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Herausforderungen. Ältere Patienten sind häufig multimorbide, haben also mehrere Krankheiten gleichzeitig.

© picture alliance / dpa

Alte Patienten im Krankenhaus: Eine ganz besondere Mehrheit

Die Zahl hochbetagter Patienten in Krankenhäusern nimmt zu, Mitarbeiter müssen sich darauf einstellen, Was brauchen sehr alte Menschen? Ein Workshop in Berlin hat sich damit auseinandergesetzt.

Frau Müller macht sich Sorgen. Ihr 87-jähriger Mann leidet immer stärker an seiner schweren Arthrose, inzwischen kann er nicht einmal mehr mitkommen, wenn sie den Hund Gassi führt. Abhilfe könnte nach Meinung des Orthopäden nur ein künstliches Hüftgelenk schaffen. Aber wird der alte Herr den Krankenhausaufenthalt und die anschließende Reha so einfach wegstecken? Zwar ist der ehemalige Schuldirektor geistig sehr präsent, doch selbst kleinste Störungen im Ablauf seines Alltags machen ihn in letzter Zeit unsicher – und auch recht widerspenstig bis bockig. Soll sie ihm zu dem Eingriff raten? Die 73-Jährige spricht mit ihrer Tochter, die gibt zu bedenken, dass der Vater ohne Operation mit seiner Arthrose in der rechten Hüfte nicht nur immer unbeweglicher werden, sondern auch wertvolle Kontakte nach draußen verlieren würde. Schließlich folgt ein schlagendes Argument: „Es ist doch heute ganz normal, noch mit 90 operiert zu werden.“

Damit hat sie auf jeden Fall recht: Die meisten Patienten, die in den Abteilungen für Innere Medizin, aber auch für Neurologie oder Orthopädie unserer Krankenhäuser behandelt werden, sind heute zwischen 70 und 85 Jahre alt, über 100-Jährige sind dort längst keine Seltenheit mehr. Wenn der statistische „Durchschnittspatient“ erst Ende 50 ist, so liegt das daran, dass Geburten, Krankheiten von Kindern und Unfälle jüngerer Erwachsener den Altersdurchschnitt dramatisch senken. Herr Müller ist also kein Einzelfall – und doch ist er ein fiktiver Patient, erfunden für ein kleines „szenisches Anspiel“, das dem Workshop Medizinethik voranging, den das St.-Joseph-Krankenhaus in Tempelhof kürzlich zusammen mit der Evangelischen Akademie zu Berlin veranstaltet hat. Das Thema: „Der alte Patient im Krankenhaus. Pflegerische, ärztliche, ethische und soziale Herausforderungen“.

„Alte Menschen brauchen mehr Zeit, sie beanspruchen mehr Zeit und sie haben in ihrem Alltag auch mehr Zeit“, sagte Henriette Krug von der Klinik für Neurologie der Charité auf dem Workshop. Die langsamer werdenden Lebensvollzüge passen allerdings schlecht zur Hektik des modernen Medizinbetriebs. Im Unterschied zu Heranwachsenden, die jeden Tag geschickter und routinierter werden und weniger Hilfe brauchen, werden die Hochbetagten zudem hilfsbedürftiger: „Involution statt Evolution“, so nennt es die Neurologin. Dazu komme, dass sie meist nur wenige soziale Kontakte haben, bis hin zur Vereinsamung. „Die wenigen zwischenmenschlichen Beziehungen, die ihnen erhalten bleiben, gewinnen dadurch erhöhte Bedeutung.“ In der Klinik gibt es dann auf einen Schlag eine Vielzahl von Kontakten zu bisher Unbekannten. „Beschränkt sich dann auch noch alles auf einen Zwei-Minuten-Kontakt, dann produziert das bei alten Patienten besonders viel Enttäuschung.“

Demenz bleibt die wichtigste Herausforderung in der Altenmedizin

Der Geriater Johannes Bruns ist in der privilegierten Situation, sich für seine Patienten mehr Zeit nehmen zu können. Er ist Oberarzt der Abteilung für Akutgeriatrie und Frührehabilitation am Evangelischen Krankenhaus Hubertus. „Wir dürfen unsere Patienten 20 Tage behalten“, so Bruns. Sie sind nicht nur alle über 70 Jahre alt, sie leiden auch alle an mehreren Krankheiten. „Diese Multimorbidität ist entscheidend“, so Bruns. Sie wird in einer ausführlichen Diagnostik erhoben, dem geriatrischen Assessment, bei dem es vor allem um die sechs „großen I“ geht: Immobilität, Instabilität, Inkontinenz, Intellektueller Abbau, Iatrogene Störungen. Zu letzteren, den erst durch die medizinische Behandlung verursachten Problemen, gehören die vielen Tabletten, die viele alte Patienten einnehmen. „Wir sind als Altersmediziner immer wieder bestrebt, das eine oder andere Medikament wegzulassen.“

In einigen Fällen kann das die Verwirrtheit mildern. Weil die Wahrscheinlichkeit, eine Demenz zu entwickeln, mit zunehmendem Alter steigt, bleibt dieses Thema trotzdem die wichtigste Herausforderung für die Altersmedizin. Die Hamburger Neuropsychologin Britta Stieglitz will wissen, wie gute Kommunikation mit alten, leicht bis schwer dementen Patienten im Stationsalltag gelingen kann. „Selbst schwer demente Menschen können differenziert Emotionen wahrnehmen, sie achten stark auf den Tonfall.“ Gelassenheit, Ruhe, angemessener Humor, Respekt und Achtung: Alles, was im Umgang mit jedem Menschen richtig ist, gewinnt hier besondere Bedeutung. „Wir sollten immer wieder versuchen, das Verhalten eines dementen Patienten zu verstehen: Meistens ist es sinnvoll.“

Dietmar Wittek von den Kliniken des Landkreises Neumarkt (Oberpfalz) wünscht sich neben Zertifizierungen wie „stillfreundlich“ auch solche zum „seniorenfreundlichen Krankenhaus“. Der Anästhesist hat nicht nur Neuerungen wie eine besondere Betreuung rund um operative Eingriffe zum Schutz vor Delirium eingeführt, das bei Hochbetagten nach einer Narkose besonders häufig eintritt. Er hat auch ein Ethikforum ins Leben gerufen, in dem neben Klinikmitarbeitern auch Bürger sitzen. „Wir brauchen sie, weil sie nicht betriebsblind sind.“

In Neumarkt gibt es zudem seit kurzem mit Unterstützung des Diakonischen Werks ein bundesweit einmaliges Angebot: Patienten ohne Angehörige werden auf Wunsch von ehrenamtlichen Entlassungspaten nach Hause begleitet. „Sie bringen die Patienten nach Hause, gehen auf dem Heimweg beim Hausarzt und der Apotheke vorbei und kaufen noch Milch und Brot.“ Die Paten helfen damit beim Start ins neue Leben zu Hause, das sich die meisten Patienten schon sehnlichst herbeigewünscht haben.

Doch gerade für Hochbetagte kann dieser Wunsch nicht immer Wirklichkeit werden. Sybille Kraus, Leiterin des Sozialdienstes und des Case Managements im St.-Hedwig-Krankenhaus in Mitte, forderte in ihrem Vortrag, mit den Gedanken an die Entlassung und das Leben danach müsse schon vor der Aufnahme begonnen werden. „Das gehört zu einer ganzheitlichen Behandlung.“ Entscheidend sei dabei immer der Wille des Patienten, der auch im Gespräch mit den Angehörigen im Mittelpunkt stehe. Herr Müller kann ihn zum Glück klar äußern.

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