Gastkommentar

Wieso Krankenkassen mehr experimentieren sollten

Gentechnologie, personalisierte Medizin und die immer älter werdende Bevölkerung stellen die Medizin vor grosse Herausforderungen. Darauf müssen auch die Krankenkassen reagieren.

Tomas Poledna
Drucken
Die Krankenkassen kommen für möglichst wenig auf. (Bild: Imago)

Die Krankenkassen kommen für möglichst wenig auf. (Bild: Imago)

Wer sich gut ernährt, bleibt eher gesund. Nur richtig also, dass die Krankenversicherung die Kosten für Sitzungen mit Ernährungsberatern übernimmt. Das macht sie aber nur, wenn die Berater anwesend sind. Wer – wie heute weit verbreitet – eine App und damit Rat unmittelbar beim Einkaufen einsetzen möchte, muss die Kosten selbst übernehmen. Löblich wiederum: Psychotherapie ist im Krankenversicherungsgesetz vorgesehen, allerdings nur als Einzel- oder Gruppensitzung. Die Seminarform ist damit ausgeschlossen, mag sie in spezifischen Fällen noch so sinnvoll, erfolgreich und kostensparend sein. Wer sich als Psychotherapeut hierfür einsetzt, muss mit existenzgefährdenden Rückforderungen der Versicherer rechnen. Auch der Einsatz eines MRI, das Bilder nicht nur im Liegen erstellt, sondern im Stehen und damit unter realistischer Belastung, ist im Entgeltungssystem der Krankenversicherung nicht adäquat abgebildet. Das erschwert es, körperliche Beschwerden nachzuweisen, die mangels einer besseren Diagnostik dann häufig als stigmatisierende psychische Probleme diagnostiziert werden.

Dies sind drei Beispiele für ein Krankenversicherungsgesetz, das sich passiv auf technische Fragestellungen konzentriert und keinen Anreiz bietet, sich Neuem zuzuwenden. Im Mittelpunkt der Krankenversicherungstätigkeiten steht die Prüfung der Wirtschaftlichkeit, Wirksamkeit und Zweckmässigkeit (WZW) medizinischer Methoden. Die Krankenversicherer sind vor allem Zahl- und Prüfstelle. Im Vordergrund steht die einzelne Krankheit, die konkrete Behandlung. Prävention und qualitative Massstäbe sind nebensächlich. Immerhin gibt es einen Lichtblick: Der Grossteil der Bevölkerung hat sich für alternative Versicherungsmodelle entschieden; ein deutliches Zeichen für die Bereitschaft, neue Wege zu beschreiten. Der Entscheid dürfte heute noch auf die tieferen Prämien zurückzuführen sein. Doch bald wird dies durch die Gewissheit abgelöst werden, mit jenem alternativen Modell die bessere Wahl getroffen zu haben.

Die Gesundheitsausgaben liegen bei über 11 Prozent des BIP, und die Ausgaben für die Leistungen der sozialen Krankenversicherung betrugen 2013 rund 35 Milliarden Franken. Die Politik beklagt die Kostenanstiege. Dabei übersieht sie, dass eines der Hauptprobleme das hohe Kostenniveau an sich ist. Dabei gäbe es für das Gesundheitswesen genug Herausforderungen, sei es die Gentechnologie, der Übergang zur personalisierten Medizin, die Versorgung des steigenden Anteils der älteren Bevölkerung, Rationierungsfragen, der Aufbau und die Förderung des eigenen Nachwuchses oder Präventionsaufgaben. Die Gesetzgebung blieb diesbezüglich bisher blind und überlässt viel dem Zufall. Dies ist unverantwortlich in einem Bereich, der unser tägliches Leben wie kaum ein anderer prägt.

Die Politik widmet sich weiterhin lieber der Eindämmung erkennbarer, aber letztlich wenig bedeutender Missstände. So baut sie den technischen Regelungskäfig aus, hält den Zulassungsstopp aufrecht und schraubt an den Franchisen oder dem Risikoausgleich. Jüngstes Beispiel: das Krankenversicherungsaufsichtsgesetz (KVAG). Obschon die Stimmberechtigten die Einheitskasse in den letzten Jahren dreimal abgelehnt haben und das KVAG den Wettbewerb fördern sollte, droht nun das Gegenteil. Das vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) vor wenigen Monaten unausgesprochen anvisierte Modell der «bernhörigen» Krankenkassenagentur (NZZ 15. 7. 15) scheint der Realität immer näher zu rücken. Damit verschwinden weitere Reste wettbewerblicher Spielräume. Zudem würden die Krankenkassen vom Zwang befreit, sich aus eigener Kraft innovativ weiterzuentwickeln, statt sich nur selbst zu verwalten.

Innovationsmöglichkeiten gäbe es mehr als genug: Man könnte die medizinische Forschung durch die Versicherer fördern lassen, initiative junge Mediziner beim Praxiseinstieg unterstützen, die Durchlässigkeit der Leistungserbringung erhöhen oder die langfristige Wirtschaftlichkeit neuer Behandlungsmethoden prüfen.

Die Krankenversicherung braucht eine solche «Frischzellentherapie». Die Aufgaben der zunehmend zu Verwaltern degradierten Krankenversicherer sollten um einen «Innovationsartikel» erweitert werden. Dieser würde es nicht nur ermöglichen, dass die Krankenkassen experimentell Erfahrung sammeln, sondern dies zu einer tragenden Aufgabe der Versicherer machen. Die Versicherer wären gehalten, neue Entwicklungen laufend zu prüfen, in ihre Versicherungsmodelle einzubauen und den zukunftsprägenden Dialog mit den verschiedenen Akteuren des Gesundheitswesens zu pflegen. Die positiven Erfahrungen könnten dann die ordentliche Gesetzgebung befruchten und der Allgemeinheit zugutekommen.

Tomas Poledna ist Rechtsanwalt in Zürich und Titularprofessor an der Universität Zürich für öffentliches Recht.