Am zehnten Jahrestag der Hartz IV-Reformen ist in erster Linie von den Auswirkungen der rot-grünen Politik auf dem Arbeitsmarkt die Rede. Häufig geht es um soziale Ungleichheit und Gerechtigkeitsfragen. Doch selten gehen die Analysen über das Feld der Beschäftigungspolitik hinaus. 2014 heißt nicht nur 10 Jahre neoliberale Arbeitsmarktpolitik. 2014 war auch ein Jahr, das nahezu monatlich von gesellschaftlichen Debatten um Sterbehilfe und Pränataldiagnostik durchzogen war. Debatten, deren Ursprünge auch auf maßgebliche Entscheidungen der Regierung Gerhard Schröders zurückzuführen sind.
Mit der Gesundheitsreformgesetz der rot-grüne Koalition setzte die Ökonomisierung des Gesundheitswesens ein. Hinter den Fachbegriffen Praxisbudg
iffen Praxisbudget und diagnosebezogener Fallpauschale steckt die Veränderung der Finanzierung von medizinischen Leistungen. Ab dem 1. Januar 2004 wurden sämtliche Leistungen der Krankenhäuser standardisiert und pauschal vergütet. In den Jahren zuvor hatte der pauschalierte Anteil nur etwa 25 Prozent der Krankenhauskosten umfasst. Hinter den Fallpauschalen steht der Versuch der Politik, einen ökonomischen Anreiz für kürzere Behandlungszeiten zu schaffen. Genesungsprozesse wurden fortan an ihrer Wirtschaftlichkeit gemessen, Krankenhausbetten wurden zu Einnahmequellen. Krankenhäuser und Sozialstationen sind im Umkehrschluss zu regelmäßigen Qualitätsberichten verpflichtet worden, um sicherzustellen, dass die Qualität der stationären Versorgung nicht unter dem ökonomischen Druck leidet. Sozialträger und behandelnde Ärzte hatten somit einen Bewertungskatalog zur Hand, die bundesweit geltenden Mindestanforderungen für die Krankheitsbehandlung zu überprüfen. Die Qualität der medizinischen Leistung wurde jedoch verstärkt an Quantität gekoppelt, schließlich waren die jährlichen Operationszahlen und die technische Ausstattung der Einrichtungen ausschlaggebend in der Standortkonkurrenz. Das angestrebte Qualitätsmanagement zur Gewährleistung hoher Qualität führte zu einem Wettbewerb und versetzte einzelne Gesundheitseinrichtungen in den ökonomischen Kampf um Kundschaft. Im Rahmen der Gesundheitsreform wurden die Gesundheitsprävention und -förderung zu vorrangigen Aufgabenfeldern der Krankenkassen. Als Messzahl für die Ausgaben der Krankenkassen für Präventionsmaßnahmen veranschlagte der Gesetzgeber 2001 einen grotesk niedrigen Betrag von 2, 56 Euro pro Versichertem und beschloss zugleich einen Rechtsanspruch der Versicherten auf gesundheitsfördernde Leistungen. In diesem Zuge wurden die Krankenkassen gegenüber den Versicherten deutlich gestärkt. Die Versicherungsmitglieder wurden zunehmend zu Kunden und Konsumenten der Angebote für Gesundheitsprävention. Für das Verhalten der "Krankenkassenkunden" bedeutete das, besser eigenverantwortliche Gesundheitsprävention zu betreiben, um das Risiko zu erkranken, weitgehend zu minimieren. Davon zeugen das rasante Wachstum der Wellness- und Fitnessbranche und die mittlerweile weit verbreiteten Präventionsboni der Krankenversicherungen. Generali Versicherungen versprach 2014 als erste private Krankenversicherung Vorteile für ihre Mitglieder, wenn diese ganz freiwillig ihre Gesundheitsdaten in regelmäßigen Abschnitten via App der Versicherung übermitteln. So könne das Gesundheitsverhalten der einzelnen Versicherten permanent überprüft und gegenebenfalls monetär belohnt werden. Das heißt im Umkehrschluss, gesundheitsschädliches Verhalten zu bestrafen und entsprechende Versicherungsleistungen zu verwähren. Die Verantwortung für die Gesundheit zu sorgen liegt damit in erster Linie beim Individuum. Denn wer sich wissentlich schlecht ernährt und keinen Sport treibt, hat in diesem Szenario kein Anrecht mehr auf finanzielle Unterstützung im Krankheitsfall. Die Solidargemeinschaft ist längst zur Gesundheits-Diktatur verkommen, die über das Verhalten ihrer Mitglieder wacht.Das Verständnis von Gesundheit und Krankheit wurde im Zuge dieser Entwicklung gravierend verändert. Sie werden heute an Bedingungen geknüpft: Krank ist, wer nicht ausreichend präventive Untersuchungs- und Behandlungsmaßnahmen in Anspruch genommen hat. Wer die technischen Möglichkeiten nicht nutzt und krank wird, ist für diese Krankheit, und letztlich die entstehenden Kosten, selbst verantwortlich. Gesund ist, wer auf Grundlage des wachsenden Wissens über den Körper und Krankheiten alles technisch Mögliche unternimmt, um die eigene Gesundheit zu erhalten. Daraus folgt, dass mit zunehmenden technischen Möglichkeiten auch die Verantwortung des Einzelnen wächst, diese Techniken in Anspruch zu nehmen.Durch den technischen Fortschritt werden die Grenzen zwischen Leben und Sterben, Gesundheit und Krankheit verschoben und müssen permanent neudefiniert werden. Das zeigt sich an Gesetzesvorschlägen zur Sterbehilfe, der steigenden Akzeptanz der Pränataldiagnostik für schwangere Frauen und den Offerten von Facebook und Google, die weiblichen Biografien durch Social Freezing arbeitgeberfreundlich zu steuern um Fortpflanzung und Arbeitskraft zu harmonisieren. Im Sinne des Fordern und Förderns geht es darum, den Zeitpunkt der Schwangerschaft mit der Unternehmensführung abzusprechen. Wer sich nicht an etwaige Vereinbarungen und Angebote hält, ist mitunter für berufliche Konsequenzen eigenverantwortlich. Social Freezing wird als Plädoyer der Freiheit und der Autonomie der selbstbestimmten Frau verkauft. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis dies als Selbstverständlichkeit. Dass technische Neuerungen darüber hinaus Einfluss auf die Einstellung schwangerer Frauen zu dem ungeborenen Leben haben zeigte bereits 2006 eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Damals ließen bereits 85 Prozent der schwangeren Frauen pränataldiagnostische Untersuchungen vornehmen. Weit mehr als die Hälfte begründete das mit dem "Ausschluss von Fehlbildungen des Kindes". Von 2006 bis 2013 gab es laut statistischem Bundesamt eine Steigerung von Spätabtreibungen um rund 300 Prozent. In Deutschland ist es legal, ein Kind mit der Diagnose einer Behinderung bis zur Geburt abzutreiben. Dies wird sicherlich nicht zu Unrecht mit der Selbstbestimmung der Frau und ihrem gesundheitlichem Wohl begründet. Die jeweilige Entscheidung der werdenden Mütter kann und darf nicht pauschalen und moralischen Bewertungen obliegen. Dennoch bleiben die meisten Diskussionen an dieser Stelle stehen.Wichtiger ist es, festzustellen, dass wir uns in dem Versuch, das Leben eines behinderten Kindes mit der Autonomie der werdenden Eltern abzuwägen, bereits weit von originären freiheitlichen Werten entfernt haben. Still und heimlich wohlbemerkt. Entscheidungen bezüglich Gesundheit und Fortpflanzung geschehen heute vor dem Hintergrund ökonomischer Effizienzlogik. Die werdende Mutter entscheidet sich nicht wie oftmals angenommen freiheitlich und selbstbestimmt für oder gegen ein behindertes Kind, sie ist wie alle Subjekte im Gesundheitswesen den Leistungs- und Optimierungszwängen unterworfen. Freiheit schlägt an dieser Stelle in Zwang um. Müssen sich Eltern von Kindern mit genetischen Behinderungen mitunter bald rechtfertigen, wenn sie diese Kinder dennoch leben lassen? Es klingt nicht abwegig, dass die Kosten für die Behandlung behinderter Kinder nicht länger von der Solidargemeinschaft getragen werden, wenn die Behinderung des Kindes bereits vor der Geburt bekannt und eine Abtreibung möglich war? Und was bedeutet dieser Mentalitätswandel für die Menschen, deren Behinderungsursache nicht vorgeburtlich bestimmbar war. An dieser Stelle endet womöglich in absehbarer Zeit auch jedes Gebot der Inklusion. Gerhard Schröders Ausspruch des "Fördern und Forderns" war zwar vorrangig an alle Arbeitnehmer gerichtet, um klar zu stellen, dass jeder Einzelne für Auf- und Abstieg im Arbeitsleben selbst verantwortlich ist. Damit ist zwangsläufig die Gesundheit als Voraussetzung für Leistung und Arbeitskraft dem Optimierungsgebot unterworfen. Die psychischen Erkrankungen Depressionen und Burnout stellen die traurige Kehrseite dieser Effizienzsteigerung dar. Persönliche Gesundheit erscheint in der simulierten Freiheit nicht länger als vollkommene Funktionsfähigkeit des Körpers. Gesundheit ist heute an einen Verantwortungsimperativ gekoppelt, Sorge für die möglichen Kosten einer Krankheit zu tragen. Wir antizipieren ein Risiko für die zukünftige Gesundheit und halten uns dazu an, alles zu unternehmen, dieses Risiko zu minimieren. Durch Vorsorgeuntersuchungen, sportliche Ertüchtigung und gesunde Ernährung. Immer klingt das Risiko nach, krank zu werden, obwohl wir es doch hätten besser wissen müssen.