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München

Bayern droht Ärzte-Notstand

Viele Hausärzte finden keinen Nachfolger mehr. Wenn die Politik nicht entschieden gegensteuert, wird die Lage dramatisch

Das Plakat ist nicht zu übersehen. "We need you - mir brauchn di" ist in großen Lettern auf der drei mal vier Meter großen Wand zu lesen. An der Zufahrt zum Klinikum Garmisch-Partenkirchen, genau dort, wo jeder vorbei muss, der in der Klinik arbeitet oder dort einen Patienten besucht, hat Dr. Stefan Streng sein Plakat angebracht. Der Mittenwalder Hausarzt wusste sich nicht mehr anders zu helfen bei der Suche nach einem Nachfolger für die Praxis eines Kollegen. Er hatte Ärzte angesprochen und Anzeigen geschaltet. Geholfen hat es nichts. Von den Kollegen erntete er ein Schulterzucken. Und auf die Anzeigen bekam er keine Reaktion. Deshalb mietete er die Plakatwand an dem strategisch günstigen Ort - für vier Wochen und 400 Euro. Deutschlandweit dürfte diese Aktion einzigartig sein. Aber sie wird wohl schnell Nachahmer finden. Denn Dr. Stefan Streng sucht nach etwas, was scheinbar am Aussterben ist: nach einem Hausarzt.

Für die bestehenden Praxen Nachfolger zu finden, wird für die Ärzte zu einer schier unlösbaren Aufgabe. Nicht nur auf dem Land fehlen Hausärzte. Auch in der Stadt stellen sich Nachfolger für Mediziner, die aus Altersgründen ihre Praxen aufgeben, nicht ein. Was vor wenigen Jahren noch teuer bezahlt wurde, wird heute angeboten wie Sauerbier. Dr. Stefan Streng, der vor zehn Jahren aus Baden-Württemberg nach Mittenwald kam, zahlte damals noch 125.000 Euro Ablöse für die Praxis. Wenn er sie heute verkaufen würde, meint er, bekäme er dafür vielleicht noch 20.000 Euro. Illusionen will er sich da keine machen.

Streng ist mit seinen 53 Jahren der Prototyp des bayerischen Hausarztes. Das Durchschnittsalter eines Hausarztes beträgt heute 52,5 Jahre, jeder vierte Hausarzt ist sogar älter als 60 Jahre. "In den nächsten Jahren werden drei Kollegen in Mittenwald, Wallgau und Krün aufhören. Wenn sich nichts Entscheidendes ändert, dann werden diese Praxen nicht wieder besetzt", sagt Streng. Für 10.000 Einwohner plus 5000 Touristen, die im Sommer und Winter das Obere Isartal besuchen, gibt es dann nur noch vier Allgemeinmediziner.

"In Bayern ist die flächendeckende medizinische Versorgung in Gefahr", heißt es denn auch beim Bayerischen Hausärzteverband. Zwar weist die Statistik für den Freistaat mehr als 9000 Hausärzte aus. Das erscheint auf den ersten Blick viel. Doch 20 Prozent der Ärzte, die statistisch als Hausärzte erfasst werden, sind nicht direkt an der Umsetzung des hausärztlichen Versorgungsauftrags beteiligt, hat die Kassenärztliche Vereinigung herausgefunden. Rund 1600 Hausärzte erbringen demnach schwerpunktmäßig eher Leistungen aus dem fachärztlichen Bereich, wie zum Beispiel aus der Psychotherapie oder der Onkologie. Dabei bräuchte es unbedingt mehr Hausärzte für die alltäglichen Wehwehchen. Denn die Arbeit für sie wird mehr. Dafür sorgt allein schon der demografische Wandel. Prognosen gehen davon aus, dass bis zum Jahr 2050 die Zahl der über 60-Jährigen in Bayern um 46 Prozent zunehmen wird.

"Eine immer älter werdende Gesellschaft stellt auch intensivere Anforderungen an die Gesundheitsversorgung. Mit unseren Maßnahmen wollen wir die medizinische Versorgung gerade für ältere Patienten und besonders im ländlichen Raum zukunftsfest machen", erklärte deshalb auch der bayerische Gesundheitsminister Marcel Huber (CSU) in der ersten Kabinettssitzung in diesem Jahr. Um die hausärztliche Versorgung im ländlichen Raum zu stärken, hat das bayerische Gesundheitsministerium Förderprogramme aufgelegt. Doch die Anschubfinanzierungen für die Niederlassung in ländlichen Gebieten oder die Unterstützung für innovative Versorgungskonzepte sind nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

Mitte Januar hat Gesundheitsstaatssekretärin Melanie Huml 25 Stipendien an Studenten vergeben. 300 Euro monatlich erhalten die Geförderten für maximal vier Jahre. Die Bedingung: Sie mussten sich bereit erklären, nach ihrem Studium für mindestens fünf Jahre im ländlichen Raum zu arbeiten - egal ob als Haus- oder Facharzt, ob niedergelassen oder im Krankenhaus. Flächendeckend lässt sich auf diese Weise die Versorgung des Landes mit Hausärzten nicht einmal im Ansatz sicherstellen.

Das weiß auch Minister Huber. Deshalb forderte er Ärztekammer, Kassenärztliche Vereinigung, Krankenkassen, Hausärzteverband und Universitäten dazu auf, im Schulterschluss mit der Politik gemeinsam verstärkt für die Allgemeinmedizin zu werben. Um mögliche Hürden bei der Berufswahl zu ermitteln, hat Huber dem Institut für Allgemeinmedizin der Technischen Universität München, der ersten Einrichtung dieser Art in Bayern, einen Forschungsauftrag erteilt. Dort soll mit wissenschaftlichen Methoden ergründet werden, weshalb junge Menschen sich gegen den Hausarztberuf entscheiden.

Dabei ist längst bekannt, woran es hakt. Obwohl der erste Weg zu einer medizinischen Versorgung die meisten Patienten zum Hausarzt führt, kommt die Allgemeinmedizin in der Medizinerausbildung praktisch nicht vor. Der Bayerische Hausärzteverband fordert deshalb auch, die Allgemeinmedizin aufzuwerten und wie für Innere Medizin und Chirurgie in der Aus- und Weiterbildung auch ein Pflichtquartal Allgemeinmedizin einzuplanen. Gleichzeitig fordert der Verband die Politik auf, sich für Lehrstühle der Allgemeinmedizin einzusetzen und solche Einrichtungen an den Universitäten entsprechend zu fördern.

Aber auch die Hausärzte haben längst erkannt, dass auch sie ihren Beitrag leisten müssen, um den medizinischen Nachwuchs für ihr Berufsfeld zu gewinnen. Sie gehen in die Offensive. Gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Allgemeinmedizin laden sie mittlerweile regelmäßig zum "Tag der Allgemeinmedizin" an der TU München ein, um auch in Kontakt zu Studierenden und jungen Medizinern zu kommen. Darüber hinaus lädt das Institut für Allgemeinmedizin der Technischen Universität München die Studierenden regelmäßig zu Informationsveranstaltungen ein.

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"Die Grundbereitschaft, Hausarzt zu werden, ist bei den Studierenden da", sagt Lehrstuhlinhaber Antonius Schneider. Offensichtlich mangelt es aber an Angeboten, die mit den Vorstellungen der jungen Leute von ihrer Arbeit als Arzt vereinbar sind. Allein und ohne Kollegen in der Praxis zu arbeiten und zusätzlich noch eine Rundumbereitschaft, das widerspricht den Vorstellungen der jungen Ärzte-Generation. Zusammenarbeit im Team, geregelte Arbeitszeiten und Vereinbarkeit von Familie und Beruf, das erwarten die jungen Mediziner heute.

Dr. Streng in Mittenwald kennt diese Erwartungen. Weil er mit seiner Praxis demnächst in größere Räume in einem Ärztehaus zieht, würde er einem jüngeren Kollegen auch anbieten, in seiner Praxis mitzuarbeiten. Besondere Erwartungen haben Streng und die anderen Hausärzte in Mittenwald und Umgebung nicht an junge Kollegen. "Wir Hausärzte im Oberen Isartal sind froh über jeden, der hierherkommt", sagt Streng. Wer sich heute für die Arbeit als Hausarzt entscheidet, kann sicher sein, von Patienten und Berufskollegen mit offenen Armen empfangen zu werden.

Seine ungewöhnliche Plakataktion jedenfalls hat Dr. Streng weitergeholfen. Acht Ärzte aus ganz Deutschland haben inzwischen ernsthaftes Interesse bekundet. Eine Bewerbung kam bis aus Köln. Und auch wenn er derzeit nur einen Hausarzt in das Obere Isartal holen will, schon bald wird wieder eine Hausarztstelle frei, die besetzt werden muss, um die hausärztliche Versorgung in Mittenwald und Umgebung sicherzustellen.

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