Finanzierung der Kliniken:In der Medizinfabrik

Illu - neu

Im modernen Krankenhaus ist nicht immer Platz für Nächstenliebe.

(Foto: Illustration: Ilona Burgarth)
  • Experten fordern, ethische und soziale Aspekte stärker im Abrechnungssystem der Krankenhäuser miteinzubeziehen.
  • Sie kritisieren falsche finanzielle Anreize, die dafür sorgen, dass Patienten schlechter versorgt werden.
  • In der Pflege wird unter dem Kostendruck besonders häufig gespart.

Von Berit Uhlmann

Dass der Tod sich so drastisch ankündigen würde, hatten die Angehörigen nicht erwartet. Sie konnten nicht mit ansehen, wie verzweifelt der Sterbende um Atem rang, und brachten ihn ins Krankenhaus. Palliativmediziner linderten die Not des Patienten, beruhigten die Familie und gaben ihnen einen geschützten Raum für die letzten gemeinsamen Stunden. Dort starb der Mann friedlich und im Beisein seiner Angehörigen.

Grundfalsch, urteilten die Prüfer der Krankenkassen, als sie später die Akte dieses Mannes studierten. Für solch eine Symptomlinderung sei kein Klinikbett nötig, folglich könne das Haus kein Geld erhalten. "Was hätten wir denn tun sollen?", fragt Thomas Binsack, ehemaliger Palliativmediziner am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in München. "Hätten wir den Sterbenden und seine verängstigten Angehörigen auf die Straße setzen sollen?" Der Fall, den Binsack bei einem Expertengespräch des SZ-Gesundheitsforums schildert, zeigt, wie hart menschliche Bedürfnisse und ökonomische Logik des modernen Gesundheitssystems aufeinanderprallen können.

In dieser Logik dominiert der Durchschnitt. Die Fallpauschalen, die die Kliniken bekommen, orientieren sich an den durchschnittlichen Kosten, die ein typischer Patient mit seiner jeweiligen Erkrankung verursacht. Das System funktioniert, wenn die Fälle klassisch, die Verläufe mustergültig, die Behandlungen gut planbar sind. Der Idealpatient ist ein junger Mensch, der zu einer teuren Untersuchung in die Klinik kommt, wenig Aufmerksamkeit benötigt und innerhalb des vorgesehenen Zeitfensters wieder heimgeht.

Doch längst nicht alle Patienten passen in das Schema: Bei Sterbenden, Hochbetagten, Menschen mit mehreren Erkrankungen und belastenden Lebensumständen stößt es an seine Grenzen. Ihre Krankheiten können unberechenbar verlaufen, ihre Behandlungen aufwendiger sein als in den Pauschalvergütungen vorgesehen. Diese Kranken brauchen besondere Rücksichtnahme und Zuwendung. Doch gerade ethische und soziale Faktoren werden in dem Abrechnungssystem der Krankenhäuser nicht berücksichtigt.

Der Internist Andreas Eigler vom Münchner Klinikum Dritter Orden vergleicht die Situation mit den Praktiken des Prokrustes. Dieser Riese aus der griechischen Mythologie bot Reisenden ein Bett an. Nur passte er nicht die Schlafstätten seinen Besuchern an, sondern stauchte und streckte die Menschen so lange, bis ihre Größe den bereitgestellten Gestellen entsprach.

Analog sollen Ärzte heute ihre Patienten der Fallpauschale anpassen - und sie etwa innerhalb einer vorgegebenen Zeitspanne wieder heimschicken. Auf Stationen mit vielen hochbetagten Patienten führt dies immer wieder zu dem gleichen Problem: Wohin sollen die Ärzte die Menschen entlassen, die so krank sind, dass sie nicht mehr für sich selbst sorgen können?

Pfleger müssen an Zuwendung sparen

Eine Klinik, die sich Zeit nimmt, um eine passende Lösung zu finden, muss damit rechnen, die vorgegebene Zeit zu überschreiten und Verluste zu machen. "Hier wird soziale Härte belohnt", sagt Eigler.

Er beklagt zugleich "falsche Anreize" in dem System. Muss beispielsweise ein Patient länger als 96 Stunden beatmet werden, steigt die Pauschale sprunghaft an. Es entsteht ein finanzieller Anreiz, ihn im Zweifelsfall ein paar Minuten oder Stunden länger am Beatmungsschlauch zu lassen, um in den Genuss der besseren Vergütung zukommen. "Dies ist selbstverständlich ethisch nicht vertretbar", sagt Eigler. Auch die gut bezahlten invasiven Untersuchungen und Eingriffe können dazu verführen, die Grenze des Nötigen zu überschreiten.

Das sind keine Fantasien von Managern. In einer Umfrage unter mehr als 1400 deutschen Chefärzten gaben fast 40 Prozent der Mediziner an, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu überhöhten Eingriffszahlen führten; in der Kardiologie waren es 61 Prozent.

Gleichzeitig räumten fast die Hälfte der Ärzte ein, in den zurückliegenden sechs Monaten mindestens einem Patienten eine nützliche Behandlung aus Kostengründen vorenthalten zu haben. 70 Prozent kamen zu dem Schluss, dass sich die knappen Mittel negativ auf die Patientenversorgung auswirkten. Unter Pflegedirektoren waren mehr als 80 Prozent dieser Ansicht.

"Pflege erscheint im modernen Krankenhaus zunehmend als Kostenfaktor und nicht als eine Dienstleistung, die auf ihre Weise zur Gesundheit beiträgt", sagt Helle Dokken, Pflegedirektorin am Klinikum der LMU. Die Folge: In diesem Sektor wird besonders häufig gespart.

Dokken zufolge nahmen die Fallzahlen in den Kliniken in den vergangenen zehn Jahren um elf Prozent zu, dagegen stieg die Zahl der Pflegekräfte nur um drei Prozent. "Es gibt heute einen Mangel an Pflegepersonal in nahezu allen Bereichen", so die Expertin. Die verbleibenden Pflegekräfte leiden unter Zeitmangel, der zu Fehlern führen kann. Vor allem aber bleibt auch in diesem Bereich die psychosoziale Betreuung auf der Strecke.

Forscher haben Pflegekräfte gefragt, wo sie unter Zeitnot am ehesten Abstriche machen. 82 Prozent sparten an der Zuwendung, an Gesprächen und tröstenden Gesten. 54 Prozent ließen Beratung und Anleitungen für die Patienten weg.

Auch dies kann Folgen für die Gesundung haben. Wer sich im Krankenhaus unwohl fühlt und nicht genügend Erklärungen bekommt, wird sich den Anweisungen eher widersetzen. Zugleich wirkt sich der Fachkräftemangel negativ auf die verbleibenden Schwestern und Pfleger aus. Unzufriedenheit und Burn-out-Fälle nehmen zu, warnt Helle Dokken. Weitere Angestellte steigen aus dem Beruf aus. Manche kehren der Klinik schon unmittelbar nach der Ausbildung den Rücken.

"Die Fallpauschalen sollten nicht für jeden Misstand verantwortlich gemacht werden"

Doch sind es wirklich die vor gut zehn Jahren eingeführten Fallpauschalen, die Krankenhäuser zu kranken Häusern machen? "Die Fallpauschalen sollten nicht für jeden Missstand im Kliniksektor verantwortlich gemacht werden", warnt Herwig Heide vom bayerischen Gesundheitsministerium. Für ihn sind sie zunächst nur "Rechengrößen" und "Vehikel", damit man die Gesamterlöse von Kliniken vergleichen kann. Er spielt den Ball wieder zurück an die Kliniken: wie die Häuser die Mittel intern verteilen, ist ihre Sache.

Prinzipiell ist auch nicht zu verteufeln, wenn das Gesundheitswesen gut wirtschaftet. Davon profitiert jeder Einzelne, denn er ist nicht nur Patient, sondern auch Beitragszahler und somit an einem verantwortungsvollen Umgang mit seinem Geld interessiert. Allerdings ist auch jeder Einzelne ein Teil der Gemeinschaft. Und kann es sich eine Gesellschaft leisten, prekäre Entwicklungen in einem so wichtigen Aspekt wie der Gesundheit hinzunehmen?

Der Münchner Medizinethiker Arne Manzeschke zweifelt. Er sieht die Fallpauschalen in erster Linie als ein Symptom für die stärkere Ökonomisierung der Medizin. Wenn der Geist des Geldes aber alle Stationen durchdringt, werden die Kliniken zu Medizinfabriken. Überlastete Ärzte und Pfleger müssen kämpfen, um die immer größer werdenden Anforderungen zu erfüllen. Es bleibt kein Raum mehr für Nächstenliebe jenseits des unbedingt Notwendigen - in Manzeschkes Worten: "für die supererogatorische Leistung".

Der Theologe bezeichnet damit jenen Akt der Güte, der weit über die Pflicht hinausgeht. Vorbild ist der barmherzige Samariter, der einen Verletzten nicht nur in Sicherheit brachte und versorgte, sondern anschließend auch dafür bezahlte, ihn gesund zu pflegen.

Noch heute findet man gerade in helfenden Berufen Menschen, die die Fähigkeit zu dieser Güte haben: den Pfleger, der einem kranken Kind seine Lieblingsspeise besorgt - nur um ihm eine Freude zu machen. Die Ärztin, die nach Feierabend einer Angehörigen hilft, den plötzlichen Tod eines geliebten Menschen zu verarbeiten. Solches Handeln ist Kitt für die gesamte Gesellschaft. Denn eine Gemeinschaft bemisst sich auch daran, wie sie mit ihren Schwächsten und Bedürftigsten umgeht.

Die Experten des SZ-Gesundheitsforums

Dr. Thomas Binsack, ehemaliger Chefarzt der Palliativstation St. Johannes von Gott am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, München

Helle Dokken, Pflegedirektorin, Klinikum der LMU München

Professor Dr. Andreas Eigler, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin, Klinikum Dritter Orden, München

Professorin Dr. Constanze Giese, Professorin für Ethik und Anthropologie in der Pflege, Katholische Stiftungsfachhochschule München

Herwig Heide, Ministerialdirigent, Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege

Privatdozent Dr. theol. habil. Arne Manzeschke, Leiter der Fachstelle für Ethik und Anthropologie im Gesundheitswesen, LMU, und Forschungsdirektor des Zentrums für Wirtschaftsethik, Berlin

Professor Dr. Oliver Pogarell, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU

Professor Dr. Stephan Rixen, Lehrstuhl für öffentliches Recht I, Universität Bayreuth

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