Nach den zahlreichen Plagiatsfällen der Vergangenheit ist mit einem akademischen Titel kein Staat mehr zu machen. Hat der Doktortitel in Deutschland ausgedient? Eine Bestandsaufnahme.

Es gibt einen hübschen Witz. Der geht so: Eine gläubige Mutter geht mit ihrem erwachsenen Sohn am Strand spazieren. Plötzlich nähert sich eine riesige Welle, die den jungen Mann mit sich reißt. Die Dame ist außer sich. In ihrer Verzweiflung streckt sie die Arme in die Höhe, blickt zum Himmel und betet: „Hilf! Mein Sohn, der Herr Doktor, ertrinkt!“

Es gibt nichts Humorloseres, als einen Witz zu erklären. Es gibt aber auch nichts Stilloseres, als sich mit fremden Federn zu schmücken. Darum soll es in diesem Artikel gehen und um die Frage, ob es noch angebracht ist, sich mit einem Doktortitel zu zieren.

In regelmäßigen Abständen werden Plagiate bekannt, die deutsche Spitzenpolitiker irgendwann mal bei einer Universität als wissenschaftliches Werk eingereicht haben, um ein „Dr.“ vor ihre Namen setzen zu können. Seitdem debattiert man über die Qualität deutscher Promotionen. Auch die Reihe der Wirtschaftsvertreter, die sich unrechtmäßig als „Doktor“ ansprechen ließen, hat nicht gerade zur Reputation des Titels beigetragen. Kürzlich zeigte sich die PR-Chefin eines deutschen Konzerns selbst wegen Titelmissbrauchs an – nachdem der Plagiatsjäger Stefan Weber sich bei ihr gemeldet hatte. Die Frau behauptet, auf ihren Promotionsberater hereingefallen zu sein. Der habe ihr nach einer Disputation mit einem vermutlich falschen Professor in den Räumen der Hamburger Universität ein gefälschtes Zeugnis überreicht. Sie habe von nichts gewusst.

Hat der Doktortitel in Deutschland ausgedient? Ist es geradezu peinlich, ihn zu führen, gar mit ihm die Zeugnisse der Kinder zu unterschreiben?

Aus „Doktor Bock“ wurde schlicht „Kurt“

Schon im vergangenen Frühjahr hat der Chemiekonzern BASF den Umgang mit akademischen Titeln in der unternehmensinternen Kommunikation neu geregelt. Auf Visitenkarten, so Vorstandschef Kurt Bock, könnten die promovierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ja gern den „Doktor“ verwenden – bei Meetings und auf dem Flur sollten sie sich aber bitte ohne ihn ansprechen. Das würde internationalen Gepflogenheiten im Geschäftsverkehr entsprechen. Der promovierte Betriebswirt Bock berichtete seinen Mitarbeitern in einer Videobotschaft von seiner Zeit in den USA. Dort, wo nur Mediziner mit „doctor“ angesprochen würden, sei er für Geschäftspartner und Kollegen nie „Doktor Bock“ gewesen, sondern schlicht „Kurt“.

Auch in Großbritannien wird nur der Arzt als „doctor“ angeredet. Ansonsten verzichtet man im persönlichen Gespräch auf den akademischen Titel – wenn man nicht gerade an einer Universität beschäftigt ist. Es ist nicht einmal üblich, ihn auf Visitenkarten zu drucken, ebenso in der E-Mail-Adresse ist er eine Ausnahme. Japaner sprechen sich zwar selten mit Doktortitel an, wenn sie keine Mediziner sind, aber sie vermerken ihn gern auf der Rückseite der Visitenkarte. Die Österreicher dagegen können nicht ohne. Selbst der „Magister“ wird auf der Visitenkarte dokumentiert, und es ist keine Seltenheit, dass sich ein Mensch persönlich mit seinem akademischen Titel vorstellt. „Gestatten! Herr Doktor M.!“

Sogar in Deutschland wäre das peinlich. Kulturhistoriker erklären die Titelmanie der Österreicher mit der Bedeutung der Monarchie und der damit verbundenen Adelstitel-Flut im ehemaligen Habsburger Reich. Nach dem Ende des Kaisertums brauchte es neue Namenszusätze, mit denen sich der Einzelne hervorheben konnte. Gut möglich, dass in der Schweiz dagegen der Doktortitel im persönlichen Umgang auch deshalb keine besondere Rolle spielt, weil sich dort das Verhältnis zur Monarchie auf die Sympathie für die Angehörigen der europäischen Königshäuser beschränkt, die regelmäßig zum Skifahren kommen.

Standesbeamter weigerte sich „Dr.med.“ einzutragen

In Deutschland könnte der Gebrauch des Doktortitels ebenfalls künftig deutlich zurückgehen. Anfang September beschloss der Bundesgerichtshof, dass der Doktortitel nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen werden muss. Ein Mann aus Bayern hatte nach der Geburt seines Sohnes das Standesamt gebeten, ins Geburtenregister im Feld für den Namen des Vaters auch dessen „Dr. med.“ einzutragen. Der Standesbeamte weigerte sich. So gelangte der Streit bis nach Karlsruhe.

Michael Hartmann, Professor für Elite- und Organisationssoziologie an der Technischen Universität Darmstadt, plädiert schon lange dafür, den Doktortitel von Visitenkarten und Türschildern zu streichen. Das könnte dazu führen, dass nur diejenigen eine Dissertation schreiben, die damit ein wissenschaftliches Interesse verbinden. Außerdem sage gerade bei Wirtschafts- und Rechtswissenschaftlern, den Angehörigen jener Zünfte, die besonders gern mit nicht allzu aufwendigen Arbeiten ihr Image polieren und ihre Verdienstmöglichkeiten steigern, der Doktor nur wenig über deren fachliche Kompetenz aus.

Hartmann würde die Anrede mit „Doktor“ auf den Wissenschaftsbetrieb beschränken. Da wäre die Wahrscheinlichkeit, dass gepfuscht wird, geringer, weil die Betreuer genauer und häufiger auf die Arbeiten sehen würden. „Besonders glaubwürdig ist ein Doktortitel bei den Ingenieurs- und Naturwissenschaftlern. Die können am wenigsten schummeln“, sagt er. Hartmann selbst hat nicht auf den Vermerk seines Doktortitels im Personalausweis verzichtet. Das hätte sich auch gelohnt. „Wenn ich früher, als ich politisch noch aktiv war, bei Demonstrationen mit der Polizei in Berührung kam, wurde ich besonders höflich behandelt.“ Der Doktortitel hätte ihn geschützt. „Heute“, so Hartmann, „ist er aber auch ein Schutz für viele, die ihn nicht verdienen.“

Jens Röper, Managing Partner der globalen Design- und Innovationsagentur Designit, hält es für eine gute Idee, den Titel in der internen Kommunikation in Unternehmen wegzulassen. „So werden Barrieren zwischen den Mitarbeitern abgebaut und die Hierarchien abgeflacht.“ Und was ist, wenn ein Unternehmen selbst die Bezeichnung „Dr.“ im Namen führt? „In einem Markennamen funktioniert ein Doktortitel weiterhin“, sagt er. „Traditionsreiche Firmen wie Dr. Oetker oder Dr. Hauschka leben von diesen Namen, sie sind ein fester Begriff.“ Firmen allerdings, die sich gerade gegründet haben, rät er davon ab, einen „Dr.“ im Namen zu führen. „Bei jungen Unternehmen wirkt das verstaubt.“

Akademischen Grad zeitgemäßer darstellen

Wer dennoch seinen akademischen Grad zum Ausdruck bringen möchte, könnte ihn auf seiner Visitenkarte auch zeitgemäßer darstellen. Beispielsweise durch QR-Codes oder „Near Field Communication“-Chips, die mit einem Smartphone Informationen über eine Person – auch einen Doktortitel – liefern. Für die Frauen und Männer, die redlich in jahrelanger Bibliotheks-, Archiv- und Laborarbeit den begehrten Titel erarbeitet haben, wäre das ein hervorragendes Medium, um dem in Verruf geratenen Doktor zu neuen Ehren zu verhelfen. Ein Infotext könnte zudem auch das Thema der Doktorarbeit offen legen und dazu beitragen, dass so spezielle Untersuchungen wie die „über die Genickstarre preußischer Soldaten im 18. Jahrhundert“ oder den Einfluss „eines 100-Meter-Laufs auf die Atemfrequenz des gemeinen Hausschweins“ seltener die Ursache für einen akademischen Adelstitel wären als bisher.

An Fleiß mangelt es deutschen Promovierenden im Vergleich zu den vorangegangen Generationen nicht. 70, 80 Seiten, das war in den 60er-Jahren der übliche Umfang einer Doktorarbeit. Heute traut sich kaum ein Historiker oder Romanist weniger als 400 Seiten abzugeben. Bis zur Abgabe ist es ein langer Weg, mit Zweifeln und Kopfzerbrechen, mit spärlichem Etat aus Stipendien und Kellnerjobs. Aber auch mit beglückenden Erfolgserlebnissen, mit Geistesblitzen und dem ungeheuren Luxus, sich über einen langen Zeitraum auf ein Thema konzentrieren zu dürfen. Wie viele von den 26.981 Frauen und Männern, die allein 2011 in Deutschland den Doktortitel abgelegt haben, die Würde verdienen, lässt sich schlecht nachweisen. Dass ein großer Teil nicht getrickst hat, daran kann kein Zweifel bestehen. Dafür sprechen die Anträge auf Verlängerung eines Stipendiums, für die ein Promovierender eine Übersicht über seine bisherige Arbeit geben muss, dafür sprechen Tutorien, in denen Doktoranden Zwischenergebnisse vorstellen. Dafür sprechen die zwei bis drei Jahre, die in der Regel eine Promotion dauert.

Nach den USA und der Schweiz produziert Deutschland die meisten Doktorarbeiten. Dass die Tendenz nicht rückläufig ist, spricht für die Wertschätzung der Promotion. Und das hat sicher auch damit zu tun, dass Deutschland auf eine lange bildungsbürgerliche Tradition zurückblicken kann. Materieller Reichtum löst tendenziell Sozialneid aus – geistiger Arbeit dagegen wird im Land der Dichter und Denker Respekt gezollt. „Ein Doktortitel hat auch heute noch einen gewissen Stellenwert“, sagt Eventmanagerin Isa Gräfin von Hardenberg, die auch Manager coacht. „Er gehört wie ein Name zur Person dazu, weil er für etwas steht, das diese Person erreicht, für das sie gekämpft hat. Es geht um eine persönliche Leistung, die durch den Doktor zum Ausdruck gebracht wird.“ Für Isa Gräfin von Hardenberg gehört es zum guten Ton, in Briefen, Einladungen, in allem, was gedruckt ist, die Person mit Doktortitel zu nennen. „Da darf man sich auch selbst mit Doktortitel bezeichnen.“ Selbst stellt man sich natürlich nicht als Doktor vor. „Aber wenn ich den Doktor jemandem vorstelle, dann mit Titel.“

In der Regel erweist sich der Hinweis auf einen Doktortitel, verbunden mit der meist folgenden Frage nach dem Thema der Arbeit, bei gesellschaftlichen Zusammenkünften als ein hervorragender Gesprächseinstieg. Wenn dabei jemand sich und seinen Doktortitel ein bisschen zu wichtig nimmt, dann kann man ja den Witz von der Mutter erzählen, die so stolz auf ihren Sohn war, dass sie selbst in Lebensgefahr nicht vergaß, seinen Titel zu nennen.

Claudia Becker hat mit einer historischen Arbeit über „Religiöse Erneuerung in der Moderne am Beispiel des evangelischen Pfarrers Friedrich Rittelmeyer“ promoviert.