Pflegende im moralischen Clinch

Der Effizienzdruck in den Spitälern erhöht den moralischen Stress des Pflegepersonals. Michael Kleinknecht vom Universitätsspital Zürich zeigt Gegenstrategien auf.

Interview: Dorothee Vögeli
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Herr Kleinknecht, was ist unter «moralischem Stress» in der Pflege zu verstehen?

Damit ist das belastende Gefühl gemeint, das Pflegende erleben, wenn sie aufgrund von Ressourcenmangel oder organisatorischen Defiziten nicht ihrem Berufsethos gemäss pflegen können und darunter leiden.

Nennen Sie bitte ein klassisches Beispiel.

Ein Klassiker ist die Situation, Patienten in einem verunreinigten Bett liegen lassen zu müssen, weil in diesem Moment eine dringlichere Intervention bei einem anderen Patienten ansteht. Oder die Schmerzen eines Kranken nicht lindern zu können, weil die verordneten Medikamente aufgebraucht sind und der zuständige Arzt nicht erreichbar ist.

Wie liesse sich solcher moralische Stress abbauen?

Die Strategien sind vielfältig. Zentral ist die Stärkung der moralischen Widerstandsfähigkeit. Denn unbeeinflussbare Konfliktsituationen wie im ersten Beispiel gibt es im Spitalalltag immer. Diese müssen die Pflegenden auszuhalten lernen. Dagegen ist die fehlende Erreichbarkeit des Arztes kein persönliches Problem, sondern ein organisatorischer Mangel zulasten der Patienten, den es anzugehen gilt.

Vor fünf Jahren haben Sie die Leitung eines Monitorings übernommen, das den Einfluss des Fallpauschalensystems auf die Pflege untersucht. Ist der moralische Druck grösser geworden?

Das können wir erst sagen, wenn wir die im Herbst dieses Jahres geplante Studie abgeschlossen haben. Denn unsere erste Befragung in fünf grossen Schweizer Spitälern haben wir 2011 durchgeführt – also vor der Einführung des DRG-Systems im Jahr 2012. Allerdings war schon damals ein Ressourcenabbau in Gang.

Was förderte die Studie zutage?

Die moralische Belastung des Pflegepersonals ist gross, es gibt sehr häufig Konfliktsituationen. Die einen können damit umgehen, andere kündigen – das hängt von der Persönlichkeit ab.

Welches sind die häufigsten Ursachen?

Hohe Arbeitsbelastung, wenig Ressourcen und mangelnder Einbezug bei Therapieentscheiden. Das hierarchische Gefälle, das nicht per se schlecht ist, bewirkt oft Ohnmachtsgefühle.

Wo gilt es den Hebel anzusetzen?

Bei der interprofessionellen Zusammenarbeit. Es gilt in den Spitälern den Gedanken zu etablieren, dass ethische Konfliktsituationen ein gemeinschaftliches Problem sind. Es braucht nicht nur Ethikforen für Fallbesprechungen, sondern auch solche für Strategien in der Pflege. Gerade in der Intensivpflege ist die Gesprächskultur zu verbessern.

Warum ist moralischer Stress in der Pflege in der Schweiz kaum ein Thema?

Das Thema ist bei uns schon lange präsent, hatte aber keinen offiziellen Namen. Unsere Studie zeigt, dass das berufsethische Bewusstsein der Pflegenden sehr ausgeprägt ist. Wird es ernst genommen, eröffnet sich viel Verbesserungspotenzial auf betrieblicher Ebene. Für dessen Ausschöpfung braucht es oft nicht mehr Personal.