Studie enthüllt Regelverstöße : Ungeübte Chirurgen in deutschen Kliniken
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Nur für geübte Chirurgenhände: Operationsbesteck für einen Eingriff am offenen Herzen Bild: dpa
Deutsche Kliniken lassen ihre Chirurgen machen, was sie wollen. Seit zehn Jahren sollen bestimmte Operationen nur noch von geübten Chirurgen vorgenommen werden. Doch die Vorgaben werden unterlaufen, Berichte offenkundig geschönt.
Übung ist Voraussetzung für Können, das gilt für Sportler ebenso wie für Musiker oder Chirurgen. Sie müssen komplexe Bewegungsabläufe täglich wiederholen. Je öfter ein Chirurg eine bestimmte Operation vornimmt, desto weniger Komplikationen sind zu erwarten, und desto besser für den Patienten. Das war der Grund für die sogenannte Mindestmengenregelung, die 2004 in Kraft getreten ist. Offenbar wird sie in vielen Kliniken für nicht allzu wichtig genommen, wie sich jetzt zeigt.
Die Mindestmengenregelung wurde vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) verabschiedet. Er entscheidet darüber, ob die Kosten für eine medizinische Leistung oder ein Arzneimittel von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt werden und legt dafür die Bedingungen fest. Nur in solchen Kliniken sollen einige genau definierte Eingriffe überhaupt noch gestattet sein, in denen eine Mindestanzahl davon pro Jahr auch tatsächlich vorgenommen wird. Wer diese Anzahl nicht nachweisen kann, darf die Operation nicht mehr anbieten, so die Vorgabe. Die Bilanz, die jetzt im „Deutschen Ärzteblatt“ gezogen wird, zeigt aber, dass die Regelung nicht wirklich erfüllt wird. Dafür wurden von der Arbeitsgruppe um Max Geraedts von der Universität Witten/Herdecke die jährlichen Qualitätsberichte von Kliniken ausgewertet.
Unter 1983 Krankenhäusern, die einen solchen Bericht veröffentlicht haben, fanden sie 481 Kliniken, in denen mindestens einer jener Eingriffe vorgenommen wurde, der unter die Mindestmengenregelung fällt. Dazu zählen derzeit acht Operationen, etwa schwierige Eingriffe an der Speiseröhre und an der Bauchspeicheldrüse, verschiedene Organtransplantationen und die Knie-Totalendoprothese. An der Speiseröhre und der Bauchspeicheldrüse wird fast in der Hälfte der Fälle in Häusern operiert, die die Mindestmengen dafür nicht erfüllen. Am ehesten halten sich die Kliniken noch bei Organtransplantationen und Knie-Totalendoprothesen an die Vorgaben. Auffällig ist, dass sich im Laufe der Jahre ̶ die Analyse reicht bis 2004 zurück ̶ kaum etwas zum Besseren gewendet hat. Die Regelung greift offenbar nicht.
Es stimmt die Wissenschaftler auch nachdenklich, dass Krankenhäuser mit den Angaben über die Erfüllung ihrer Mindestmengen offenbar immer hart am Wind segeln: Man erfüllt die Vorgabe gerade eben so und liegt oft haarscharf über der Mindestmenge.
Steigt die Mindestmengenvorgabe der um das Doppelte, folgt die angegebene Fallzahl etlicher Krankenhäuser exakt nach und steigt im nächsten Jahr um etwa genauso viel an. In einem Kommentar zu dieser Studie rügt der Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik Großhadern in München, Karl-Walter Jauch, ein derart „fragliches Dokumentationsgebaren“ explizit. Auch in anderen Bereichen, in denen es um Qualitätssicherung geht, findet solche fragwürdigen Dokumentationen.
Er weist darauf hin, dass ausweislich der Daten aus Bayern das Gewicht vieler Neugeborener „unerklärbar“ immer gerade eben unter bestimmten Schwellenwerten liegt. Das wird verständlich wenn man weiß, dass diese Schwellenwerte für die Abrechnung der Fallpauschalen, der so genannten Disease-Related-Groups oder DRGs, entscheidend sind: Ab Unterschreiten eines bestimmten Körpergewichtes gibt es mehr Geld für die Behandlung des Frühgeborenen. Die Arbeitsgruppe um Thomas Mansky von der Technischen Universität Berlin bestätigt ebenfalls im „Deutschen Ärzteblatt“ den laxen Umgang mit den Mindestmengen. So ergab die Analyse der DRG-Daten von 172.823 Krankenhausfällen, für die die Mindestmengenregelung anzuwenden war, dass 16 bis 68 Prozent der Abteilungen, die solche Eingriffe vornahmen, die Mindestmengenvorgaben nicht erfüllten.