Antibiotika statt Skalpell

Viele Patienten mit Blinddarmentzündung könnten mit Medikamenten statt einer Operation behandelt werden, das zeigen immer mehr Studien. Was das dem Patienten bringt, wird unterschiedlich beurteilt.

Alan Niederer
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Noch ist die Operation bei der Blinddarmentzündung die Standardtherapie. Doch es kündigt sich ein Paradigmenwechsel an. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Noch ist die Operation bei der Blinddarmentzündung die Standardtherapie. Doch es kündigt sich ein Paradigmenwechsel an. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Die Schmerzen beginnen meist im Oberbauch und wandern innert Stunden in den rechten Unterbauch. Kommen weitere Zeichen wie eine harte Bauchdecke, Übelkeit, Stuhlverhaltung oder Fieber dazu, dann liegt die Vermutung einer Blinddarmentzündung nahe. Zur Bestätigung der Diagnose wird meist eine Ultraschalluntersuchung am Abdomen durchgeführt, danach wird der Patient notfallmässig operiert. Denn über einer Appendizitis, wie die Blinddarmentzündung auch heisst, darf die Sonne weder auf- noch untergehen. So steht es jedenfalls im Lehrbuch.

Amerikanische Pioniere

Diese Regel gilt seit Ende des 19. Jahrhunderts. Und sie basiert im Wesentlichen auf der Arbeit von zwei Ärzten. Der erste ist Reginald Fitz, ein amerikanischer Pathologe, der den Begriff Appendizitis einführte. In einer Arbeit von 1876 wies er nach, dass in vielen Fällen von unklaren Bauchbeschwerden der Wurmfortsatz (Appendix) des Blinddarms entzündet war (vgl. Grafik).

Der zweite Pionier ist Charles McBurney, ebenfalls ein Amerikaner. Auch wenn die erste erfolgreiche Blinddarmoperation dem Franzosen Claudius Amyand zugesprochen wird – dieser soll 1735 in London einen 11-jährigen Knaben behandelt haben, dessen Wurmfortsatz von einer verschluckten Nadel perforiert war –, gilt McBurney als Begründer der Frühoperation bei Appendizitis. In einer bahnbrechenden Studie hatte er 1889 nachgewiesen, dass sich damit die Rate an gefährlichen Perforationen und Abszessen im Becken reduzieren liess.

Seither gilt die Operation als Standardtherapie bei akuter Blinddarmentzündung. Diese Haltung wird allerdings seit einigen Jahren immer lauter infrage gestellt. Statt operiert zu werden, könnten Patienten mit «unkomplizierter» Appendizitis – dabei fehlt eine Perforation oder ein anderer erschwerender Zustand – versuchsweise mit Antibiotika behandelt werden, sagen Experten. Mit dieser Idee wird nicht nur die heutige Therapie infrage gestellt, sondern auch die Vorstellung, wie eine Appendizitis entsteht. Denn bisher wurde den Bakterien nur eine begleitende, nicht aber eine ursächliche Rolle zugesprochen.

Nach alter Lehrmeinung beginnt alles mit einer Verstopfung des Wurmfortsatzes. Diese kann durch einen Kotstein oder – wie der Volksmund weiss – einen verschluckten Kirschkern oder etwas anderes bedingt sein. Dadurch kommt es in der Appendix zur Ansammlung von Schleim und zu einem Druckanstieg. Das schädigt die Wand des «Anhängsels» und beeinträchtigt die Blutversorgung. Dies wiederum führt zum Absterben der Gewebezellen und begünstigt die bakterielle Besiedlung des Wurmfortsatzes: Jetzt droht eine Perforation der Appendix, was eine lebensgefährliche Situation darstellt.

«In dieser Vorstellung wird die Bedeutung der Bakterien klar unterschätzt», sagt der Infektiologe Werner Albrich vom Kantonsspital St. Gallen. Das zeige sich etwa daran, dass nur bei einem Teil der Patienten eine Obstruktion oder eine Druckerhöhung im Wundfortsatz vorliege. Zudem hat eine Untersuchung von 2011 gezeigt, dass sich bei vielen Patienten mit Appendizitis im Wurmfortsatz pathologische Keime wie die Fusobakterien finden lassen, die bei Patienten ohne Appendizitis fehlen. Dass sich diese Bakterien auch übertragen lassen, wertet Albrich als weiteres Indiz dafür, dass die Blinddarmentzündung in vielen Fällen mehr infektiös denn mechanisch bedingt ist.

Zur Zeit von Fitz und McBurney war die Operation die einzige Behandlungsmöglichkeit. Denn die ersten Antibiotika lagen noch in weiter Ferne. Sobald diese Mitte des 20. Jahrhunderts eingeführt wurden, fragte sich der Brite Eric Coldrey, ob sich damit nicht die Behandlung bei Appendizitis verändern liesse. Schon 1956 berichtete er im «British Medical Journal» über Erfahrungen mit der Antibiotikatherapie . Wie der Chirurg schreibt, war er zufrieden, «dass sich die Krankheit damit sicher und zuverlässig behandeln liess». Noch im selben Jahr publizierte Coldrey seine Fünf-Jahres-Erfahrungen mit dem «Antibiotika zuerst»-Ansatz: Von den 471 therapierten Patienten starb einer, und nur 15 Prozent der Patienten erlitten einen Rückfall, der eine Operation nötig machte.

Trotz diesen günstigen Ergebnissen hatte Coldreys Arbeit keinen Einfluss auf die Behandlungspraxis. Der chirurgische Weg blieb bei der Appendizitis unangetastet. Erst in den 1990er Jahren begann sich die Ärzteschaft erneut mit der alten Frage zu beschäftigen – zumindest in Europa, wo bisher alle Therapiestudien zum Thema durchgeführt wurden. Das neu erwachte Interesse an der Antibiotika-Strategie hatte massgeblich damit zu tun, dass wirksame Breitband-Antibiotika gegen alle wichtigen Darmkeime auf den Markt kamen und mit der Computertomografie die Appendizitis präziser als bisher diagnostiziert werden konnte. Insbesondere lässt sich damit eine komplizierte Verlaufsform, die es rasch zu operieren gilt, besser erkennen.

Die bisherigen Studien konnten alle einen Nutzen der Antibiotikatherapie nachweisen. Die mehrheitlich kleinen Arbeiten waren aber nicht frei von methodischen Mängeln. So untersuchte eine Studie nur Männer, und eine andere schloss Patienten mit Kotsteinen ein, die heute als komplizierte Appendizitis-Fälle gelten und operiert werden müssen.

Wichtige Studie aus Finnland

Als bis heute grösste und wichtigste Studie gilt eine finnische Arbeit , die im Juni in der Fachzeitschrift «Jama» erschienen ist. Die von Paulina Salminen vom Turku University Hospital geleitete Untersuchung umfasste 530 Patienten mit akuter, unkomplizierter Appendizitis. Die zwischen 18 und 60 Jahre alten Patienten wurden nach dem Zufallsprinzip entweder sofort operiert oder zehn Tage lang mit Antibiotika behandelt.

Wie die Auswertung zeigte, konnten in der Antibiotika-Gruppe 73 Prozent der Patienten zufriedenstellend behandelt werden. Das heisst, ihre Beschwerden klangen ab, und sie erlitten während der einjährigen Überwachungszeit keinen Rückfall, bei dem operiert worden wäre. Eine solche «verspätete» Operation war bei 27 Prozent der Patienten nötig, wobei in den meisten Fällen eine unkomplizierte Appendizitis vorlag, die sich ohne grössere Schwierigkeiten operieren liess. Bei keinem dieser Patienten sei es wegen der verzögerten Operation zu einer ernsthaften Komplikation gekommen, die mit einer frühzeitigen Operation hätte verhindert werden können, betont Salminen. Das sei das wichtigste Ergebnis der Studie. Denn es zeige, dass die meisten Patienten mit Antibiotika sicher und wirksam behandelt werden könnten.

Wie die finnische Chirurgin sind auch andere Ärzte überzeugt, dass der vor mehr als hundert Jahren eingeschlagene Pfad der Routine-Operation bei der unkomplizierten Appendizitis verlassen werden sollte . Nicht nur sei ein Versuch mit Antibiotika vernünftig; die Daten sprächen auch klar dafür, dass die Operation bei diesen Patienten nicht notfallmässig erfolgen müsse, so der Tenor.

Auch in den Augen von Daniel Candinas , Viszeralchirurg und Chefarzt am Berner Inselspital, zeigt die Studie, dass der «Antibiotika zuerst»-Ansatz funktioniert. Seiner Meinung nach sollten damit in erster Linie Patienten behandelt werden, die aufgrund ihres Alters oder anderer Krankheiten ein hohes Operationsrisiko haben. Für eine generelle Änderung der Praxis bei akuter Appendizitis sieht er dagegen keine Veranlassung. Dafür sei die Evidenz nach einer ersten grossen Studie noch zu dünn.

Nicht nur Vorteile

Zudem sieht Candinas beim Antibiotika-Ansatz auch Probleme. «Ein beträchtlicher Teil der Patienten muss später doch operiert werden, was bei einigen Unsicherheit auslösen kann», sagt er. Zudem sei die Diagnose an eine teure und strahlenbelastete CT-Untersuchung gebunden – ein Vorgehen, das in der Schweiz bei einem klaren Verdachtsfall nicht üblich sei. Nicht zu vergessen seien schliesslich auch juristische Aspekte, gibt Candinas zu bedenken. So werde bei Haftpflichtfällen den Ärzten meist vorgeworfen, dass sie zu spät operiert hätten – und nicht, dass ein Eingriff unnötig gewesen sei. Das dürfte den Entscheid des Chirurgen ebenfalls beeinflussen.

Legale Aspekte könnten laut dem Chirurgen auch ein Grund sein, weshalb die Antibiotika-Strategie in den USA bisher kaum auf Interesse gestossen ist. Dies dürfte sich in den nächsten Jahren aber ändern. Denn spätestens seit letztem Jahr wird auch dort über das Thema diskutiert. Damals hatte eine US-Kohortenstudie mit knapp 10 000 erwachsenen Appendizitis-Patienten gezeigt, dass die Zeit, die zwischen der Evaluation im Notfall und der Operation verstreicht, nichts über das Perforationsrisiko aussagt. Das lege nahe, so die Autoren, dass das Platzen der Appendix kein streng zeitabhängiges Phänomen sei. Andere Experten sind sogar der Ansicht, dass eine perforierende und eine nicht perforierende Appendizitis zwei verschiedene Krankheitsformen sind, die auf Unterschieden bei der Entzündungsreaktion oder bei der Darmflora beruhen könnten.

Auch für den Infektiologen Albrich ist die Zeit reif, die Therapie bei der akuten Blinddarmentzündung zu überdenken. Er erinnert an die Medizingeschichte: «Die Appendizitis wäre nicht die erste chirurgische Krankheit, die sich als primäre Infektionskrankheit herausstellt und fortan mit Antibiotika statt dem Skalpell behandelt wird.» Dieses Schicksal ist bereits dem Magengeschwür und vor allem der Divertikulitis widerfahren, die grosse Ähnlichkeit mit der Appendizitis hat, aber am anderen Ende des Dickdarms auftritt.

Für Albrich ist es vorstellbar, dass Patienten mit Appendizitis in Zukunft nicht nur von einem Chirurgen, sondern auch von einem Internisten oder Infektiologen betreut werden. Mit dem Patienten zusammen werde dann entschieden, welche Behandlung im konkreten Fall die sinnvollste sei. Der Arzt ist überzeugt, dass sich viele Patienten für Antibiotika entscheiden werden.