Mediziner versinken in der Papierflut

Die Schweizer Ärzte sind hochmotiviert, auch wenn Stress und Bürokratie zunehmen. Massiven Widerstand leisten die Psychiater gegen die geplante Einführung von Fallpauschalen.

Simon Hehli
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Ärzte verbringen nur noch einen Drittel der Arbeitszeit mit Patienten. Die Bürokratie nimmt überhand. (Bild: Gaetan Bally / Keystone)

Ärzte verbringen nur noch einen Drittel der Arbeitszeit mit Patienten. Die Bürokratie nimmt überhand. (Bild: Gaetan Bally / Keystone)

Die Einführung der Fallpauschalen an den Schweizer Spitälern 2012 erfolgte gegen den Widerstand vieler Ärzte. Sie warnten vor «blutigen Entlassungen» und einem Anschwellen der Bürokratie. Solche Ängste waren für den Ärzteverband FMH Grund genug, eine jährliche repräsentative Bestandsaufnahme beim Forschungsinstitut GfS Bern in Auftrag zu geben, um die wirklichen Auswirkungen des SwissDRG-Systems auf die Mediziner zu überprüfen.

Die fünfte Befragung für das Jahr 2015 liegt der NZZ vor. Sie zeigt, dass die Quote der Ablehnung der Fallpauschalen immer noch hoch ist. Doch es scheint, als ob sich zumindest die Spitalärzte langsam mit den Fallpauschalen arrangierten. Die Zahl jener, die das System klar oder eher ablehnen, ist von 60 auf 44 Prozent gesunken; der Anteil jener, die den Neuerungen neutral gegenüberstehen, ist von 25 auf 36 Prozent gestiegen. Zu einer klaren Zustimmung kann sich nur ein Bruchteil durchringen.

Die Lage bei den meisten potenziellen Nebenwirkungen des DRG-Systems hat sich aus Sicht der Spitalärzte 2015 entspannt. Im Schnitt beobachteten sie pro Monat 2,6 Fälle, in denen Patienten mit derselben Diagnose nochmals eingeliefert wurden, was ein Hinweis auf eine nicht auskurierte Krankheit ist. 2014 waren es noch 3 Fälle gewesen (siehe Grafik). Rückläufig sind auch Rückfragen der Kassen zu ihren Versicherten und Verzögerungen bei der Überweisung in die Rehabilitation. Weil dort die Leistungen pro Tag bezahlt werden, haben die Krankenkassen ein Interesse daran, dass die Patienten möglichst lange zum Pauschalpreis im Spital bleiben.

Auf tiefem Niveau leicht zugenommen haben jedoch Operationen, die aus Sicht der befragten Ärzte medizinisch nicht notwendig waren. Die GfS-Forscher sehen einen möglichen Grund dafür in den immer häufiger beobachteten Boni für besonders fleissige Chirurgen. Ob damit Fehlanreize gesetzt würden, müsse genau beobachtet werden, mahnen die Autoren. Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass sich auf der Ebene der medizinischen Leistungen aus Sicht der Ärzte wenig zum Schlechten geändert hat – insbesondere wurden keine «blutigen Entlassungen» beobachtet. Aber auch die erhofften Einsparungen sind ausgeblieben, die Kosten schiessen praktisch ungebremst nach oben. Deshalb merkt Lukas Golder vom GfS kritisch an: «Es stellt sich auch die Frage nach Sinn und Zweck der Reform.»

In der Psychiatrie sollen in den nächsten Jahren ebenfalls Fallpauschalen eingeführt werden. Die Tarpsy genannte Reform stösst bei Psychiatern jedoch nicht auf Gegenliebe – gross sind die Befürchtungen , dass psychisch kranke Patienten wegen der Vorgabe einer schnellen Entlassung vermehrt mit Medikamenten statt mit zeitaufwendigen Gesprächen therapiert würden. Die Skepsis schlägt sich auch im GfS-Zahlenmaterial nieder: Die Zustimmung zu Tarpsy ist seit 2013 markant gesunken, lediglich 8 Prozent der Psychiater sind dafür, 51 Prozent jedoch eher oder klar dagegen.

Die Studie zeichnet generell das Bild einer hochmotivierten Ärzteschaft, die bereit ist, im Vergleich mit anderen Berufsgruppen sehr hohe Arbeitspensen mit Überstunden zu schultern und auch mit dem zunehmenden Stress fertig zu werden. Grund dafür ist ein breit geteiltes Empfinden, einen intellektuell stimulierenden, abwechslungsreichen und gut bezahlten Beruf auszuüben. Viele Spitalärzte hadern jedoch mit der – unabhängig vom SwissDRG-System – ausgeweiteten Bürokratie. Sie müssen heute täglich 15 Minuten mehr in die Dossier- und Dokumentationsarbeit investieren als noch 2011. Damit einher geht auch die Entwicklung, dass immer weniger Zeit für die eigentliche Betreuung von Patienten bleibt. Ärzte im akutsomatischen Bereich kommen noch auf einen Anteil von 35 Prozent für diese Tätigkeiten, bei Psychiatern und der Rehabilitation ist es noch weniger.

FMH-Vizepräsident Pierre-François Cuénoud erzählt, was dies konkret bedeutet: Früher habe er als Spitalarzt einer Krankenschwester gesagt, der Patient brauche drei Aspirin, das dauerte fünf Sekunden. Heute hingegen müsse sich der Arzt in das System einloggen, im elektronischen Patientendossier (EPD) ein Medikament aus zahlreichen aufgeführten Präparaten auswählen, die Dosis vermerken – ein Aufwand von einer bis zwei Minuten. Weil Kader- und Oberärzte solche Aufgaben gerne delegieren, verbringen Assistenzärzte mittlerweile fast so viel Zeit mit Dokumentieren wie am Spitalbett. Das sei zwar mühsam, sagt Cuénoud. «Aber langfristig wird uns das EPD grosse Vorteile bringen bei der Effizienz der Behandlung und der Rückverfolgbarkeit der Massnahmen.» Voraussetzung dafür sei jedoch, dass die verschiedenen EPD-Systeme künftig besser miteinander kommunizieren könnten.

Die Ergebnisse der GfS-Studie sind auch vor dem Hintergrund des drohenden Ärztemangels interessant. Lukas Golder konstatiert, dass die wegen der DRG-Einführung befürchtete Abwanderung von Spitalärzten in Spezialistenpraxen bisher nicht stattgefunden habe. «Das hängt wohl auch damit zusammen, dass bis jetzt kaum etwas zu spüren ist von einem Konkurrenzkampf und Optimieren um jeden Preis, vor dem viele Ärzte vor der Einführung der Fallpauschalen Angst hatten.»