflegestufe 3 bekommen müssten, aber ich kann die Ihnen nicht zugestehen, weil ich keine Stufe 3 mehr habe. Das müssen Sie sich mal vorstellen! Und das wird totgeschwiegen.

Schleicher: … denn mehr Pflegebedürftige in hohen Pflegestufen würden ja letztendlich einen politischen Handlungsbedarf bedeuten, nämlich, dass man die Beiträge zur Pflegeversicherung erhöhen müsste. Und auch die Sozialämter der Kommunen würden sich wehren. In Duisburg versucht man jetzt, nur noch billigste Heime für Sozialhilfeempfänger zugänglich zu machen.

Die Welt: Ein häufiger Vorwurf an Pflegeheime lautet, dass Sie die Bewohner nicht aktivierend behandeln, sondern „ins Bett pflegen“ – damit sie in eine höhere Pflegestufe kommen und Sie mehr Geld von den Kassen bekommen.

Schaffert: Genau das Gegenteil ist der Fall. Wenn jemand im Bett liegt und sich nicht bewegen kann, argumentiert der MDK in der Regel, dass er dann nicht mehr mit so hohem Zeitaufwand gepflegt werden muss.

Schöner: Es sind Mitarbeiter des MDK, die aktivierende Pflege verhindern, nicht wir. Wir bekommen teilweise gesagt: Sie brauchen den Bewohner nachts nicht dreimal zur Toilette zu bringen. Es gibt doch Inkontinenzmaterialien, die fassen bis zu drei Litern, legen Sie ihm die doch um.

Die Streitbaren

Sie treffen sich regelmäßig mit Bundestagsabgeordneten, Kassenvertretern und anderen Pflegeexperten – und diskutieren leidenschaftlich: Die Heimleiter, Geschäftsführer und Pflegedienstleiter Günter Schröder, Norbert Schöner, Hubertus Volmer, Georg Bonerz, Andreas Bik und Heike Großheimann, die allesamt in kirchlichen Einrichtungen im Ruhrgebiet arbeiten. Zur Runde gehört außerdem Frank Schleicher, Fachanwalt für Sozialrecht.

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