Intensivmerkmal "Vitalgefährdung"

  • Hallo zusammen,

    wir diskutieren gerade heftig, ob das Intensivmerkmal "Vitalgefährdung" bei Entzug vergeben werden kann, wenn ein Patient durch eine Festmedikation (zB Benzodiazepine) davor geschützt ist. Unser Chefarzt sagt ja, da ohne die Medikation eine Vitalgefährdung jederzeit möglich sei, unser Chefcontroller sagt nein, da ja durch die Medikation die Gefahr gebannt ist.

    Des weiteren bestehen Unsicherheiten, ob dieses Merkmal vergeben werden kann, wenn jemand einen akuten Entzug macht, aber keine Symptome zeigt. In diesem Punkt bin ich der Meinung, dass die Vitalgefährdung durchaus gegeben werden kann, weil die Gefahr ja immer bestehen kann, auch wenn wir nicht sicher wissen, wie ein Patient tatsächlich reagiert. Wir haben ja schließlich durchaus einen erheblichen Aufwand, wenn wir alle 30 Minuten den Pat. auf Wachheit/Schläfrigkeit/ Entzugssymptome/ Blutdruck/Puls und mehr überwachen und dokumentieren.

    Ich bitte um Eure Einschätzung und Meinung.

    Herzlichen Dank

    Viele Grüße

  • Hallo Stefalex,

    ich würde mich der Meinung Ihres Chefarztes anschließen. Wenn der Patient mit Medikamenten abgedeckt wird damit es nicht zur einer "Vitalgefährdung" bei möglichem Entzug kommt entsteht ja ein Mehraufwand, dann sehe ich das Merkmal als gerechtfertigt an. Zusätzlich muss jedoch auch die Überwachung der Vitalparameter und der Vigilanz engmaschig erfolgen. Aus meiner Sicht würde es ja keinen Sinn machen dem Patienten keine Medikamente zu geben damit die "Vitalgefährdung" bei möglichem Entzug gegeben ist, was ja auch hochgradig gefährlich wäre für die Patienten. Wenn man nach der Meinung Ihres Chefcontrollers gehen würde könnte man das Intensivmerkmal "Vitalgefährdung" komplett aus dem OPS-Katalog nehmen, da kein Behandler den Patienten unnötigen Risiken aussetzen werden wird.

    Es bleibt je doch abzuwarten wie dieses Merkmal vom MDK ausgelegt wird.


    Viele Grüße

  • Hallo Stefalex,

    wenn tatsächlich alle Patienten im halbstündigen Abstand messbar überwacht werden (über welchen Zeitraum eigentlich?), kann man dieses Intensivmerkmal als erfüllt ansehen, denn laut OPS Version ist das Merkmal erfüllt "wenn eine Überwachung der Vitalparameter und der Vigilanz engmaschig erfolgt".

    Ansonsten wäre ich da mehr auf der Seite des Chefcontrollers, denn worin besteht eigentlich die Vitalgefährdung? Oder handelt es nur tatsächlich nur um eine potentielle Gefährdung? Und worin besteht eine Vitalgefährdung bei einem Patienten, der noch nicht einmal Entzugssymptome zeigt??? Erhalten die Patienten in Ihrer Klinik Entzugsmedikamente prophylaktisch???
    In unserem Haus wird dieses Merkmal eigentlich ausschließlich bei deliranten/prädeliranten Patienten eingesetzt, bestenfalls noch bei einer engmaschigen Vitalzeichen- und Vigilanzkontrolle (mind. stündliche Messungen über mind. 12 Stunden) - was aber ausgesprochen selten vorkommt. Bei einer anderen vitalen Gefährdung würden wir den Patienten vermutlich ohnehin in eine somatische Klinik verlegen.

    Keine Ahnung was richtig ist, aber zur Meinungsfindung gibt´s ja dieses Forum ;)

    Schöne Grüße
    Anyway

  • Hallo stefalex und alle anderen,

    zwei Gedanken dazu:
    1) Kodieren Sie z.B. bei einem Diabetiker, der unter Therapie normale BZ-Werte zeigt, den Diabetes nicht? (Grüße an den "Chefcontroller" 8) )

    2) Was steht genau im OPS?
    Das Merkmal sei erfüllt, wenn Vitalparameter und Vigilanz engmaschig überwacht werden.
    ?(?(?(
    Also ist jeder Pat. ungeachtet seiner Symptome vitalgefährdet, wenn er engmaschig überwacht wird? :D8o:/8|

    Es wird wohl implizit unterstellt, dass zunächst die Indikation zur engmaschigen Vitalparameter- und Vigilanzkontrolle gegeben sein muss.
    Wenn das dokumentiert ist, sehe ich keine Gründe, warum das Merkmal nicht erfüllt sein sollte.
    Die Gabe z.B. von Benzodiazepinen und anderen delirprophylaktischen Medikamenten steht dem in keiner Weise entgegen (s. 1) )

    Viele Grüße, KRD :thumbup:

    Gruß,
    KRD :thumbup:

  • Hallo Anyway, hallo Thomas B,

    erst einmal herzlichen Dank für die Antworten.

    Ich schildere am besten mal einen konkreten Fall:
    eine 55 jährige Patientin wurde mit 1,6 Promille und Suizidabsichten mit Handlungsdruck aufgenommen, im Vorfeld ist ein Alkoholmissbrauch bekannt bei bestehender langjähriger Depression. Aus der Anamnese ging hervor, dass diese Patientin in den Wochen unmittelbar vor der Aufnahme exzessiv getrunken habe. Ein Entzugsdelir ist bis dato uns nicht bekannt bzw. nicht aufgetreten. Die Patientin wurde über 48 Stunden zunächst für ca. 15 Std. halbstündlich, dann stündlich auf Entzugssymptomatik, RR/P und Vigilanz überwacht. Sobald sie unter 1 Promille war, bekam sie Diazepam 4x10mg p. o. als Festmedikation plus zusätzlich 5mg im Bedarf bei einer THD von insgesamt 60mg. Der Bedarf wurde in der ganzen Überwachungszeit lediglich einmal gegeben, da die Patientin eine innere Unruhe beklagte und einen feinschlägigen, kaum wahrnehmbaren Tremor zeigte. Es gab weder Blutdruckspitzen, noch Pulserhöhungen, lediglich etwas Schwitzen. Ab dem dritten Tag erfolgten die Kontrollen der Parameter nur noch 2-stündig, da die Patientin nichts "bot". Ab diesem Zeitpunkt habe ich die Vitalgefährdung als Merkmal herausgenommen, da wir für uns diesen zeitlichen Abstand (2-stündig) nicht als engmaschig definiert haben.

    Meine Argumentation in diesem Fall ist die gleiche wie die unseres Chefarztes, da ich ebenfalls der Meinung bin, dass eine zusätzliche Gefährdung des Patienten, in dem man ihn einem möglichen Delir aussetzt, unter gar keinen Umständen sein darf und eine unterlassene Hilfeleistung bedeutet, die strafbar ist.

    In der Regel halten unsere Ärzte es so, dass wenn jemand intoxikiert kommt, sie ein Überwachungs- bzw. Entzugsschema und zumindest eine Benzodiazepinbedarfsgabe anordnen, sollten sich Entzugserscheinungen zeigen. Selten erhält ein Patient eine Festmedikation, es sei denn, im Vorfeld gab es bereits ein Delir oder der Patient ist bekannt und hatte Entzugserscheinungen. Auf unseren Entzugsschemabögen ist genau festgelegt, welches Medikament in welchem Fall und unter welchen Umständen gegeben werden darf und kann.

    Mal sehen, was der MDK sagt.

  • Hallo stefalex,

    ist doch formal alles korrekt gelaufen, wenn die ersten beiden Tage das Intensivmerkmal gesetzt wurde.

    Allerdings - rein praktisch würden mir einige Patienten ins Gesicht springen, wenn sie über 48 Stunden insbesondere nachts stündlich zur RR-Kontrolle geweckt würden...

    Runge-Durst: Ein Diabetiker wird immer mit einem erhöhten BZ reagieren, sobald er kein Antidiebetikum erhält. Im Suchtbereich darf man gerne erst einmal abwarten, ob sich überhaupt Entzugssymptome zeigen, bevor Distra oder Benzos fest verordnet werden - manchmal geht´s nämlich auch ohne. Daher meine (wie ich finde berechtigte) Frage, worin denn die Vitalgefährdung besteht, wenn prophylaktisch mit Entzugsmedikation gearbeitet wird.

    Schöne Grüße
    Anyway

  • Hallo,

    Zwei kleine Anmerkungen:

    • Es gibt (auch in der Somatik) einen kodiertechnischen Unterschied zwischen der Therapie einer chronischen Erkrankung und der Prophylaxe eines aktuten Ereignisses oder Symptoms.
    • Das Merkmal "Vitale Gefährdung" ist sicherlich nicht sehr exakt. Ein somatischer Intensivmediziner wird hier sicherlich andere Grenzen setzen, als dies in der Psychiatrie geschieht. Dies wurde hier aber auch schon diskutiert.

    Gruß

  • Hallo nochmal,

    das Diabetes-Beispiel sollte als Analogie dienen, auf deren Basis sich eine Begründung - neben anderen möglichen - für die Angabe des Merkmals der Vitalgefährdung unterstützend ableiten ließe.

    Es gibt ja auch in den DKR die Festlegung bzgl. der Berücksichtigung einer Diagnose als Verdachtsdiagnose - auch nur eine Analogie.
    Bei vermuteter / wahrscheinlicher Vitalgefährdung und spezifischer Behandlung => Ressourcenverbrauch, ist diese dann verwertbar im Sinne des Merkmals - wie im Beispiel von stefalex.

    Es geht hierbei nicht nur um die konkrete Manifestation vital bedrohlicher somatischer Komplikationen, sondern eben um die Einschätzung des behandelnden Psychiaters, dass solche Komplikationen sich entwickeln könnten und der daraus resultierenden Ressourcen verbrauchenden Anordnung der engmaschigen Überwachung der Vitalparameter.
    Auch wenn sich keine reale Manifestation ergibt (soll sie ja auch nicht), ungeachtet ob mit oder ohne Benzos etc., besteht die Gefährdung ja dennoch.

    Ich hoffe, ich habe es jetzt besser formuliert.

    Gruß, KRD :thumbup:

    Gruß,
    KRD :thumbup: