Die Rationierung hat bereits begonnen

Eine breite und offene Debatte über das Thema Rationierung im Gesundheitswesen ist dringlich.

Margrit Kessler, Patientenschützerin
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Das BAG entscheidet und rationiert ganz offiziell, wer Sovaldi erhält und wer nicht. (Bild: Keystone)

Das BAG entscheidet und rationiert ganz offiziell, wer Sovaldi erhält und wer nicht. (Bild: Keystone)

Die Diskussion über die Kostenfrage in unserer Gesundheitsversorgung mit immer teurer werdenden Medikamenten und Behandlungen wird zurzeit noch nicht öffentlich geführt, aber im stillen Kämmerlein hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) bereits mit der Rationierung begonnen. Man nennt es im Fachjargon etwas nobler «Limitatio». Die neuen Medikamentenpreise sind übertrieben hoch, ja geradezu unanständig. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Rede von Roche mit Perjeta, Novartis mit Lucentis, Biogen mit Tecfidera oder Gilead Sciences mit Sovaldi ist. Die Preise haben sich in den letzten Jahren nicht verdoppelt, sondern vervielfacht.

Die Pharmaindustrie erzielte auch im Jahr 2013 gigantische Gewinne. Der Gewinn bei Roche wuchs nach IFRS um 22 Prozent auf 11,4 Milliarden Franken. Novartis präsentierte einen Reingewinn von 10,9 Milliarden US-Dollar. Biogen konnte den Gewinn dank Tecfidera um 57 Prozent auf 457 Millionen US-Dollar erhöhen. Gilead Sciences berichtet, dass Sovalid in den USA und in Europa schon 80 000 Mal verschrieben wurde. Der Nettogewinn von Gilead Sciences im zweiten Quartal 2014 betrug 3,66 Milliarden US-Dollar.

Behörde entscheidet nach ökonomischen Kriterien

Die Pharmafirmen sprengen mit ihren Preisen die Budgets der Gesundheitswesen. Die Zeit ist gekommen, dass wir uns nicht mehr alles leisten können. Die Folgen sind offensichtlich, in der Schweiz hat die Rationierung begonnen.

Bei einer Interferon-Behandlung gegen Hepatitis C treten in der Regel grippeähnliche Nebenwirkungen als Symptome auf. Selten kann es zu schwerwiegenden Komplikationen wie Depressionen, Autoimmunkrankheiten oder Infektionskrankheiten kommen, weshalb die Therapie nicht für alle Patienten geeignet ist. Ein Lichtblick ist das neue Medikament Sovaldi. Doch ist es so teuer, dass wir es nicht allen betroffenen Patienten zur Verfügung stellen können. Eine Packung mit 28 Pillen kostet 19 208 Franken 50, und sie müssen drei Monate lang eingenommen werden, wobei noch weitere Medikamente dazukommen. Eine Behandlung kostet inklusive der nötigen Kombinationsmedikamente pro Patient etwa 80 000 Franken. In der Schweiz leben 70 000 bis 80 000 Menschen mit Hepatitis C. Wollen wir alle diese Patienten mit Sovaldi sowie den Kombinationsmedikamenten behandeln, kostet uns das über sechs Milliarden Franken. Mit diesem Betrag könnten wir drei Gotthardröhren bauen.

Deshalb entscheidet und rationiert das BAG ganz offiziell, wer Sovaldi erhält und wer nicht – und zwar ohne dass ein Arzt eine Schlüsselfunktion im Team innehat. Das BAG hat den ökonomischen Entscheid getroffen, dass die Therapie nur diejenigen Patienten erhalten, die eine Leberzirrhose, d. h. eine schwer geschädigte Leber, haben. Die Krankenkassen müssen die teuren Behandlungen in der Grundversicherung nur dann bezahlen, wenn der Patient bereits schwer erkrankt ist. Was bedeutet das? Indirekt verordnet das BAG z. B. einer Person, die an einer Leberzirrhose leidet und zusätzlich drogenabhängig ist, das Medikament Sovaldi. Eine Pflegefachfrau, die sich an ihrem Arbeitsplatz mit einer infizierten Spritze angesteckt hat, erhält Sovaldi hingegen nicht, da sie noch nicht an einer Leberzirrhose erkrankt ist.

Laut Fission-Studie sprechen Patienten mit einem Leberschaden in fortgeschrittenem Stadium nur zu 47 Prozent auf die kombinierte Therapie an. Gemäss Studie wurde hingegen bei der Behandlung mit Sofosbuvir plus Ribavirin beim Hepatitis-C-Virus Genotyp 2 ein anhaltendes virologisches Ansprechen von bis zu 97 Prozent festgestellt. Somit läge die Heilungschance bei dieser Patientengruppe bei nahezu 100 Prozent.

Kosten «tief» halten

Es ist mir bewusst, dass es sich um ein heikles Thema handelt und dass sich damit niemand die Finger verbrennen will. Doch die Reaktionen von Patienten, die das Medikament nicht erhalten, zeigen, dass grosser Informations- und Diskussionsbedarf besteht. Aus meiner Sicht ist das Vorgehen des BAG inakzeptabel und unverantwortlich, weil nicht medizinische, sondern ökonomische Kriterien im Vordergrund stehen. Es ist unverständlich, dass für solch wichtige Entscheide im BAG nicht auf einen Arzt zurückgegriffen werden kann. Es wäre essenziell, dass diese wichtige Schlüsselstelle des BAG mit einem Arzt oder einer Ärztin besetzt würde. Aufgrund der heute gültigen Kriterien werden nicht die Kranken behandelt, die am meisten profitieren könnten, sondern die Patienten, die die kleinste Gruppe ausmachen, damit die Kosten «tief» gehalten werden können, obwohl nur 47 Prozent dieser Gruppe auf diese Therapie ansprechen.

Es ist dringend nötig, dass eine breite und offene Diskussion über das Tabuthema Rationierung im Gesundheitswesen stattfindet. Denn noch teurere Medikamente sind in der Pipeline der Pharmaindustrie, wie z. B. Harvoni, das auch in den USA bereits für Hepatitis-C-Infizierte zugelassen ist und mit dem eine Zwölfwochentherapie 94 500 US-Dollar kostet. Wir müssen dringend gemeinsam nach fairen Kriterien suchen.

Margrit Kessler ist Präsidentin der Stiftung SPO-Patientenschutz und Nationalrätin (glp., St. Gallen).