Arzt über Berufsethos und Ökonomie: „Wir haben zu viele Krankenhäuser“

Kein Arzt will seinem Patienten explizit schaden, sagt der Chirurgie-Professor Stefan Post. Aber dann sind da diese Grauzonen. Und die Zwänge.

Dass es zu viele Kliniken gibt, traue sich kein Politiker zu sagen, meint der Chefarzt Bild: dpa

sonntaz: Herr Post, kann ein Patient heutzutage darauf vertrauen, dass es Ärzten ausschließlich um sein Wohl geht?

Stefan Post: Die allermeisten Ärzte wollen sicher Schaden für den Patienten vermeiden. Aber die wenigsten Indikationen in der Medizin sind richtig oder falsch, schwarz oder weiß. Dazwischen liegt eine große Grauzone. Was in dieser Grauzone allerdings den Ausschlag dafür gibt, eine Therapie zu empfehlen oder nicht, das sind – leider – auch Anreize, die nicht nur patientenorientiert sind.

Was sind das für Anreize?

Die OECD-Statistiken zu Eingriffsfrequenzen liefern einen objektiven Vergleich: Wir Deutschen sind unter anderem Weltmeister im Herzkathetern, im Einsetzen von Hüftprothesen und Kniegelenken.

Die Menschen werden älter, Gelenke verschleißen.

Ja, aber das erklärt nicht, weshalb das in Deutschland so viel häufiger nötig sein soll als in allen anderen Industrienationen mit ebenfalls alternden Gesellschaften.

Dieses Interview und die Ganze Geschichte „Herr Michalek und sein Herz“ lesen Sie in der //:sonntaz vom 16./17. Februar 2013. Verlernt die Medizin zu heilen? Außerdem: Die dänische Sängerin Gitte Haenning im sonntaz-Gespräch. Und: Geschichten vom Papst. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.

Warum verordnen Ärzte so viele Operationen? Es heißt, im Gesundheitssystem muss gespart werden.

Das Paradoxe ist: In Deutschland gibt es ein Überangebot an medizinischer Versorgung. Wir haben zu viele Krankenhäuser, zu viele Betten, zu viele Abteilungen, auch deswegen, weil kein Land, keine Kommune auf seine Einrichtungen freiwillig verzichtet. Das traut sich aber kein Politiker zu sagen. Anstatt Häuser dicht zu machen, was ehrlich und Aufgabe der Politik wäre, wurde vor etwa einer Dekade das Finanzierungssystem der Fallpauschalen eingeführt. Und dieses System ist darauf angelegt, Krankenhäuser pleite gehen zu lassen.

Erfahrungen im Inland: Stefan Post, Jahrgang 1954, ist Direktor der Chirurgischen Klinik der Universitätsmedizin Mannheim, Professor für Chirurgie der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg sowie Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie.

Erfahrungen im Ausland: Von 1982 bis 1984 arbeitete er im Newala District Hospital in Tansania als Arzt im Entwicklungsdienst.

Ansichten: Post legt Wert auf die Feststellung, dass die in diesem Interview vertretenen Meinungen seine persönlichen sind.

Die Fallpauschalen vergüten Behandlungen nach Diagnose und nicht nach Dauer der Therapie. Das sollte dafür sorgen, dass Kliniken besser wirtschaften, indem sie Patienten nicht länger auf der Station behalten als nötig. Was ist daran schlecht?

Die Daumenschrauben werden finanziell Jahr für Jahr enger gedreht, weil die Preise der Pauschalen immer mehr hinter den Kostensteigerungen der Krankenhäuser zurückbleiben. Es überleben nur diejenigen, denen es gelingt, immer effizienter zu werden, und das geht häufig nur über die Steigerung der Patienten- wie Eingriffszahlen. In dieser Gemengelage sagen sich manche Ärzte, na gut, dann empfehlen wir diese Kniespiegelung oder jene Operation eben doch, oder wir empfehlen sie früher als nötig, denn dem Patienten schadet sie nicht wirklich, aber dem Krankenhaus nützt sie.

Und dem Chefarzt nützt sie auch – der wurde bislang leistungsabhängig bezahlt. Künftig soll es Bonusverträge nicht mehr geben. Reicht das aus?

Die Änderung ist nötig, aber sie wird das System nicht verändern. Denn der ökonomische Druck existiert weiter, und der Chefarzt, der in künftigen Verträgen keine konkreten Eingriffszahlen mehr vorgegeben hat, weiß trotzdem: Schreibt seine Abteilung rote Zahlen, verliert er seinen Job. Das war vor 30 Jahren anders: Wer einmal Chefarzt war, hatte gute Chancen, dies sein Leben lang zu bleiben. Heute spüren Chefärzte den ökonomischen Druck unmittelbar – und reichen ihn weiter.

Widerspricht Wirtschaftlichkeit dem Gedanken eines solidarischen Gesundheitssystems?

Wirtschaftliche Effizienz ist kein Gegensatz zu guter Medizin, sondern eine Bedingung dafür. Als junger Arzt habe ich in Tansania im Entwicklungsdienst gearbeitet. Da habe ich hautnah erlebt: Wenn nur sehr wenig Geld insgesamt da ist, dann gibt es einen ethischen Zwang zur Effizienz. Dann muss man schauen, wie man mit begrenzten Mitteln möglichst vielen Menschen gesundheitlich helfen kann. Dieses Denken müssen wir in Deutschland erst noch lernen.

Nicht alles, was medizinisch machbar ist, wird künftig noch bezahlbar sein?

Bezahlbar muss bleiben, was medizinisch sinnvoll und notwendig ist. Das aber kontrolliert bei uns bislang kaum einer. In unserem Gesundheitssystem wird weder die Qualität der ärztlichen Entscheidung ausreichend überprüft, eine bestimmte Therapie anzuwenden, noch die Qualität der Ergebnisse.

Warum nicht?

Weil dafür bisher der politische Wille fehlt und weil es sich nicht lohnt. Honoriert wird vor allem die Menge. Das ist der größte Fehlanreiz, den wir haben.

Herr Post, wie geht so was: Ärzte haben ein Berufsethos, sie wollen Menschen helfen, gesund machen – und dann verlieren sie diesen Fokus eines Tages aus den Augen?

Ich bin überzeugt, dass das grundsätzlich und pauschal so nicht gilt. Es gibt bereits bei Medizinstudenten – wie in der übrigen Bevölkerung auch – ein breites Spektrum von denjenigen, die reinste Idealisten sind, bis hin zu denjenigen, die überwiegend finanziell motiviert sind. Und einen Verlust von Idealen im Laufe des Lebens – das hat es auch in früheren Jahrzehnten und bei anderen Berufsgruppen gegeben. Richtig ist aber auch: Chefärzte werden heute vermehrt aufgrund ihrer Eignung eingestellt, möglichst schwarze Zahlen zu schreiben. Wer in dem System Karriere machen will, weiß das – und passt sich möglicherweise entsprechend an.

Indem er sich empfänglich zeigt für Zuwendungen der Industrie, Rabatte, Drittmittel oder bezahlte Studien?

Überall, wo es finanzielle Anreize gibt, gibt es Bestechungsversuche. Das Gesundheitswesen macht da keine Ausnahme. Sicher gibt es den Versuch der Einflussnahme durch die Industrie. Aber was die Studien angeht: Das Problem ist doch nicht, dass die Industrie sie bezahlt. Solange sie qualitativ gut geführt und auch solche Ergebnisse objektiv publiziert werden, die möglicherweise nicht im Interesse der Industrie sind, ist die Finanzierung in Ordnung. Für problematischer halte ich, dass viele nötige Studien gar nicht erst finanziert und durchgeführt werden, weil es kein Industrieinteresse gibt. Dies gilt in besonderem Maße bei Fragestellungen, für wen eine bestimmte Operation überhaupt sinnvoll ist. Und so werden diese qualitativ unerforschten Eingriffe weiter angeboten, ohne ihren Nutzen zu kennen, einfach nur, weil damit Geld zu verdienen ist.

Wie können sich Patienten schützen?

So, wie das System im Augenblick gestrickt ist, sollten sich Patienten, gerade wenn es um planbare Eingriffe geht, grundsätzlich eine zweite und dritte Meinung von Unbeteiligten einholen: Der Arzt ohne finanzielles Eigeninteresse wird vielleicht doch andere Ratschläge geben.

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