Gut gemeint ist noch nicht gut getan

Nebenwirkungen der neuen Spitalfinanzierung werden im Publikum noch nicht genügend wahrgenommen. Das 2012 eingeführte System der Fallpauschalen SwissDRG benachteiligt einzelne Spitäler systematisch.

Philippe Widmer und Peter Zweifel
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Die Nebenwirkungen der neuen Spitalfinanzierung werden von der Politik und den Betroffenen noch nicht genügend wahrgenommen. (Bild: KEYSTONE/Gaetan Bally)

Die Nebenwirkungen der neuen Spitalfinanzierung werden von der Politik und den Betroffenen noch nicht genügend wahrgenommen. (Bild: KEYSTONE/Gaetan Bally)

Die Nebenwirkungen der neuen Spitalfinanzierung werden von der Politik und den Betroffenen noch nicht genügend wahrgenommen. Das 2012 schweizweit eingeführte System der Fallpauschalen SwissDRG benachteiligt einzelne Spitäler systematisch aufgrund ihres Leistungsauftrags, ihres Standorts und der kantonalen Regulierung. SwissDRG erlaubt einzig, die Zahlungsströme transparenter darzustellen, ermöglicht aber weder einen Leistungsvergleich der Spitäler noch eine Vergütung, welche Anreize für Effizienz setzt.

Unerwartete Nebenwirkungen

Seit gut zwei Jahren gilt die neue Spitalfinanzierung mit Fallpauschalen, die allgemein als Erfolgsmodell betrachtet wird. Dank der eindeutigen Zuordnung der Fälle in Diagnosegruppen (DRG) könne man – so die Meinung der Gesundheitspolitiker – endlich die Spitäler in Bezug auf ihre Leistungen vergleichen. Ausserdem würden die Fallnormkosten (d. h. die mit dem Schweregrad der behandelten Patienten gewichteten Fallkosten gemäss SwissDRG) die allgemein anerkannte Grundlage für eine leistungsgerechte Vergütung der Spitäler bilden.

Entsprechend wird vor allem vom Preisüberwacher eine konsequente Umsetzung von SwissDRG gemäss Art. 49 des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) gefordert. Obwohl dieses Gesetz die Tarifgestaltung in die Kompetenz der Tarifpartner legt, wären die Spitäler strikt nach den landesweit niedrigsten Fallnormkosten zu vergüten. Ein effizient arbeitendes Spital würde so gerade seine Kosten decken können, also keinen Gewinn erzielen. Dies soll die andern Spitäler dazu bringen, langfristig ebenfalls die Fallnormkosten zu erreichen.

Eine konsequente Umsetzung kann allerdings unbeabsichtigte Auswirkungen haben, denn während vor 2012 die Krankenversicherer zusammen mit den Kantonen das Risiko überhöhter Betriebskosten trugen, wird dieses Risiko mit dem Fallpauschalensystem zurück auf die Spitäler verschoben. SwissDRG berücksichtigt nicht mehr die tatsächlichen Kosten, sondern nur noch die Fallnormkosten je behandelten Patienten. Sowohl die tatsächlichen Fallkosten als auch die Anzahl der behandelten Patienten bleiben aber unsichere Grössen, die ein Spital einem doppelten finanziellen Risiko aussetzen.

Die Abbildungen unten stellen das Geschäftsrisiko anhand der Kosten- und der Nachfrageunsicherheit dar. Links sind die Auswirkungen der Kostenunsicherheit auf Fallebene dargestellt. Da mit der DRG-Tarifstruktur stets die Fallnormkosten vergütet werden, führen Abweichungen zu Gewinnen (Deckungsbeiträgen) und Verlusten. Rechts sind die Auswirkungen der Nachfrageunsicherheit auf Spitalebene dargestellt. Da die Nachfrage über die Zeit schwankt und das Spital Kapazitäten für mögliche Spitzen unterhalten muss, entstehen Kosten, die von SwissDRG nicht vergütet werden.

Verschiebungen finanzieller Risiken

Wie in der linken Abbildung für eine spezifische DRG dargestellt, sind die tatsächlichen Fallkosten aus der Sicht des Spitals eine Zufallsvariable, bei der mit geringer Wahrscheinlichkeit sehr hohe Fallkosten auftreten können («Schwanz» in Richtung hoher Fallkosten). Da SwissDRG die Fallnormkosten (Durchschnittskosten der DRG) vergütet, trägt das Spital ein unter Umständen erhebliches Risiko, für seine «zu hohen» Fallkosten selbst aufkommen zu müssen. Im Einzelfall können dadurch grosse Verluste entstehen. Ein Stück weit war dies auch die Absicht der neuen Spitalfinanzierung: Die Spitäler sollten einen Anreiz erhalten, ihre Behandlungskosten in den Griff zu kriegen.

Problematisch wird es jedoch dann, wenn die zu hohen Fallkosten nicht gleichmässig über die Spitäler verteilt sind. Beispielsweise können die Fallkosten nur schon deshalb hoch sein, weil das Spital in der letzten Runde der kantonalen Investitionsplanung leer ausging und deshalb mit einer veralteten Infrastruktur arbeiten muss. Ein anderes Spital dagegen mag gerade ein neues Gebäude erhalten haben, das die Optimierung der Betriebsabläufe ermöglicht. Es erscheint dann effizient, obschon dies nicht sein Verdienst ist – ausser man betrachtet erfolgreiches Lobbying beim Kanton als Zeichen effizienten Managements. Eine vergleichbare Situation ergibt sich, wenn ein Spital vermehrt einfache Fälle einer DRG behandelt, während ein anderes Spital aufgrund seines Leistungsauftrags hauptsächlich komplexe Fälle aufweist. Es wird vermehrt Hochkostenfälle aufweisen, die zu einem systematischen Verlust führen.

Das Geschäftsrisiko der Spitäler wird noch dadurch verstärkt, dass die Zahl der behandelten Patienten unter den Erwartungen zurückbleiben kann. Sie sitzen dann auf fixen Kosten der Infrastruktur, die sie nicht aus den DRG-basierten Einnahmen decken können. Die Auswirkungen dieser Nachfrageunsicherheit sind in der rechten Abbildung dargestellt. Das Haus rechnet mit einer bestimmten Patientenzahl und hält entsprechend Kapazitäten vor (obere waagrechte Gerade).

Die tatsächliche Nachfrage ist aber typischerweise nicht konstant über das Jahr verteilt und lässt sich auch nicht genau prognostizieren. Die eingetragene Kurve zeigt einen möglichen Verlauf, hier mit einer Spitze gegen Ende des Jahres. Diese Spitze hat zur Folge, dass das Spital Kapazität vorhält, die meist nicht gebraucht wird, jedoch kostet – denn die Infrastruktur muss abgeschrieben werden, und das medizinische Personal kann nicht entlassen und wieder eingestellt werden.

Von diesen Schwierigkeiten werden jedoch die Spitäler höchst unterschiedlich betroffen, denn je nach Leistungsauftrag muss ein Haus die vorgehaltene Kapazität hoch ansetzen, seine Nachfrage ist besonders volatil, etwa in Tourismusregionen, oder ein Krankheitsbild breitet sich epidemisch aus, für welches es besonders gut gerüstet ist. Spitäler mit geringer Nachfrageunsicherheit haben es dagegen leichter, ihre fixen Kosten zu decken, und sind deshalb bei einer Finanzierung durch Fallpauschalen einem kleineren Geschäftsrisiko ausgesetzt. Sie erscheinen als effizient, obwohl sie nicht besser arbeiten als die Spitäler, die ein erhöhtes Nachfragerisiko aufweisen.

Die im System implementierten finanziellen Risiken zwingen die Spitäler, ihre Erlöse und Kosten zu optimieren, um einen möglichen Verlust zu vermeiden. Dies kann durch eine Verbesserung der betrieblichen Abläufe und eine effizientere Bereitstellung der Leistungen geschehen, wie dies von den Gesundheitspolitikern und vom Preisüberwacher in ihrer konsequenten Umsetzung erwartet wird.

Nur scheinbare Effizienzgewinne

Allerdings zeigen die obigen Ausführungen, dass sie diesem Druck auch anders begegnen können: Oft erscheint es einfacher, gezielt für zusätzliche Subventionen beim Kanton Lobbying zu betreiben, seine Patienten gezielter zu selektionieren, sich auf Leistungen mit einem positiven Deckungsbeitrag zu konzentrieren oder die vorgehaltene Kapazität zurückzufahren. Besonders die letztgenannten Alternativmöglichkeiten setzen die Patienten zudem der Gefahr aus, abgewiesen zu werden oder zumindest auf ihre Behandlung warten zu müssen.

Alle diese Strategien entsprechen in keiner Weise den Erwartungen an das neue Finanzierungssystem. Effizienzsteigerungen werden damit kaum erzielt, obschon sich einzelne Spitäler im gegenwärtigen System finanziell besser stellen können.

Es gibt bereits Anzeichen, dass sich die Spitäler nicht nur auf die erhoffte Effizienzsteigerung konzentrieren. Sie gehen vermehrt strategische Partnerschaften mit anderen Häusern ein, um Marktdominanz aufzubauen, wie etwa die Kantonsspitäler von Luzern und Nidwalden. Solche Partnerschaften überwinden den oft beklagten «Kantönligeist» und sind grundsätzlich begrüssenswert. Problematischer ist bereits die Zusammenarbeit mit Arztpraxen mit dem offiziell genannten Ziel, die Nachfrage zu glätten; inoffiziell kann es auch darum gehen, «lukrative» Patienten anzuziehen. Das Kantonsspital Thurgau ist dabei so weit gegangen, kurzerhand eine Arztpraxis aufzukaufen.

Schliesslich werden Investitionen in Neubauten und Ausrüstungen nicht nur getätigt, um Prozesse zu optimieren, sondern auch um Marktpositionen zu stärken. Ein Negativbeispiel hierfür liefert der Kanton St. Gallen, der die Infrastruktur «seines» Kantonsspitals mit 1 Mrd. Fr. Steuergeldern erneuern will. Dieses Haus wird danach effizient erscheinen, auch wenn seine Leitung wenig unternehmen sollte, um an die effizienten Fallnormkosten heranzukommen – aus dem einzigen Grunde, dass die Investitionskosten nicht vom Spital, sondern vom Steuerzahler finanziert werden. Weniger gut erkennbar ist das Weiterreichen absehbar teurer Fälle, um die eigenen Kosten niedrig zu halten – dies zulasten nachgelagerter Institutionen.

Generell besteht die Gefahr, dass sich die Spitäler nicht «im Sinne des Erfinders» verhalten, sondern mit ineffizienten Massnahmen versuchen, das Geschäftsrisiko zu reduzieren, dem sie im gegenwärtigen Vergütungssystem ausgesetzt sind.

Gleich lange Spiesse notwendig

Vielfach wird behauptet, die Tarifstruktur von SwissDRG sei genügend ausgefeilt, um die Spitäler von jenen finanziellen Risiken zu befreien, für die sie nichts können. Dies trifft jedoch nicht zu, weil die Chance verpasst wurde, vor Einführung der neuen Spitalfinanzierung für alle Spitäler die gleiche Ausgangslage zu schaffen. Eine Studie von Polynomics AG, die im Auftrag von Comparis.ch erstellt wurde, stützt diese Behauptung.

Während einige Kantone «ihren» Spitälern die Infrastruktur fast gratis zur Verfügung stellen, verlangen andere deren vollumfängliche Abgeltung über die Fallpauschalen. Manche vergüten sogenannte gemeinwirtschaftliche Leistungen, etwa wie es der Bund bei den SBB tut. Auch sind frühere Subventionsbeiträge für Investitionen nicht überall in verzinsliche Darlehen verwandelt worden, so dass manche Spitäler grosse Mengen an Kapital gratis nutzen können. Eine weitere Studie (diesmal im Auftrag des Universitätsspitals Zürich) kommt zum Schluss, dass die heutige DRG-Tarifstruktur noch nicht alle leistungsbezogenen Unterschiede zwischen den Behandlungsfällen abbildet. Zum einen gibt es DRG, deren Durchschnittskosten überschätzt werden, während sie bei anderen unterschätzt werden. Dafür verantwortlich ist der Umstand, dass die Durchschnittskosten nicht normalverteilt sind, sondern vielfach «Schwänze in Richtung hoher Werte» (wie in der Abbildung links) aufweisen. Zudem werden von SwissDRG vor allem Leistungen jener Spitäler zu niedrig vergütet, die aufgrund ihres Leistungsauftrags eine komplexe Patientenstruktur aufweisen. Damit kommt es zu Unterschieden in den Fallkosten, die nichts mit Unterschieden in der Effizienz der Spitäler zu tun haben.

Schliesslich zeigt eine an der Universität Zürich durchgeführte Untersuchung, dass vor allem grosse Zentrums- und Universitätsspitäler von einer erhöhten Nachfrageunsicherheit betroffen sind, während Privatkliniken und kleine Regionalspitäler sich aufgrund ihres eingeschränkten Leistungsspektrums auf planbare Leistungen konzentrieren können. Ihre Optimierung führt aber bei den nachgelagerten Zentrums- und Universitätsspitälern zu einer erhöhten Nachfrageunsicherheit, da diese im Notfall auch die Nachfrage der überweisenden Häuser übernehmen müssen. Dies zwingt sie, ihre Kapazitäten auf die Nachfragespitzen auszurichten, was erhöhte, nicht vergütete Fallkosten bedeutet. Für ein Universitätsspital kann dieser Nachteil bis zu 200 Fr. pro Fall betragen.

Abstufung oder Versicherungsansätze

Das gegenwärtige Fallpauschalensystem weist gravierende Verzerrungen auf, welche die Spitäler durch eine strategische Optimierung ausnutzen können. Damit die vom Preisüberwacher geforderte Umsetzung der Fallpauschalen trotzdem nicht zu ungerechtfertigten Vor- und Nachteilen führt, müssen alle Spitäler ungeachtet ihres Leistungsauftrages, ihres Standorts und ihrer kantonalen Regulierung zwingend die gleichen Voraussetzungen erhalten; sonst droht einigen von ihnen das Aus. Zusätzlich müssen sie ähnlich wie die Krankenversicherer finanzielle Reserven bilden dürfen, damit sie unvorhersehbare Extremkostenfälle und Nachfrageschwankungen ausgleichen können.

Dies ist im gegenwärtigen System nur mit einer Abstufung der Fallpauschalen möglich. Dies ist übrigens vom Bundesverwaltungsgericht bereits indirekt erkannt worden. Es spricht sich in einem jüngst gefällten Entscheid (Urteil C-1698/2013 vom 7. April 2014) dafür aus, dass Spitäler Gewinne erwirtschaften dürfen. Zurzeit ist jedoch aufgrund der nachgewiesenen Ungleichheiten im System davon auszugehen, dass die Kantone die Verluste «ihrer» Spitäler wieder vermehrt mit Subventionen oder Defizitdeckungen ausgleichen werden – und damit die erwünschten Wirkungen der Fallpauschalen zunichtemachen. Eine mögliche Lösung dagegen besteht darin, einen von den Spitälern getragenen Risikoausgleich nach amerikanischem Vorbild einzuführen. Die Hochkostenfälle – und am besten gerade auch das Vorhalten von Kapazitäten – würden dann nicht mehr über die Fallpauschalen, sondern über eine Art Rückversicherung gedeckt. So blieben die Anreize zur Kostenkontrolle erhalten, ohne die Spitäler übermässigen Geschäftsrisiken auszusetzen, mit den beschriebenen ungewollten Konsequenzen.

Zitierte Quellen: P. Widmer, S. Spika, H. Telser (2014): Leistungsorientierte Vergütung mit dem Fallpauschalensystem SwissDRG: Gleicher Preis für gleiche Leistung?, Studie im Auftrag des Universitätsspitals Zürich. P. Widmer, H. Telser (2013): Die Spitalversorgung im Spannungsfeld der kantonalen Spitalpolitik. Comparis, Zürich. P. Widmer, M. Trottmann, P. Zweifel (2013): Choice of Reserve Capacity with Uncertain Production: Evidence from Swiss Hospitals under Prospective Payment. SHEW Paper, Luzern.