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Wirtschaft (Print WAMS) Serie Digitalisierung, Teil 2

Virtuelle Visite

Korrespondent Europäische Wirtschaft
Ärzte sollen bei widrigen Bedingungen Seenot-Opfer per Telemedizin behandeln – ein Versuch, von dem auch Menschen an Land profitieren

Es ist vier Uhr nachmittags, und Matthias Tetzlaff geht es schlecht. Der Maschinist hat starke Schmerzen im Oberkörper. Es fühlt sich an, als würde ein Elefant auf seiner Brust herumtrampeln. Das sind Symptome eines Herzinfarkts, jetzt ist rasche Hilfe nötig. Das Problem: Tetzlaff ist in der Messe eines Schiffs, das auf See vor der mecklenburgischen Küste kreuzt. Die Besatzung wird es nicht schaffen, schnell in den nächsten Hafen zu kommen.

Tetzlaff ist Maschinist auf dem Seenotkreuzer „Arkona“. Er simuliert nur – im Dienste der Medizin. Zum ersten Mal soll heute ein Arzt per Video und Internet auf einen Rettungskreuzer auf hoher See zugeschaltet werden. Die Technik soll bald auf allen Seenotkreuzern der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) eingebaut werden, damit in Zukunft bei widrigen Bedingungen Notärzte aus der Ferne die Behandlung auf hoher See koordinieren können.

Das Projekt ist deshalb so wichtig, weil es eine Lösung für eines der drängendsten Probleme unserer Zeit liefern kann – den demografischen Wandel. Die Bevölkerung der westlichen Welt schrumpft und altert unaufhaltsam. Viele Experten hoffen darauf, dass die digitalisierte Medizin helfen kann, uns länger gesund zu halten und eine alternde Gesellschaft besser und kostengünstiger zu versorgen. Zu den neuen Möglichkeiten gehört auch die Telemedizin: die Diagnose und Behandlung aus der Ferne.

Die „Arkona“ ist für den Probelauf von ihrer Station in Warnemünde sechs Seemeilen oder umgerechnet elf Kilometer aufs hohe Meer gefahren und schaukelt jetzt leicht im Wellengang. Simulant Tetzlaff ist für den Test vorbereitet: Wäre er tatsächlich ein Infarktopfer, würde er vermutlich am Boden der Kabine liegen. Tatsächlich aber sitzt er auf einer Eckbank und ist schwer verkabelt: Um den linken Oberarm trägt er eine Manschette zum Messen des Blutdrucks, am Zeigefinger befindet sich eine Klammer, die mit Licht die Sauerstoffsättigung des Blutes misst, und auf dem freien Oberkörper kleben zehn Pflaster mit Sensoren zur EKG-Messung. Die Kabel enden in einem taschenbuchgroßen Gerät, das vor Tetzlaff auf dem Tisch liegt: Die Diagnoseeinheit wertet die Signale aus, die vom Körper des Maschinisten kommen, und sendet sie an einen robusten Laptop, auf dem ein Programm zur Ferndiagnose und Behandlung läuft, das Tetzlaffs Zustand mit Kurven und Zahlen abbildet.

Pünktlich um vier Uhr nachmittags drückt die Besatzung auf einen Knopf am Laptop – und kurz darauf erscheint in der oberen linken Ecke ein Videobild von Markus Gondert. Der Notarzt sitzt 200 Kilometer entfernt in der Rettungsstelle des Unfallkrankenhauses Berlin (UKB) und winkt fröhlich in die Kamera. Die sechs Besatzungsmitglieder und Techniker, die sich um den Tisch quetschen, lachen. In der Messe ist ein Aufatmen zu spüren; dieser Teil des Tests hat schon mal geklappt. Erst wenige Tage zuvor hatte der Netzbetreiber Coast-Link eine Antenne installiert, über die der Kreuzer mit schneller DSL-Geschwindigkeit online gehen kann. Und erst vor wenigen Stunden hat die Besatzung die Verbindung im Hafen getestet. Ob sie allerdings hier auf hoher See funktionieren würde, war bisher unklar.

Wenn die Seenotretter zu einem medizinischen Notfall auf See gerufen werden, nehmen sie, wenn möglich, einen Arzt mit, denn die Retter sind vor allem Seemänner und keine Mediziner. Sie sind zwar zusätzlich in Notfallmedizin ausgebildet, können Zugänge legen oder einen Patienten intubieren. Aber sie haben nicht die Ausbildung, medizinische Fälle auf hoher See zu behandeln, wie etwa ein Rettungssanitäter. Doch gerade bei heiklen Situationen und Behandlungsmethoden ist die Besatzung darauf angewiesen, dass der Arzt die Behandlung anordnet. „Wir sind auch nur Menschen“ sagt Besatzungsmitglied Kurt Tonn. „Wenn der Arzt sagt, dass er eine Infusion braucht, dann ist das für uns auch aufregend. Wir funktionieren dann irgendwie.“

Trotzdem kommt es vor, dass die Retter medizinische Hilfe leisten müssen und kein Arzt an Bord ist. Etwa, wenn das Schiff ohnehin vor der Küste kreuzt und von dort zu einem Fall gerufen wird, wenn beim Ausrücken gar nicht klar ist, ob ein medizinischer Notfall vorliegt, oder wenn sich der medizinische Notfall erst entwickelt, während die Retter auf dem Weg sind. In solchen Fällen wird häufig ein Arzt im Hubschrauber nachgeschickt und auf den Rettungskreuzer abgeseilt. Allerdings kann das eine Stunde und länger dauern, und bei widrigen Bedingungen wie Sturm und Nebel fliegen die Hubschrauber gar nicht.

Jüngst mussten die Seenotretter ausrücken, weil alle sechs Männer an Bord eines Segelschiffs an schwerer Seekrankheit litten. Als die Retter das führungslos treibende Segelschiff ins Schlepptau nahmen, passierte ein Unfall: Eine Leine schlug einem der Segler ins Gesicht, zerschlug seine Brille, und die Glassplitter verletzten sein Auge. In ihrer Not behalfen sich die Retter damit, ein Kotelett aus der Tiefkühltruhe auf das Auge des Patienten zu legen, um seine Schmerzen zu lindern. Mit einem Video-Link zu einem Notarzt hätten sie möglicherweise mehr tun können.

Die nötigen Technologien für solche Einsätze gibt es bereits länger, sagt Trong-Nghia Nguyen-Dobinsky. Er ist der geschäftsführende Gesellschafter des Unternehmens GHC Global Health Care, das die Telemedizin-Anwendung seit 2006 entwickelt und in den vergangenen Jahren so robust gemacht hat, dass sie jetzt einsetzbar ist. „Die größte Herausforderung ist aber nicht mehr die Technik, sondern die Organisation der telemedizinischen Betreuung durch einen Facharzt“, sagt der Medizin-Informatiker. Denn damit GHC in den wenigen, aber kritischen Notfällen jederzeit einen Arzt online schalten kann, müssen zu jeder Tages- und Nachtzeit mindestens zwei Ärzte verfügbar sein, falls zwei Notrufe gleichzeitig eintreffen sollten. Dafür kooperiert die Firma mit der Berliner Charité und dem UKB.

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Damit sich das Geschäftsmodell rechnet, muss das System auf mindestens 100 Schiffen installiert sein. Der virtuelle Arzt kann auch auf Kreuzfahrtschiffe geschaltet werden, auf Polarstationen, abgelegene Baustellen und Flugzeuge – überall dorthin, wo ein Arzt nicht schnell zum Patienten in Lebensgefahr gelangen kann. „Wir können das System beispielsweise auch einsetzen, wenn der Kapitän eines deutschen Frachters, der vor der japanischen Küste kreuzt, plötzlich zusammenbricht“, sagt Dobinsky.

Ob der Patient ansprechbar sei, will Dr. Gondert derweil von der Besatzung der „Arkona“ wissen. „Sprechen Sie ihn bitte an. Spricht er zurück?“ Ob der Patient atme, ob der Puls funktioniere. Dann bittet der Arzt darum, dass Dobinsky mit der Webcam ein Foto vom Auge macht und das Bild verschickt. So kann der Arzt eine Diagnose stellen und später Anweisungen für die Behandlung geben.

Dass die telemedizinische Diagnose und Behandlungsanleitung rechtlich zulässig ist, hat sich GHC in einem Gutachten bestätigen lassen. Grundsätzlich nämlich verbietet das sogenannte Fernbehandlungsverbot in den Berufsordnungen, dass Ärzte Patienten hierzulande ausschließlich über Datenleitungen behandeln. Doch die Politik setzt große Hoffnungen in die Telemedizin, und deshalb soll sie künftig auch für Routinebehandlungen und chronische Krankheiten eingesetzt werden können. Weil viele Haus- und Fachärzte in den Ruhestand gehen und ganze Landstriche von medizinischer Unterversorgung bedroht sind, könnte die Online-Visite die medizinische Betreuung in vielen Regionen sichern. Die Befürworter hoffen vermutlich auch auf niedrigere Kosten durch die Fernmedizin.

Die technischen Voraussetzungen für die breite Nutzung sind gegeben, aber Datenschutzbedenken und Verteilungskämpfe sorgen bisher für Stillstand. Seit Jahren etwa streiten sich die Ärzteschaft und die Kassen darüber, ob und wie telemedizinische Behandlungen abgerechnet werden sollen. Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) will sich das Verzögern und Vertagen nicht mehr mit ansehen: Im Januar veröffentlichte sein Ministerium den Entwurf eines sogenannten E-Health- Gesetzes, das auch die Telemedizin regeln soll. Darin ist ein Zeitplan für die Einführung der Telemedizin vorgesehen, zudem sieht es Strafen für Blockierer und Belohnungen für Ärzte und Kassen vor, wenn sie mitmachen.

Allerdings wird der Gesundheitsminister auch die Patienten überzeugen müssen, die nicht nur Angst um die Sicherheit ihrer Daten haben, sondern auch fürchten, den Kontakt zu ihrem Arzt zu verlieren. Die Verfechter der Telemedizin werben denn auch für die neuen Technologien damit, dass sie nur als Ergänzung zur Behandlung gedacht sind.

Wie wichtig der persönliche Kontakt bei der Behandlung ist, davon können auch die Seenotretter berichten. Jüngst mussten sie eine hochschwangere Frau mit schweren Komplikationen von Borkum aufs Festland transportieren. Während der Fahrt musste der untersuchende Arzt der jungen Frau mitteilen, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr Kind verlieren werde. Die Patientin bekam daraufhin einen Nervenzusammenbruch.

Wochen später schrieb die junge Frau einen Brief an die Besatzung des Bootes: Das Kind und sie selbst seien wohlauf; ein Mitglied der Besatzung habe ihnen beiden das Leben gerettet. Der Retter habe sich neben sie gekniet und gefragt, ob sie gern einen Kaffee wolle, ob schwarz oder mit Milch, da habe sie sich plötzlich aus all den negativen Gedanken in ihrem Kopf befreien können. Das habe ihr Kraft gegeben. „Ihr Zuspruch“, schrieb sie, „hat unsere beiden Leben gerettet.“

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