Neue Diagnosekriterien in der Psychiatrie:Wenn Trauer zur Krankheit wird

Ist dreiwöchige Trauer nach einem Todesfall krankhaft? Sollen leicht vergessliche Senioren bereits eine psychiatrische Diagnose bekommen? Der neue amerikanische Diagnosekatalog sieht dies vor - sehr zur Sorge deutscher Fachleute.

Von Christian Weber

Bald wird die Bibel der Psychiatrie in einer neuen Ausgabe erscheinen, und die Diskussionen über eine angebliche Psychiatrisierung der Gesellschaft flammen auf. Im Mai nämlich will die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft (APA) endlich die neueste Ausgabe ihres Diagnosekatalogs publizieren. Unter dem Namen DSM-5 dient er der Forschung als Leitfaden. Er wird auch das kommende Klassifikationssystem ICD-11 der WHO beeinflussen, das im deutschen Gesundheitssystem genutzt wird.

Jetzt warnt die Fachorganisation Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), vor einer Überdiagnostik im DSM-5. Es bestehe die "Gefahr der Pathologisierung von alltäglichen Leidenszuständen sowie von natürlichen Anpassungs- und Alterungsprozessen", heißt es in der Stellungnahme vom Montag, die DGPPN-Präsident Wolfgang Maier, Direktor der Psychiatrischen Klinik der Universität Bonn, verantwortet.

Die Stellungnahme nennt mehrere Beispiele, wo der neue Katalog nach Ansicht der DGPPN die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit in unzulässiger Weise verschiebt: So soll im DSM-5 bereits eine länger als zwei Wochen dauernde Trauer nach einem Todesfall als Depression diagnostiziert werden, wenn sie deren übliche Symptome aufzeigt: Freudlosigkeit, Antriebsstörung, Interesseverlust, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit. Bislang galt hier eine Ausnahmeregelung, weil sich normalerweise 80 Prozent der Trauernden nach wenigen Wochen oder Monaten auch ohne psychotherapeutische Hilfe oder Medikamente von alleine erholen.

Bei allen Menschen lassen mit dem Alter die kognitiven Leistungen nach, insbesondere das Gedächtnis wird schwächer. Es wird beabsichtigt, dass solche Einschränkungen, sobald sie etwas stärker ausfallen, unter der Diagnose "minore neurokognitive Störung" als Krankheit neu eingeführt werden. "Mit dem Krankheitsetikett wird nur die Eigeninitiative der Betroffenen geschwächt", sagt Wolfgang Maier. "Hier ist eher familiäre und soziale Unterstützung gefragt."

Ebenfalls im DSM-5 soll eine neue Diagnose "Substanzgebrauchsstörung" die bisherige Unterteilung in "Schädlicher Gebrauch" und "Abhängigkeit" etwa von Alkohol oder anderen Drogen ersetzen. Die DGPPN-Vertreter halten die bisherige Trennung jedoch für sinnvoller: Bei Abhängigkeit gehe es um veränderte Reaktionsmuster im Gehirn; schädlicher Gebrauch benenne jedoch eher sozial falsches und riskantes Verhalten. Wenn man diese Unterscheidung aufhebe und zugleich - wie vorgesehen - die Diagnose um weiche, stark kulturabhängige Kriterien erweitert, könnten Menschen voreilig als suchtkrank eingestuft werden.

Eine solche Überdiagnostik sei eine Gefahr, die von den APA-Autoren sehenden Auges in Kauf genommen werde, sagt DGPPN-Präsident Maier: "Deren Prämisse ist, wir haben lieber falsch-positive Diagnosen, bevor wir einen wirklich Kranken übersehen." Doch das ist nach Ansicht von Maier eine Rechnung, die zumindest in Deutschland schon aus ökonomischen Gründen nicht aufgehe. Schließlich müsse man bedenken, dass eine Diagnose die Betroffenen zu einer Versorgung durch das medizinische System berechtige, dessen Ressourcen aber gedeckelt seien. Die Folge könnte sein, dass für die tatsächlich psychisch schwer kranken Menschen weniger Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.

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