Macht klare Ansagen: Klinik-Chef Jürgen Graf Foto: Peter Petsch

Erst hat er den größten Umzug in der Geschichte des Klinikums Stuttgart zu stemmen. Danach will sich Jürgen Graf vor allem um die Qualität kümmern. Transparenz ist dabei das höchste Gebot des 44-Jährigen.

Stuttgart - Der Weg, den Jürgen Graf zum Klinikum Stuttgart genommen hat, ist kein gewöhnlicher. Aus dem Klinikalltag eines Oberarztes brach er aus, um bei der Lufthansa die Position als Leitender Arzt im medizinischen Dienst zu übernehmen. Der Schritt vom Arzt aus Leidenschaft in Universitätskliniken in ein straff strukturiertes Dax-Unternehmen hinein war ein Kulturschock. „Ich war ein begeisterter Arzt, und es war nicht mein Lebensziel, auf die administrative Seite zu wechseln“, sagt Graf beim Redaktionsbesuch.

Doch auch der nächste Schritt von der Betriebsmedizin zum Klinischen Direktor eines Klinikums mit Maximalversorgung scheint ungewöhnlich. Der 44-Jährige ist es nicht gewohnt, Bruchlandungen hinzulegen. Bisher ging seine berufliche Laufbahn steil nach oben. So ist es nicht ausgeschlossen, dass er Stuttgart nur als Zwischenlandung für seine weitere Karriere sieht.

Dafür spricht der jugendliche Eindruck, den der neue Klinische Direktor als Gast in der Redaktion macht. Er erfüllt rein optisch nicht das Bild, das sich der ein oder andere von einem Klinischen Direktor gemacht hat. Auf seiner Nase sitzt eine runde Harry-Potter-Brille, Sommersprossen zieren sein Gesicht, und beim Lachen bilden sich Grübchen. Doch zu jung sei er für die vor ihm liegende Aufgabe nicht, hält er diesem Eindruck sofort entgegen. Graf macht unmissverständlich deutlich: Er ist ein Macher, ein Entscheider. Auf Dauer war es ihm zu wenig, sich mit dem „Einzelerfolgserlebnis des Heilens, Helfens und Betreuens“ zufriedenzugeben. Er will mehr bewirken – für die Patienten und für das Klinikum Stuttgart. Hört man Graf zu, merkt man, dass er noch viel vorhat. „Wenn man die Perspektive wechselt, kann man einen ganz anderen Hebel ansetzen.“

Ob sich Graf als Überflieger des Klinikums präsentieren kann, wird sich schon in den nächsten Wochen zeigen. Denn nachgerade einmal vier Monaten im Amt muss er mit dem größten Umzug in der Geschichte des Klinikums seine Feuerprobebestehen. Frauenklinik und Olgahospital ziehen unter ein Dach im Neubau amStandort Katharinenhospital – und das bei laufendem Betrieb. Doch Graf gibt sichentspannt: „Das wird eine große Anstrengung, aber es wird alles gut werden“, sagt er. Im Klinikum Stuttgart ist er seit Jahresbeginn für Qualitätssicherung und Weiterentwicklung der medizinischen und pflegerischen Versorgung der Krankenhäuser zuständig. Er ist die Schnittstelle zwischen Geschäftsleitung und Chefärzten und muss das Spannungsfeld zwischen wachsendem Kostendruck und Qualitätssicherung beherrschen.

Bei dem Thema Qualität beginnen seine Augen hinter der Harry-Potter-Brille zu leuchten. Denn auch hier schwimmt er gegen den Strom in seiner Branche: Das System, mit dem die Leistung der Krankenhäuser finanziert wird, hält er nicht für sinnvoll. „Wir arbeiten in einem Refinanzierungssystem, das für einen Fall bezahlt und nicht für den Erfolg oder dafür, in welcher Qualität eine Leistung erbracht wurde“, kritisiert er. Das sei „ein feindliches Umfeld für jeden, der etwas verbessern will“. Das Entgeltsystem, das Graf an den Pranger stellt, wurde vor zehn Jahren eingeführt. Mit diesem Vergütungssystem werden Krankenhausleistungen nach Fallpauschalen finanziert. „Dieses System wurde nicht eingeführt, weil es ein pfiffiges Abrechnungssystem ist, sondern einzig mit dem Zweck, Krankenhausbetten abzubauen und Kliniken zu reduzieren“, sagt der Klinische Direktor.

Damit spricht er ein Problem an, das auch die Region Stuttgart betrifft. Graf ist überzeugt davon, dass im Gesundheitswesen eigentlich genügend Geld zur Verfügung steht. Es müsse nur durch eine intelligente Steuerung umverteilt werden. In der Region Stuttgart ist die Verteilung der Krankenhäuser nicht nur an dem Bedarf der Bürger orientiert. „Es sollte nach Versorgungsnotwendigkeit gehen und nicht darum, welcher Landrat sich ein Krankenhaus wünscht“, sagt Graf und legt damit den Finger in die Wunde: „In der Region Stuttgart herrscht eine drastische Überversorgung, und das ist nicht gesund.“ Und an dieser Stelle schließt sich für ihn der Kreis. Denn wenn die Kliniken nach einem System finanziert würden, das die Qualität ihrer Leistung bewertet, würden nur die besten Kliniken überleben.

Aber traut sich Graf auch zu, sich mit dem Klinikum Stuttgart dem Qualitätswettbewerb zu stellen? Die Antwort kommt prompt: „Ja.“ Die Qualität des medizinischen Fortschritts könne abgebildet werden, und dies soll laut Graf auch für den Patienten offengelegt werden. So dass der Patient in Zukunft anhand von Daten und Fakten selbst erkennen kann, welches Krankenhaus für ihn das beste ist. Graf nimmt auch kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, wer diesen Schritt vollbringen muss: „Diese Form von Qualitätsmanagement in der Medizin wird es erst dann geben, wenn es eine Bundesgesetzgebung dafür gibt.“ Seine Botschaft ist klar: Das Klinikum scheut sich nicht davor, die Qualität seiner Leistungen transparent zu machen. Doch für die erbrachte Leistung soll das Krankenhaus auch bezahlt werden.

Dabei bringt es ihn auch nicht aus der Fassung, dass eine kürzlich veröffentlichte Patientenumfrage der Techniker-Krankenkasse die Häuser des Klinikums nicht auf die ersten Ränge im Stuttgarter Vergleich wählte. „Ich sehe unsere Kliniken auf den ersten Plätzen“, sagt er selbstbewusst. Dennoch nehme er die Umfragen ernst und werde nach ausführlicher Prüfung der Ergebnisse auch Konsequenzen ziehen.

Die Patientenzufriedenheit und natürlich auch ihre Sicherheit haben bei ihm Priorität. Am Klinikum gibt es bereits einige Maßnahmen, um Behandlungsfehler auf ein Minimum zu reduzieren. Dazu gehört ein anonymes Meldesystem. Ärzte, denen Fehler unterliefen, bei denen kein Patient zu Schaden kam, können diese Fälle bei einem Institut in Tübingen einreichen. Dort wird der Fall anonymisiert und schließlich dem Klinikum zur Verfügung gestellt, damit jeder Arzt daraus lernen kann. „Wir haben eine hervorragende Struktur, um Fehler rechtzeitig zu erkennen und zu vermeiden“, sagt Graf. Doch damit gibt er sich nicht zufrieden. Für sein Klinikum wünscht er sich einen Simulator, mit dem ein gesamtes Team Notfälle trainieren kann. Also quasi einen Flugsimulator für das Krankenhaus.

Er liebt die Vergleiche zur Luftfahrt. Auch beim nächsten Thema wird das deutlich: Um die Rentabilität seines Hauses zu steigern, würde er es manchmal am liebsten wie bei der Lufthansa machen. „Da werden die Maschinen einfach überbucht.“ Freilich weiß er, dass dies in einem Klinikum, das Reserven für Notfälle braucht, unmöglich ist. Aber er erlaubt sich auch hier, das Unmögliche zu denken und gegen den Strom zu schwimmen.