Chef des NAV-Virchow-Bundes, Dr. Dirk Heinrich, über Krankenkassen, teure Medizin für ältere Menschen und Betrug im Gesundheitswesen.

Hamburg. In einem Einkaufszentrum an der Horner Rennbahn liegt die Praxis von Dr. Dirk Heinrich. Der HNO-Fachmann ist als Chef des NAV-Virchow-Bundes einer der wichtigsten Vertreter seines Berufsstandes gegenüber Politik und Krankenkassen. Doch in erster Linie ist Heinrich Arzt. Und über neue Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen ist Heinrich wütend.

Hamburger Abendblatt: Herr Dr. Heinrich, Hamburgs Ärzte beschweren sich darüber, dass Ihre Honorare, wie von den Krankenkassen dargestellt, um 3,5 Prozent steigen sollen. Das hieße rund 500 Euro mehr im Monat. Ist Ihnen das zu wenig?

Dr. Dirk Heinrich: Auf der Bundesebene haben die Ärzte dem Honorarkompromiss zugestimmt, weil die Kassen gesagt haben: Auf der regionalen Ebene kommt ja noch etwas dazu. Die Hamburger Kassen haben aber von uns eine Unterwerfungserklärung verlangt: Wir sollten das akzeptieren, was die Bundesebene empfiehlt – und keinen Cent mehr bekommen. Das können wir nicht machen. Als Stadtstaat haben wir viel mehr Facharztpraxen, viel mehr Psychotherapie – das muss ausgeglichen werden.

Heißt das, Sie arbeiten faktisch mehr als Kollegen in anderen Bundesländern?

Heinrich: Die Praxen sind alle ausgelastet. Wir versorgen in Hamburg 3,5 Millionen Menschen in der Metropolregion. Die Krankenkassen sind nicht bereit, das Geld dafür zur Verfügung zu stellen. Wir brauchen zum Beispiel dringend eine Lösung für Haus- und Heimbesuche.

Was bekommen Sie für einen Heimbesuch bei einem Patienten?

Heinrich: Ich bin viel in Heimen: 21 Euro plus fünf Euro für die Fahrt. Das ist aber budgetiert. Das heißt, Sie machen das, aber wissen: Das wird jetzt nicht mehr bezahlt. Da kann man sich aussuchen, ob der Heimbesuch oder der nächste Hörtest nicht mehr bezahlt wird.

Die gesetzlichen Krankenkassen haben mit Mitgliederbeiträgen Milliarden-Reserven aufgebaut. Die Politik will den Zuschuss zum Gesundheitsfonds weiter kürzen. Man hat den Eindruck, die Ärzte schielen darauf, vom großen Kuchen etwas abzubekommen.

Heinrich: Das Geld sollte in eine sinnvolle Versorgung gesteckt werden. Zum Beispiel könnte man für Allergiker die Hyposensibilisierung besser bezahlen, damit sie nicht zu Asthmatikern werden. Das wäre mal eine sinnvolle Maßnahme. Aber die Krankenkassen sind gar nicht daran interessiert, was wir machen. Die sind nur auf dem Spartrip. Ihr Verhalten bei den Honorarverhandlungen war unterirdisch. Und dann diese Diffamierungskampagnen gegen die Ärzte – das kann ich nicht mehr nachvollziehen. Ich habe meine Praxis in Horn, da brauche ich fremdsprachliche Mitarbeiterinnen, die hier ständig dolmetschen. Eine stammt aus Afghanistan, zwei aus der Türkei. Es dauert einfach länger, bis ich herausgefunden habe, was ein Patient hat. Das bezahlt mir niemand.

Warum arbeiten Sie nicht in Eppendorf?

Heinrich: Ich habe mich bewusst für Horn entschieden, ich mag diesen Stadtteil. Damals war die Diskrepanz nicht so dramatisch. In Eppendorf hat mein Kollege auch vor Jahren schon mehr verdient, vielleicht zehn Prozent mehr. Heute verdient er das Doppelte. Dabei ist der Privatpatient von heute genauso viel wert wie früher. Die Gebührenordnung ist seit 1996 nicht verändert worden. Für einen Kassenpatienten kriegen Sie aber deutlich weniger. Ich bekomme heute für einen Kassenpatienten 31 Euro im Quartal. Mein Vorgänger hier in der Praxis erhielt 55 Euro. Wir haben viel mehr Patienten, die Leute gehen häufiger zum Arzt. Jeder Kranke soll behandelt werden. Aber ich bin schon froh, wenn einer wegen Kleinigkeiten nicht dreimal im Quartal in die Praxis kommt.

Wie kann man Arztpraxen und Honorare besser verteilen?

Heinrich: Ein schlichter Satz: Es muss möglich sein, überall eine Praxis mit Kassenpatienten mit durchschnittlicher Patientenanzahl so zu führen, dass ein entsprechendes Einkommen dabei herauskommt. Dabei orientieren wir uns daran, was ein Oberarzt im Krankenhaus verdient. Das erzielen Sie heute nicht mehr.

Warum tut die Hamburger Politik nichts dagegen? Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) will doch in die Praxenplanung eingreifen.

Heinrich: Man kann auch durch eine kleinräumige Planung nicht dafür sorgen, dass ein Arzt nach Billstedt zieht. Der geht da nicht hin, weil er nicht weiß, ob die Praxis morgen noch lebensfähig ist.

Ein Teil der Honorare sind die Einnahmen von Privatpatienten. Der Chef der Techniker Krankenkasse, Jens Baas, hat dafür plädiert, die Privaten abzuschaffen. Sie haben ihm einen erbosten Brief geschrieben. Warum?

Heinrich: Der Brief hatte noch einen anderen Hintergrund. Herr Baas hat gesagt, die Privatversicherung braucht man überhaupt nicht mehr, er schließt aber gleichzeitig mit einer privaten Praxis für Hautkrebsscreening in Hamburg einen Vertrag für seine Versicherten. Das halte ich für Heuchelei. Es ist eine Unverschämtheit, dass das zusätzliche Geld nicht an die Ärzte fließt, die jeden Tag seine gesetzlich Versicherten behandeln. Ein Schlag ins Gesicht für 150 Hamburger Hautärzte und für die Patienten. Da gibt es ein Bonbon zu verteilen, und Herr Baas bedenkt eine Privatpraxis!

Wie kann man begründen, dass man noch eine private Krankenversicherung braucht?

Heinrich: Die Argumentation war früher die: Ein Rechtsanwalt, der viel verdient, kann sich günstig in der Gesetzlichen versichern, die kleinen Leute zahlen für ihn mit. Das soll nicht sein, denn die Solidarität der Gutverdiener wird ja über die Steuern erreicht. Also sollte er alles selbst zahlen. So sind dann die Privatversicherungen entstanden. Von mir aus könnte man die Privaten abschaffen. Aber man müsste das Geld, das durch die Privaten ins Gesundheitssystem kommt, komplett ausgleichen. Heißt: Bei den niedergelassenen Ärzten müsste das GKV-Honorar um 36 Prozent steigen. Wenn Sie die PKV abschaffen, ziehen Sie am Stöpsel der Badewanne. Dann ist das deutsche Gesundheitswesen in wenigen Jahren zusammengebrochen.

SPD und Grüne wollen bei einem Wahlsieg bei der Bundestagswahl die PKV abschaffen bzw. auslaufen lassen und eine Bürgerversicherung einführen, in die alle einbezogen werden.

Heinrich: Bürgerversicherung klingt toll nach Solidarität, ist aber ein Muster ohne Wert. Diese Pläne sind nicht durchdacht und nicht solide durchgerechnet. Man muss dann ehrlich sagen, welche Medizin wegfallen soll. Ich habe das Herrn Lauterbach von der SPD erzählt, der kriegt dann große Augen: Was? 36 Prozent? So viel? Haben Sie da Berechnungen? Die haben selber keine.

Werden den Patienten nicht schon heute aus wirtschaftlichen Gründen Behandlungen vorenthalten?

Heinrich: Ja, und das ist das das Gemeinste, was es überhaupt gibt. Wenn ich ein Budget mache, ist das ja schon implizite Rationierung von medizinischen Leistungen. Es wird nicht ausgesprochen, es gibt keine Diskussion darüber. Die Entscheidung, was rationiert wird, wird dem Arzt überlassen. Ich habe Rationierung nicht studiert. Aber ich muss entscheiden: Der kriegt heute noch einen Hörtest, der keinen, weil ich nicht genügend Helferinnen bezahlen kann. Das kann es doch nicht sein. Es muss die Gesellschaft entscheiden, nach welchen Kriterien wer noch was bekommt. In England warten Sie ein Jahr auf den Hörtest.

In Hamburg wollten die Kassen zuletzt einer 72-Jährigen keine Stammzelltherapie für 100.000 Euro bezahlen, die ohne diese Behandlung schnell gestorben wäre. Ist das schon medizinische Rationierung?

Heinrich: Ja, das ist es. In Deutschland haben wir die Philosophie, dass für das Einzelwohl alles gemacht wird. In England - da ist das anders. Da darf ein zusätzliches Lebensjahr nicht mehr kosten als 30.000 Pfund. Wenn eine 88-Jährige eine neue Hüfte braucht, wird geschaut, ob sie ihre statistische Lebenserwartung schon überschritten hat. Keine neue Hüfte – also Rollstuhl. Das Nationale Gesundheitssystem zahlt dann nicht, das müssen Sie privat begleichen. Wollen wir Das?

Haben Sie Ärger mit Krankenkassen, weil Kosten für Patienten nicht erstattet werden sollen?

Heinrich: Wir sind als Ärzte heute viel häufiger gezwungen, Briefe zu schreiben und Behandlungen zu begründen. Die Krankenkassen haben auch gegenüber ihren Versicherten eine Verweigerungshaltung entwickelt.

In der Vergangenheit hat es immer wieder Fälle von ärztlichem Fehlverhalten gegeben, vor allem bei Abrechnungen. Wie kann man das verhindern bzw. aufdecken?

Heinrich: Die ganze Korruptions- und Betrugsdebatte leidet darunter, dass Einzelfälle hochgespielt werden, Es werden 53.000 Fälle berichtet, aber wenn einer 200 Rezepte fälscht, sind das 200 Fälle. Es geht um vielleicht 100 Täter. Und dazu gehören nach einem Krankenkassenbericht alle: Physiotherapie, Pflege, Apotheken, Ärzte, übrigens in dieser Reihenfolge. Abrechnungsbetrüger betrügen in erster Linie ihre Kollegen. Eins haben wir falsch gemacht: Wir haben die Betrüger immer still bestraft. Und wer sieht die tödlichen Fehler der Krankenkassen? Sie schließen aus Spargründen Rabattverträge mit Herstellern von Grippeimpfstoffen, die dann nicht liefern können. Da können Tausende Risikopatienten nicht rechtzeitig geimpft werden. Es werden mehr Menschen an Grippe sterben – und niemand redet darüber.