Gesundheitswesen : Das Potential von Patientendaten wird unterschätzt
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Der Schutzheilige der Gesundheitskarte, gezeichnet von Leonardo da Vinci um 1490. Bild: Photoshot
Ärzte und Krankenkassen sitzen auf riesige Datenbergen. Aber sie nutzen sie nicht - und das macht uns krank. Ein Pilotprojekt zeigt, wie es funktionieren könnte.
Als der Bundestag beschließt, das deutsche Gesundheitssystem fit zu machen für das Internetzeitalter, im Herbst 2003, bastelt an der Harvard-Universität in Amerika der Informatikstudent Mark Zuckerberg gerade an einem Programm. Wer auf seine Seite surft, sieht auf dem Bildschirm zwei Fotos von Kommilitonen und darf mit einem Klick darüber abstimmen, wer von beiden attraktiver ist. Es dauert ein paar Stunden, bis der Server der Universität wegen Überlastung zusammenbricht. Am nächsten Tag muss Zuckerberg die Seite abschalten. Vier Monate später geht Facebook online, heute sind mehr als eine Milliarde Menschen dort angemeldet. So schnell geht es im Netz.
Und das deutsche Gesundheitssystem? Verlässt sich immer noch auf altertümliche Rezeptblöcke und zerfledderte Impfpässe, auf Zufallsfunde in der handgeschriebenen Krankenakte und auf Arztbriefe, die ihren Adressaten manchmal erreichen und manchmal nicht. Das kostet nicht nur Jahr für Jahr viele Millionen Euro. Es führt auch dazu, dass Zehntausende Patienten falsch behandelt werden oder Medikamente nehmen, die sie nicht anrühren sollten.
Dabei lassen die offiziellen Verlautbarungen zur Sache nichts zu wünschen übrig. Beschlossen hat der Bundestag damals, vor zwölf Jahren, den zügigen Aufbau eines deutschlandweiten Datennetzes für das Gesundheitssystem - und die Ausgabe von elektronischen Gesundheitskarten an alle gesetzlich Krankenversicherten. Krankenkassen, Ärzteverbände und ihre Partner aus der Industrie, so steht es in den Meldungen, arbeiten mit Hochdruck an dem Projekt. Sie erreichen dabei einen entscheidenden Meilenstein nach dem anderen. Und schreiten erfolgreich voran.
70 Millionen Karten mit Chip ausgegeben
Das geht jetzt seit mehr als einem Jahrzehnt so. Eine echte Ausdauerleistung also, die bisher rund eine Milliarde Euro gekostet hat. Blöd nur, dass die vielen angeblichen Erfolge noch keinen Euro gespart und noch keinen Patienten gesund gemacht haben. Es sind zwar 70 Millionen Karten mit Chip ausgegeben worden. Was sie können, wird aber nicht genutzt. Einmal hieß es, das große Ziel sei nun in greifbare Nähe gerückt. Das ist schon wieder zwei Jahre her.
So sind die Gesundheitskarte und das Datennetz, das alle Arztpraxen und Krankenhäuser des Landes miteinander verbinden soll, zu einer unendlichen Geschichte geworden. Ein Musterbeispiel dafür, wie eine gute Idee zermahlen wird. Und wie fadenscheinige Argumente wiederholt werden, bis alle an sie glauben.
In der Medizin spielen Daten schon immer eine entscheidende Rolle. Wie hoch ist die Körpertemperatur? Der Blutdruck? Woraus bestand die letzte Mahlzeit? Solche Fragen stellen Ärzte ihren Patienten seit Jahrhunderten. Auch Laborwerte gehören schon lange zu den Daten, auf die sich Mediziner stützen. Neu ist, wie ihnen schnelle Prozessoren und günstiger Speicherplatz dabei helfen können, solche Daten in großem Stil zu sammeln und zu vergleichen.
Für die Krebstherapie beispielsweise wird heute in vielen Fällen das Erbgut des Tumors entschlüsselt und dann in Datenbanken mit der ständig wachsenden wissenschaftlichen Fachliteratur und den Eigenschaften von Dutzenden unterschiedlicher Medikamente abgeglichen. Das soll eine möglichst zielgerichtete Behandlung ermöglichen. Denn viel zu viele Patienten, da sind sich die Krebsmediziner einig, werden bisher auf gut Glück und mangels Alternativen mit einer hochgiftigen Chemotherapie behandelt, die nur bei einer Minderheit der Kranken überhaupt den Krebs bekämpft.
Angst vor Großkonzernen im Gesundheitssystem
Diabetiker wiederum können ihre Blutzuckerwerte seit ein paar Jahren mit dem Smartphone messen und mit einer App direkt an ihren Hausarzt senden, anstatt ein handschriftliches Tagebuch darüber zu führen. Dieses Angebot machen inzwischen viele Krankenkassen, aber auch Arzneimittelhersteller. Setzt es sich bei der Mehrheit der Patienten durch, entsteht dadurch ein riesiger Datensatz. Schließlich gibt es allein in Deutschland rund zwölf Millionen Diabetiker.
Kein Wunder, dass der Datenkonzern Google vor kurzem eine Allianz mit dem Pharmaunternehmen Sanofi geschlossen hat, einem der wichtigsten Anbieter von Medikamenten für Diabetiker. Gemeinsam wollen die Firmen besser verstehen, wie die Daten der Patienten zueinander passen, welche Wechselwirkungen es gibt, welche Dosis für welche Gruppe von Patienten geeignet ist. Das Deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg arbeitet eng mit dem Softwarespezialisten SAP zusammen, um die Daten, die bei der Entschlüsselung eines Tumor-Genoms anfallen, schneller und präziser zu verarbeiten. Und der als Computerhersteller groß gewordene IBM-Konzern sieht heute in Gesundheitsdienstleistungen eines seiner wichtigsten Geschäftsfelder.
Dass die Großkonzerne in das Geschäft mit Gesundheitsdaten einsteigen, macht manchen Bürgern Angst. Sie fürchten Geheimdienste und Datenkraken, die sensible Informationen absaugen. Big Data heißt das Stichwort. Es beflügelt aber auch die Phantasie von Unternehmern und Politikern. Die Berater von McKinsey werben damit, allein im Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten ließen sich 300 Milliarden Dollar sparen, wenn die modernen Möglichkeiten der Datenverarbeitung komplett ausgeschöpft würden.
Pilotprojekt: „Patientendaten richtig nutzen“
Die Summe ist enorm, sie entspricht fast den kompletten deutschen Gesundheitsausgaben. Man muss sie McKinsey nicht abnehmen. Fest steht aber: Weil es bei der Gesundheitskarte und den zugehörigen Anwendungen noch hakt, verzichten die deutschen Patienten und Beitragszahler auf einen enormen Nutzen. Dabei geht es zunächst nur um Small Data: Der Chip der Karte kann gerade einmal 64 Kilobyte speichern, eine in der Computerbranche schon fast vergessene Größenordnung. Das reicht für nicht viel mehr als Name, Adresse, Versichertenstatus.
Wer sehen will, wozu auch das schon gut sein kann - der muss an den Rand des Schwarzwalds fahren, nach Haslach im Kinzigtal. Dort haben rund 3500 Versicherte in einem AOK-Pilotprojekt erlaubt, dass ihre Patientenakten zentral und elektronisch geführt werden. Wenn einer von ihnen in die Praxis kommt und sich mit der Karte ausweist, sieht der Hausarzt in dieser Datenbank nicht nur, wie er selbst diesen Patienten behandelt hat. Sondern auch, was in der Zwischenzeit etwa der Orthopäde und der HNO-Arzt getan haben. Das macht nicht nur die Diagnose besser. Es hilft auch, Doppel- und Dreifachuntersuchungen zu vermeiden. Es erleichtert Urlaubsvertretungen die Arbeit. Und es sorgt für weniger riskante Arzneimittelkombinationen.
Allein das ist viel wert: Jeder vierte Deutsche nimmt regelmäßig mindestens drei verschiedene Medikamente, ohne dass Apotheker und Ärzte davon zwingend erfahren. Die Zahl derer, die jedes Jahr an den Wechselwirkungen sterben, geht nach Schätzungen in die Zehntausende.
Noch etwas läuft im Kinzigtal besser als im Rest der Republik. Für das Projekt stellt die AOK ihre gesamten Abrechnungsdaten zur Verfügung - einen Datenschatz, den die Versicherungen sonst kaum aus den Händen geben. So lässt sich herausfinden, welche Behandlungen nach welcher Diagnose welche Folgen gehabt haben. Ob Präventionsmaßnahmen sich wirklich auszahlen. Und welche Patienten davon besonders profitieren. Das hilft nicht nur der Gesundheit, es spart auch Geld. „Wenn wir die Patientendaten richtig nutzen, können wir die Gesamtausgaben für die Gesundheit um bis zu 20 Prozent senken“, schätzt Helmut Hildebrandt, Geschäftsführer der Gesellschaft Gesundes Kinzigtal. „Und die Lebenserwartung um anderthalb Jahre verlängern.“
Sorge um den Datenschutz
Was also spricht dagegen, all das zu tun? Warum einigen sich die Funktionäre von Krankenkassen und Ärzteverbänden nicht endlich, anstatt sich gegenseitig den Schwarzen Peter zuzuschieben? Offen zur Schau gestellte Bequemlichkeit, Besitzstandswahrung oder Fortschrittsfeindlichkeit kämen zur Begründung nicht gut an. Der Verdacht, dass manche Ärzte, entsprechende Vergütung vorausgesetzt, mit Mehrfachbehandlungen kein Problem haben könnten, drängt sich auf. Aber auch damit argumentieren die Mediziner natürlich nicht öffentlich.
Der wichtigste aussprechbare Einwand ist deshalb stets die Sorge um den Datenschutz - mit der Besonderheit, dass daneben gefälligst alle anderen Argumente verblassen müssen. Soll bloß niemand sagen, dass die Vorteile für Gesundheit und Budget die Gefahr eines Datenklaus überwiegen könnten.
Wer sich das nicht vorschreiben lassen will, muss ausweichen. Viele Deutsche geben ihre Gesundheitsdaten direkt den privaten Konzernen. Sie teilen ihre Krankengeschichte über Facebook, nutzen mehr als 40.000 mehr oder weniger seriöse medizinische Apps und vertrauen ihre Herzfrequenz der Uhr von Apple an.
Mehr Transparenz mit elektronischer Patientenakte
Der zweite Einwand ist die vermeintliche technische Komplexität des Projekts. Humbug, sagen Industrievertreter dazu. Natürlich ist es kein Klacks, 2000 Krankenhäuser, 20.000 Apotheken und 140.000 Arztpraxen an ein sicheres Netz anzuschließen oder mit Lesegeräten auszustatten. Aber dass Kreditkarten in fast jedem Geschäft der Republik akzeptiert werden und Millionen ihre Bankgeschäfte online erledigen, spricht dafür, dass es möglich ist.
Das dritte geläufige Gegenargument ist besonders verlogen: Die Karte und die ersten Anwendungen wie das elektronische Rezept und der elektronische Arztbrief seien nur ein Köder. Danach kämen unabsehbar viele weitere Funktionen hinzu, zunächst freiwillig, früher oder später aber verpflichtend. Wehret den Anfängen, heißt es deshalb. Zum Wohle des Patienten, der Herr seiner Daten bleiben müsse.
Dass der Patient bisher in dieser Hinsicht in Deutschland fast komplett entmündigt ist, bleibt außen vor. Wer weiß denn schon, was alles auf seiner Karteikarte in der Praxis steht? Was der Arzt dafür in Rechnung gestellt hat? Und wer sich die Daten anschaut? Eine elektronische Patientenakte würde für Transparenz sorgen. In Estland kann man sie sich, wie den Kontoauszug, im Internet anschauen.