«Romneycare» auf der Intensivstation

Obamas Gesundheitsreform baut auf dem Modell von Massachusetts auf, das Mitt Romney, sein Herausforderer, eingeführt hatte. Massachusetts versucht derzeit mit Dirigismus das Kostenwachstum zu bremsen – kein gutes Omen für «Obamacare».

Christoph Eisenring, Washington
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Ein Fazit Mitt Romneys Krankenversicherungsreform fällt ernüchternd aus. (Bild: Keystone/ AP/ Jae C. Hong)

Ein Fazit Mitt Romneys Krankenversicherungsreform fällt ernüchternd aus. (Bild: Keystone/ AP/ Jae C. Hong)

Im amerikanischen Gliedstaat Massachusetts sind 98% der Bevölkerung krankenversichert. Dagegen haben auf nationaler Ebene 16% keinen Versicherungsschutz. Als der damalige Gouverneur von Massachusetts, Mitt Romney, im April 2006 ein Gesetz für eine obligatorische Krankenversicherung unterschrieb, sagte er stolz: «Hunderttausende werden ein gesünderes und glücklicheres Leben haben.» In der Zwischenzeit ist Romney Präsidentschaftskandidat der Republikaner geworden. Von der Gesundheitsreform in Massachusetts spricht er aber nur, wenn er muss. Dies hat vor allem zwei Gründe: Erstens ist die von Präsident Obama auf nationaler Ebene durchgepaukte Reform fast eine Kopie derjenigen in Massachusetts. Das «individuelle Mandat», also die Pflicht, eine Krankenversicherung abzuschliessen, ist in der Bevölkerung jedoch unbeliebt. Zweitens zeigt sich in Massachusetts auch, welche Entwicklung auf nationaler Ebene droht: So hat der Gliedstaat Anfang August ein Nachfolgegesetz beschlossen, das den Staatseinfluss im Gesundheitswesen markant erhöhen wird.

«Obamacare» fast identisch

Romney hat 2006 als Gouverneur unter einem demokratisch dominierten Kongress von Massachusetts eine obligatorische Krankenversicherung eingeführt. Für die Armen übernimmt die staatliche Versicherung Medicaid die gesamten Kosten, doch Subventionen gibt es bis zu einer Einkommensgrenze von 67 000 $ für eine vierköpfige Familie. Die Medicaid-Ausgaben werden gut zur Hälfte von Washington beglichen, womit ein Teil der Reformkosten auf die Steuerzahler anderer Gliedstaaten überwälzt wurde. Kreiert wurde zudem ein Marktplatz, auf dem mehrere Firmen standardisierte Verträge anbieten (Gold-, Silber- und Bronze-Pakete). Die Versicherer müssen dabei alle Personen akzeptieren. Sie können die Prämien auf dem neuen Marktplatz nach Alter und Region abstufen, wobei die höchste Prämie nur doppelt so hoch sein darf wie die niedrigste. Die 2010 vom Kongress auf nationaler Ebene verabschiedete Gesundheitsreform weicht nur in Details von «Romneycare» ab, etwa darin, dass ein Versicherer die maximale Prämie dreimal so hoch ansetzen darf wie die niedrigste.

Wie fällt ein vorläufiges Fazit von «Romneycare» aus? Das Ziel, dass alle Bürger von Massachusetts krankenversichert sind, wurde praktisch erreicht. Allerdings waren in Massachusetts schon vor der Reform rund 90% versichert. Entgegen den damaligen Versprechungen stiegen dagegen die Kosten im Gesundheitswesen ungebremst weiter. Die USA haben unter den Industriestaaten die höchsten Gesundheitsausgaben (vgl. Grafik). Und Massachusetts hat innerhalb der USA das teuerste Gesundheitswesen. Dies hat auch damit zu tun, dass der Gliedstaat viele Universitätsspitäler beherbergt. Allerdings lagen die Ausgaben pro Kopf 2004 – jüngere Berechnungen gibt es dazu nicht – auch dann noch 15% über dem amerikanischen Schnitt, wenn man für die höhere Forschungsintensität und die generell höheren Löhne in Massachusetts korrigiert.

Weniger Geld für die Bildung

Wie haben sich die Prämien auf dem neuen Marktplatz entwickelt? Nimmt man etwa einen «Bronze»-Plan (Standardpaket mit hohem Selbstbehalt), kletterte die Prämie gemäss «New England Journal of Medicine» zwischen 2007 und 2012 von monatlich 175 $ auf 275 $ – ein Anstieg um 57%. Die Prämien bei Versicherungen, die direkt über den Arbeitgeber abgeschlossen werden – das ist in den USA der häufigste Fall –, stiegen in Massachusetts dagegen etwas weniger stark als im Rest des Landes: von 2006 bis 2010 um 19% gegenüber 22% auf nationaler Ebene. Für diesen Teil des Marktes kann man somit nicht sagen, die Prämien seien seit der Reform «explodiert».

Für den Staat haben sich die Kosten aber erhöht. 2008 und damit zwei Jahre nach der Reform hatten 439 000 Bürger einen Versicherungsschutz, die zuvor nicht versichert waren. Davon bezahlten 57% entweder gar nichts oder erhielten die Versicherung zu subventionierten Konditionen. In den letzten zehn Jahren haben die staatlichen Gesundheitsausgaben in Massachusetts denn auch real um 59% zugenommen, während in diesem Zeitraum die Ausgaben für Bildung, Infrastruktur und Sicherheit gekürzt wurden (vgl. Grafik).

Statistik und Kontrolle

Wenn die Entwicklung so weitergehe, müsse 2020 bereits die Hälfte des Budgets fürs Gesundheitswesen reserviert werden – nach 21% im Jahr 1998 –, heisst es von besorgten Gesetzgebern. Massachusetts, angeführt vom demokratischen Gouverneur Deval Patrick, hat deshalb Anfang August Romneys «unvollendete» Reform aufgegriffen und aus amerikanischer Warte radikale Schritte angekündigt. So sollen im Gliedstaat die Gesundheitskosten in den kommenden fünf Jahren höchstens so stark steigen wie die Wirtschaftsleistung, von 2017 bis 2022 sogar einen halben Prozentpunkt weniger als das Wirtschaftswachstum – und das gilt nicht nur für den staatlichen Teil, sondern auch für die privaten Anbieter. Angesichts jährlicher Steigerungsraten von bisher 6% bis 7% ein hehres Ziel.

Mit dem Gesetz werden zudem 25 neue Beratergremien geschaffen, für die es 266 Experten zu rekrutieren gilt. Künftig will der Staat Daten von Leistungserbringern und Versicherungen über Kosten und Qualität systematisch sammeln. Eine Kommission soll dann sicherstellen, dass die Eckwerte zur Kostenentwicklung eingehalten werden. Wenn Versicherer die Prämien stark erhöhen wollen oder Ärzte und Spitäler aus Sicht der Behörden zu viele Leistungen verschreiben, müssen diese der Kommission Pläne vorlegen, wie sie für Remedur sorgen werden. Die Versicherungen für das Staatspersonal sowie Medicaid für die Armen sollen ferner nicht mehr einzelne Leistungen vergüten, sondern es werden mit Ärzten und Spitälern globale Zahlungen zur Behandlung bestimmter Personengruppen ausgehandelt. Dadurch will Massachusetts der Mengenausweitung entgegenwirken. Etwa ein Viertel der Bevölkerung wird unter dieses Regime fallen.

Fehleranfälliger Zentralismus

«Obamacare» folgt bis jetzt dem Drehbuch von «Romneycare». So steht auch für Präsident Obama zunächst der Zugang zur Krankenversicherung für alle im Vordergrund. Die Kosten für den Steuerzahler werden dadurch weiter steigen. Damit droht aber in absehbarer Zeit eine Welle neuer Staatseingriffe, um wie in Massachusetts zu verhindern, dass die Gesundheitsausgaben einen immer grösseren Teil des Haushaltes absorbieren. Hierin zeigt sich der grosse Nachteil eines zentralistischen Ansatzes in einem Land mit 312 Mio. Einwohnern und 50 Gliedstaaten. Ein so gesteuertes Gesundheitswesen ist fehleranfällig, da es die föderale Experimentierfreude ausschaltet. Mitt Romney wird heute vorgeworfen, dass er 2006 im «Wall Street Journal» die Frage, wie viel von der Reform in Massachusetts auf andere Gliedstaaten übertragen werden könne, mit «viel» beantwortet hatte. Doch man muss den Artikel auch zu Ende lesen. Es sei eine grossartige Sache, dass Gliedstaaten in einem föderalistischen Staat Dinge ausprobieren und von anderen lernen könnten, schrieb Romney damals. Andere Gliedstaaten würden von Massachusetts' Erfahrungen profitieren und es besser machen. Die jüngsten Entwicklungen in Neuengland zeigen, dass es in der Tat viel Verbesserungspotenzial gibt. Romneys dezidierte Ablehnung von «Obamacare», also der Übertragung der Ideen aus Massachusetts auf das ganze Land, ist aus einer föderalistischen Optik somit konsequent. Ob auch die Wähler im Herbst dieser Argumentation folgen mögen, steht indessen auf einem anderen Blatt.

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