Nürnbergs Kliniken dementieren OPs aus Geldgier

16.2.2013, 13:41 Uhr
Nürnbergs Kliniken dementieren OPs aus Geldgier

© Foto: Uwe Niklas

Die Schlagzeilen der vergangenen Monate verunsichern jeden, dem ein Krankenhausaufenthalt bevorsteht. Von der „Geldmaschine Operationssaal“ ist die Rede, von Eingriffen, die überflüssig, aber lukrativ sein sollen. „Klinikärzte operieren aus Geldgier häufiger als nötig“, so lautet, verkürzt, die Essenz des Krankenhaus-Reports 2013. Die Studie, die von der Krankenkasse AOK mit herausgegeben wird, hält überproportional gewachsene Fallzahlen in Behandlungsfeldern fest, die einen vergleichsweise geringen Aufwand bei hohem Entgelt mit sich bringen.

So habe sich die Zahl der Wirbelsäulenoperationen bei AOK-Versicherten binnen fünf Jahren verdoppelt. Beim Einsatz künstlicher Hüft- und Kniegelenke liegen die Deutschen an der Weltspitze. Bei den Herzschrittmachern und Herzkathetereingriffen auf europäischen Spitzenplätzen. Noch dazu maß die AOK hier bis zu viermal höhere Häufigkeiten in manchen Regionen Deutschlands – was nur noch erklärlich sei durch Kalkül. Mit der Altersentwicklung lasse sich die medizinische Nachfrage nur zum Teil begründen. Der Bevölkerungsanteil der Über-65-Jährigen ist in Deutschland in den zwei Jahrzehnten seit 1990 nur um etwa fünf Prozentpunkte gewachsen.

Nürnbergs große Krankenhäuser liegen in öffentlicher, kirchlicher oder gemeinnütziger Hand; kein Konzern redet mit. Daher mag es rühren, dass sie beteuern, ihre Ärzte bekämen keine Anreize zur Überversorgung. Oder nur stark limitierte Möglichkeiten mit natürlicher Bremse. Das erklärt jedenfalls Alfred Estelmann, Vorstand des Nürnberger Klinikums. Die umstrittenen Bonusvereinbarungen, die Anheizer für die Operationszahlen sein können, gibt es für Chefärzte am Klinikum allerdings auch. „Wir sind im Wettbewerb“, sagt Estelmann. Jedoch „mit Augenmaß und im Rahmen des ethisch Vertretbaren“.

Ein Fünftel des Jahresgehalts laufen über Zielvereinbarungen

Etwa die Hälfte der leitenden Klinikumsärzte – die anderen haben noch alte Verträge – bezieht bis zu ein Fünftel des Jahresgehalts über Zielvereinbarungen. Dieses Punktesystem belohnt es, wenn festgelegte Fall- und Wirtschaftlichkeitszahlen erreicht werden. Aber: Die meisten Punkte kommen etwa durch eine pünktliche Verwaltung zustande, durch offenen Umgang mit Komplikationen, neue Methoden oder Weiterbildungen.

„Ehrgeizig ins Kraut schießen“ könne bei den Patientenzahlen niemand, erklärt der Vorstand. „Wenn ich das erkennen würde, müsste ich gegensteuern.“ Mehr Behandlungen bringen dem Arzt nicht noch mehr Geld. Im Gegenteil: Die Krankenkassen handeln feste Behandlungsmengen vorab für ein Jahr aus. Eine Klinik, die danach mehr abrechnen will, wird mit Abschlägen bestraft.

Seit 2004 bezahlen die Kassen den Kliniken nicht mehr die Liegetage, sondern Pauschalen für ärztliche Leistungen. Die Systemrevolution verwandelte die Häuser in stramm rechnende Unternehmen. Weil ihre Ausgaben für Personal und Material steigen, der politische Kampf um mehr Gelder jedoch wenig Früchte trägt, müssen mittlerweile stetig steigende Behandlungszahlen die Lücke schließen.

Die Kliniken Dr. Erler, Martha-Maria, St.Theresien, Hallerwiese und Cnopf’sche lehnen Wirtschaftlichkeits-Boni für ihre Chefs ab; sie widersprächen ihren Leitbildern. Bei Martha-Maria gibt es nur kleine Prämien für Zertifizierungen oder verbesserte Abläufe. In den beiden Fürther Euromed-Häusern, die zur privaten Schön-Klinikgruppe gehören, bekommen die Ärzte Boni nur für Mitarbeiterzufriedenheit und Behandlungserfolge.

„Das Fallpauschalensystem belohnt Häufigkeiten“

Unstrittig ist aber, dass jedes Krankenhaus mittels Marketing dort um Patienten kämpft, wo es spezialisiert ist und einträglich arbeiten kann. Die Herzklappenchirurgie ist dafür ein Beispiel, auch Entbindungen. „Das Fallpauschalensystem setzt auf Leistungsmengen und belohnt so ganz klar Häufigkeiten“, bestätigt Klinikums-Vorstand Estelmann. „Es ist ärgerlich, wenn die Kassen heute so tun, als hätten sie die Risiken und Fehlanreize nicht gekannt. Aus anderen Ländern war bekannt, dass die Fallzahlen durch die Pauschalen stiegen. Das System treibt uns immer mehr ins Hamsterrad.“

Untrennbar hänge die Entwicklung indes mit der Erwartungshaltung der Bürger zusammen. „Die Kostenträger lassen außer Acht, dass auch deshalb mehr operiert wird, weil ältere Menschen heute höhere Ansprüche an Mobilität und Lebensqualität haben“, sagt Markus Stark, Geschäftsführer der Erler-Klinik. „Zu Recht“, wie er betont. Herbert Stähr, Leiter der zwei Euromed-Kliniken, stimmt ein: „Wer 70 ist, möchte weiterhin reisen und sportlich aktiv sein. Viele Menschen möchten auch möglichst lange in der eigenen Wohnung leben und sich selbst versorgen können.“

Kurz: Ein Arthrose-Kranker entscheidet sich wohl nicht für Schmerzmittel und Gehstock, wenn sein Orthopäde ihm von der neuen, langlebigen Knieprothese erzählt. Die Qualität der Implantate verbesserte sich zuletzt gerade beim Knie erheblich, berichtet Dr. Ambrosius Müller, ein leitender Orthopäde der Erler-Klinik. Das entbinde ihn persönlich aber nicht von der ärztlichen Pflicht, Risiken und Vorteile der Chirurgie abzuwägen. Beispielsweise sei bei einer zu frühen Gelenkersatz-OP der Erfolg, den der Patient subjektiv bemerkt, geringer. Trotzdem erlebe er alle Negativfolgen des Eingriffs. Zu viel im Gesundheitssystem sei auf den kurzfristigen Erfolg fokussiert, kritisiert Müller.

„Auch die Kasse will ihre Kunden zufriedenstellen“

Ein Vorwurf ans Krankenhaus sei ungerecht, sagt Anja Müller, Sprecherin des St.-Theresien-Krankenhauses. „Es herrscht das Mehr-Augen-Prinzip. Der niedergelassene Arzt weist den Patienten ein, der Operateur begutachtet ihn neu. Wir rekrutieren nicht.“ Schon im Vorfeld dürfe die Krankenkasse nachprüfen, ob die OP notwendig sei. Fälle von Ablehnung sind Müller nicht bekannt. „Auch die Kasse will ihre Kunden zufriedenstellen.“ In St.Theresien sei der älteste Hüft-OP-Patient 105 Jahre alt gewesen. Durch den Eingriff habe er noch zwei Jahre lang selbstständig zu Hause leben können.

Dass manche Mediziner Indikationen großzügiger als nötig stellen, weil einheitliche Standards fehlen, schließt kein Gesprächspartner aus. Denn die vermeintlichen Sparvorgaben des Gesundheitssystems sind nicht alle logisch. So können etwa niedergelassene Ärzte leicht von einer Krankenkasse in Regress genommen werden, wenn sie bei gesetzlich Versicherten öfter das Quartalsbudget für Medikamente oder Krankengymnastik überschreiten. Legt der Arzt dem chronisch Kranken stattdessen eine Operation ans Herz, wird er die Kostenfrage los, ans Krankenhaus. Dabei ist manche OP viel teurer als die konservative Behandlung.

Es klingt vor diesem Hintergrund fast banal, was Kliniksprecherin Anja Müller rät: Schlägt einem ein Arzt einen Eingriff vor, solle man konsequent eine zweite Meinung einholen. „Der Patient ist es in Deutschland immer noch nicht gewohnt, mündig für sich zu entscheiden. Er ist dem Arzt ja nicht hilflos ausgeliefert.“

Die gesellschaftliche Frage, was der kranke Wohlstandsbürger kosten darf, bleibt weiter ungelöst. Medizinischer Fortschritt und Wachstumsprinzip sind keine Antworten.

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