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Medizin-Skandal Tod in der Schwarzwald-Klinik

Obwohl der Reha-Patient Peter Bosch Epileptiker ist, setzt man ihn in eine Badewanne. Er ertrinkt. Recherchen von stern.de zeigen, dass er von einem fachfremden Arzt behandelt wurde.
Von Wigbert Löer und Oliver Schröm

Der Mann, von dem sie in der Klinik sagen, er habe letztlich selbst Schuld, liegt auf dem Friedhof von Plankstadt, zehn Kilometer westlich von Heidelberg. Ein Grablicht leuchtet ihm, in Metall gefasst, unter Birken. Peter Bosch starb am 30. April 2012 in der Reha-Klinik Klausenbach im Schwarzwald. Er wurde 53 Jahre alt.

Der Entlassungsbericht der Ärzte nennt als Todesursache einen Epileptischen Anfall. Das ist so nicht ganz richtig. Laut Obduktion ertrank Peter Bosch, bei einer Anwendung in einer Wanne. Die Staatsanwaltschaft Offenburg ermittelt. Was Bosch vor einem Jahr widerfuhr und stern.de nun aufdeckt, ist kein Kunstfehler eines Arztes und auch nicht mit menschlichem Versagen zu erklären. Und keineswegs trägt er selbst die Schuld. Peter Bosch, diesen Verdacht nährt sein Tod, wurde auch ein Opfer drastischer Sparmaßnahmen.

Ein hübsches Stück Deutschland


Er hatte sich gewünscht, nach Klausenbach zu kommen, schon 2008 war er fünf Reha-Wochen lang dort gewesen. Klausenbach liegt in einem engen Tal auf 420 Metern Höhe, 40 Autominuten von Offenburg entfernt. Ein herrschaftliches Gründerzeitgebäude, ein grauer Zweckbau für Betten und Behandlungen und ein rot gestrichener Trainingskomplex bilden das Klinik-Ensemble. Die Patienten blicken auf grasbewachsene Hänge, atmen gute Luft und hören das Wasser der Nordrach fließen. Tagsüber tuckern Traktoren vorbei, ziehen Fichtenstämme in Sägewerke. Es ist ein schönes Stück Deutschland, in das der Patient Peter Bosch für einige Wochen zurückkehren wollte.

Bosch war ein Mensch, der Beschwerden und körperliche Einschränkungen früh kennen gelernt hatte. Er erlitt einen frühkindlichen Gehirnschaden.

Doch Bosch schaffte es, sein Leben selbst zu bestreiten. Nach dem Besuch der Sonderschule begann er als ungelernter Arbeiter in einer Wellpappenfabrik in Heidelberg. Er war 15 und wusste, dass diese Stelle seine Chance war. Bis zuletzt bewältigte Bosch den Job zuverlässig, mehr als drei Jahrzehnte lang.

Eine "Fachklinik" ohne entsprechende Fachärzte

Sein Zuhause war eine Einliegerwohnung bei seiner Schwester. Deren Tochter wohnt mit Kindern gleich nebenan. Bosch selbst war ledig geblieben, jedoch als Bruder, Schwager, Onkel und Großonkel Teil der Familie. Manchmal wurde er bekocht, manchmal bekochte er. In der Drei-Generationen-Gemeinschaft hatte er seinen Platz gefunden.

Epilepsie diagnostizierten die Ärzte bereits, als Bosch vier Jahre alt war. Regelmäßig musste er seitdem Medikamente nehmen, immer wieder erlitt er Anfälle. Im Reha-Antrag, den sein Hausarzt ihm schrieb, ist Epilepsie als "Hauptdiagnose" genannt. Als Peter Bosch am 25. April 2012 in der Schwarzwald-Klinik ankam, betrat er eine Einrichtung von vermeintlich höchster Kompetenz. In den Gängen hängen Urkunden, die von steter Qualitätskontrolle künden. In Prospekten und auf seiner Internet-Seite bezeichnet sich das Haus bis heute vollmundig als "Fachklinik für Innere Medizin, Neurologie und Orthopädie". Auf die Patienten warte ein Team aus "Fachärzten für Innere Medizin, Neurologie, Orthopädie, Physikalische und Rehabilitative Medizin".

Peter Bosch konnte nicht ahnen, dass dies mit der Wirklichkeit wenig zu tun hatte.

Anders als behauptet, arbeitete in Klausenbach weder ein Neurologe noch ein Facharzt für Innere Medizin. Den Behandlungsplan für den Neurologie-Patienten Bosch musste ein Orthopäde schreiben – der Vertreter einer Fachrichtung also, die sich mit Gelenken, nicht aber mit Erkrankungen des Nervensystems auskennt.

Planstellen waren unbesetzt

Inzwischen hat die Rehaklinik anders als behauptet nicht mal mehr einen Orthopäden angestellt. Die Selbstbeschreibung als "Fachklinik für Innere Medizin, Neurologie und Orthopädie" ist schlicht Hochstapelei. Einen Chefarzt leistete sich Klausenbach mehr als ein Jahr lang nicht, dessen Arbeit erledigte kommissarisch ein Kollege. Die Stelle des Oberarztes war ebenfalls lange unbesetzt. Erst seit April 2013 kümmert sich wieder täglich ein Neurologe um die Patienten.

Klausenbach gehört keinem privaten Konsortium, mit dem Investoren in der Gesundheitsbranche möglichst viel Geld verdienen wollen. Das 125-Betten-Haus, eine von 1200 deutschen Reha-Kliniken, wird als Teil der "Reha-Zentren GmbH" von der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg betrieben, einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, beaufsichtigt vom Sozialministerium in Stuttgart. Darf es einer solchen Einrichtung um Profitmaximierung gehen? Dürfen immer neue Sparvorgaben erlassen werden, die um jeden Preis einzuhalten sind? Und, auch diese Frage stellt der Fall Bosch: Dient die Medizin inzwischen vielleicht der Ökonomie? Es sollte ja eigentlich anders herum sein.

In Klausenbach wurde damit Geld verdient, dass wenige Ärzte viele Patienten aufnahmen. Das ist ein gängiges Mittel in Reha-Kliniken, wo anders als in Akut-Krankenhäusern die Sachkosten nicht allzu hoch sind. Klausenbach hat weniger als zehn Planstellen. Im April 2012 waren davon einige unbesetzt. "Mit vier freien Arzt-Stellen lässt sich natürlich wunderbar sparen, pro Monat kann das schnell 30000 Euro einbringen", sagt ein langjähriger Mitarbeiter. Jene Mediziner, die noch Dienst taten, hetzten mitunter gestresst durch ihren Arbeitsalltag.

Die Praktikantin zog den Vorhang zu

Wie schon bei seinem ersten Aufenthalt gab der Patient Peter Bosch bereitwillig über seine Epilepsie Auskunft. Immer wieder finden sich in seiner Krankenakte Hinweise auf das Leiden, auf dem Anamnese-Bogen etwa, der Boschs Krankheitsgeschichte erfasst, auf Rezepten, in früheren Befunden und in dem Laborbericht, den die Klinik selbst anfertigen ließ. Es ist zu lesen, dass Bosch sechs Wochen vorher einen Krampfanfall erlitten und deshalb eine Woche im Krankenhaus Schwetzingen verbracht hatte. Bosch gab auch an, dass der letzte Anfall gerade mal eine Woche zurück lag. Eine Woche: Es konnte ihn jederzeit wieder erwischen.

Trotzdem wurde ihm ein Vollbad gewährt. Und als an jenem 30. April um 11.35 Uhr das Wasser 38 Grad warm und 36 Zentimeter hoch in die Wanne eingelassen war, standen nicht etwa zwei kräftige Pfleger bereit, die Bosch beim ersten Anzeichen eines Epilepsie-Anfalls hätten herausziehen können. Es war Lea Witte (Name geändert), eine 19-jährige Praktikantin der Physiotherapie-Schule in Willstätt, die sich um den Mann zu kümmern hatte – allein.

Lea Witte hospitierte seit einigen Wochen in der Klinik Klausenbach. Pro Tag erhielt sie dafür 7,70 Euro. Lea Witte sagte dem Patienten, er solle sich melden, wenn etwas sei. Dann zog sie den Plastikvorhang zu und erledigte andere Arbeiten in der Bäderabteilung, die so weitläufig ist, dass sie nicht jeden Patienten hören konnte. Als Lea Witte nach 17 Minuten den Vorhang öffnete und Peter Bosch mit dem Gesicht zum Wannenboden im Wasser schwimmend vorfand, war es für jede Hilfe zu spät. Die Obduktion des Instituts für Rechtsmedizin der Uniklinik Freiburg ergab als Todesursache "Ertrinken im Rahmen eines epileptischen Krampfanfalls".

"Unverantwortlich", empört sich ein Kollege

Der tragische Tod lag erst ein paar Wochen zurück, als sich die Chefärzte der Reha-Zentren GmbH in der Zentrale in Stuttgart trafen. Jeder im Besprechungsraum wusste, was passiert war, die Empörung war mitunter groß. Manche Chefärzte hofften, dass ein solcher Zwischenfall nun wenigstens dazu nutze, die Sparpolitik zu hinterfragen. Sie warteten gespannt, wie ihre Chefin, die GmbH-Geschäftsführerin Constanze Schaal, sich äußern würde.

Das Wort ergriff dann jedoch einer der Chefärzte. Er sagte, es sei kein Problem, dass einige Stellen einer Klinik nicht besetzt seien, und: Er selbst könne seinen Laden auch mit ganz wenigen Ärzten führen.

"Herr Kollege, was Sie da eben gesagt haben, halte ich für unverantwortlich", empörte sich ein anderer Chefarzt. Zu einer weiteren Diskussion kam es dann nicht, und so führte die Geschäftsführerin Schaal die Versammlung weiter. Es gab ja an diesem Tag auch anderes zu besprechen, die wirtschaftlichen Zwischenergebnisse der einzelnen Kliniken für das Jahr 2012 etwa. Und da, so wurde verkündet, lag Klausenbach auf Platz eins.

Überbelegung war normal


Constanze Schaal war von der privaten Klinikgruppe Waldburg-Zeil zur Rentenversicherung Baden-Württemberg gekommen, sie hatte dort das "Qualitäts-Management" geleitet und galt in der Reha-Branche als engagierte Controllerin, die es verstand, Kosten zu senken.

Hatte aber Klausenbach das nötig? Constanze Schaal wollte sich gegenüber stern.de nicht zur Sache äußern. Ein Fax mit mehreren Fragen der Redaktion ließ sie unbeantwortet. Ein Berater für Krisenkommunikation verwies im Auftrag der Geschäftsführerin auf die laufenden Ermittlungen. Er erklärte, die Klinikgruppe habe "keine Gewinnerzielungsabsicht" und dass "derzeit" in Klausenbach nur 0,25 Arztstellen unbesetzt seien. Der Berater betonte noch, Arztstellen würden "vorsorglich frühzeitig nachbesetzt". Für die Hinterbliebenen des Peter Bosch muss so ein Satz eine Ohrfeige sein.

Doch ein Brief der Geschäftsführerin vom 3. August 2012 verrät, dass die "Antragsituation und die Bewilligungssituation" bei der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg "weiterhin hoch" war. Das heißt, dass Ärzte viele Menschen zur Reha schickten und die Maßnahmen auch genehmigt wurden. Der "Belegungsplan 04/2012" der Klinikgruppe enthält entsprechend prächtige Zahlen: In der Spalte "Auslastung vollstationär" liegen die Werte der einzelnen Kliniken zwischen 94 und 100 Prozent. Auch das 125-Betten-Haus Klausenbach war meistens voll – und oft sogar laut kommissarischem Chefarzt überbelegt. Zusätzliche Patienten kamen dann im früheren Personal-Wohnheim unter. Zudem konnte die Klinik zahlreiche Neurologie-Patienten aufnehmen. Die sind mit einem höheren Tagessatz abzurechnen als etwa Orthopädie-Fälle.

Der Chef war im Urlaub

An einem der vielen kalten Wintertage dieses Jahres sitzt der Kommissarische Chefarzt der Klinik Klausenbach vor Aktenhügeln in seinem sonnendurchfluteten Zimmer. Die Bürokratie sei das Schlimmste, stöhnt Engelbert Kaufmann. Anders als seine Chefin ist Kaufmann zu reden bereit.

Man kann lange mit ihm sprechen über all das, was viele Ärzte heute als Zumutung empfinden. Da ist ein Dossier, das Kaufmann durcharbeiten soll, 100 eng bedruckte Seiten, damit er seine Entlassungsberichte gut formuliert. Da ist das Benotungssystem für Ärzte, von dem seine Bonus-Zahlungen abhängen. Auch die neu eingeführten Leit linien verdrießen ihn. Sie schreiben vor, was dem Patienten X mit der Krankheit Y wie oft zu verordnen ist und grenzen die Behandlungsfreiheit der Ärzte ein.

Kaufmann ist 59, wohnt eine Stunde entfernt am Rhein und fährt nun schon 20 Jahre die kurvige Straße zur Klinik hinauf. Als Peter Bosch starb, war Kaufmann im Urlaub.

Das Gutachten für den Staatsanwalt klingt eindeutig

Danach, erzählt er, habe man die Sache dann gemeinsam mit den Mitarbeitern verarbeitet. Das sei schon hart gewesen damals. "Die Therapeuten machten sich Vorwürfe. Es ging ja darum, wer die Schuld hatte."

Diese Frage stellt auch die Staatsanwaltschaft Offenburg. Sie holte deshalb ein Gutachten der Neurochirurgischen Universitätsklinik Freiburg ein. Das Ergebnis liest sich eindeutig: "Patienten mit aktiven Epilepsien sind grundsätzlich beim Baden oder Schwimmen gefährdet, da ... die Gefahr des Ertrinkens besteht", heißt es in dem Gutachten, und: Weil bekannt war, dass die letzten Anfälle des Patienten nur kurze Zeit zurücklagen, sei "die Verordnung eines Wärmebades mit erhöhtem Risiko verbunden" gewesen. "Ein Zeitraum eines nicht-überwachten Badens von 17 Minuten ist zu lang, um eine Gefährdung auszuschließen."

Klare Worte aus der Klinik


Engelbert Kaufmann kennt das Gutachten nicht. Beinahe tapfer hält er im Gespräch an seiner Sicht der Dinge fest. Fehlende Fachärzte? Die Unterbesetzung seines Hauses? Die Verantwortung einer Klinik für das, was mit ihren Patienten geschieht? Kaufmann argumentiert anders: Der Patient habe das Heublumenbad doch selbst gewollt.

Auch der frühkindliche Gehirnschaden des Peter Bosch bringt den kommissarischen Chefarzt nicht ins Grübeln. "Der war ja nicht geistig behindert. Der war arbeitsfähig wie Sie und ich. Der war kein Dementer, der nichts weiß. Der wusste, dass er Epilepsie hat." Die Schuldfrage: Für den Arzt Kaufmann ist sie klar beantwortet.

In Offenburg arbeitet die Staatsanwaltschaft den Fall auf. In Plankstadt bei Heidelberg hofft Peter Boschs Schwester ein Jahr nach dem Tod ihres Bruders, dass sich durch das Gerichtsverfahren die Zustände an der Klinik im Schwarzwald ändern. "Es muss doch verhindert werden, dass sowas öfter passiert", sagt sie. Wie man in Klausenbach über den Tod ihres Bruders denkt, hat sie entsetzt. "Niemals hätten die ihn in ein Bad setzen dürfen", sagt sie.

In Klausenbach tut seit Kurzem wieder ein richtiger Chefarzt Dienst, er heißt Klaus Schmidtke und ist Neurologe. Schmidkte, so ließ die Geschäftsführerin Schaal ausrichten, werde neue Akzente setzen.

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