Das Gesundheitsportal aus der Hauptstadt
Logo Gesundheitsstadt Berlin
Das Gesundheitsportal aus der Hauptstadt

Wenn geistig behinderte Menschen ins Krankenhaus müssen

Montag, 4. Mai 2015 – Autor:
Wenn geistig oder mehrfach behinderte Menschen wegen akuter Beschwerden ins Krankenhaus müssen, ist die Diagnose oft schwer zu stellen. Das Zentrum für Behindertenmedizin im Krankenhaus Mara ist darauf eingerichtet.
Behinderung, Krankenhaus, Kind, Arzt

Die Diagnose ist schwer zu stellen – Foto: Jaren Wicklund - Fotolia

Oberarzt Dr. Jörg Stockmann fordert mehr behindertengerechte Krankenhäuser. Doch widerspricht das dem Gleichbehandlungsgrundsatz, wie sie der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung einfordert?

Das Bielefelder Krankenhaus, das von dene Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel getragen wird, ist bundesweit die einzige Klink, die sich mit ihrer internistischen und chirurgischen Abteilung auf Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung spezialisiert hat. Patienten kommen aus dem ganzen Bundesgebiet.

Zu den Fällen zählt etwa die Frau, die nicht mehr gehen wollte, weil ihr Bein weh tat. In einer anderen Klinik war sie bereits geröntgt worden - ohne Ergebnis. Dort hatte man die Region vom Sprunggelenk bis zur Mitte des Oberschenkls durchleuchtet. Im Mara wurde festgestellt, dass sie einen Oberschenkelhalsbruch erlitten hatte.

Sie war gestürzt. „Nach mehreren Telefonaten mit der Einrichtung, in der sie lebt, erinnerte sich eine Betreuerin, dass man sie in der Behinderten-Werkstatt auf dem Boden gefunden habe. Den Sturz hatte keiner beobachtet.“ Die Patientin konnte darüber nicht berichten, aber sie konnte sagen, dass sie Schmerzen hat.

Aber selbst  das können viele Menschen mit geistiger oder mehrfache Behinderung nicht. Meist sind auffällige Verhaltensänderungen wie Beißen oder Schlagen und eine allgemeine „Verschlechterung des Allgemeinzustandes“ Grund für die Einweisung. Dahinter können organische Ursachen stecken. „Manchmal sind auch Veränderungen im Umfeld, wie ein Wechsel der Bezugsperson, der Auslöser“, so Dr. Stockmann. Um das herausfinden, ist die genaue Erhebung der Fremdanamnes

Geistig behinderte Menschen im Krankenhaus: Schwierige Diagnose

Die Patienten können oft keine Selbstauskünfte geben. Die Ärzte brauchen also mehr Zeit zur Beobachtung. Viele diagnostische Maßnahmen ängstigen die Patienten oder führen zu Abwehrreaktionen. „Blutentnahme oder Ultraschall führen wir – falls erforderlich -  mit leicht sedierenden Medikamenten durch“, so Oberarzt Stockman. Auch langes Still-Liegen ist für viele schwierig. Ist ein MRT indiziert, wird dieses unter Vollnarkose durchgeführt.

„Das ist ein sehr invasives Vorgehen. Wir sind jede Woche aufs Neue im Zwiespalt und müssen abwägen: Wie weit gehe ich mit der Diagnostik, insbesondere wenn sie risikoreich oder belastend ist. Aber auch: Wann sind Grenzen erreicht, an denen auch für sehr schwer geistig behinderte Menschen das Recht auf Selbstbestimmung greift. Wir sind immer unsicher“, räumt Oberarzt Stockemann ein. Es fehlen Behandlungsleitlinien, auch gibt es hierzulande keine Forschung dazu.

In Kanada etwa haben die Hausärzte ein Konsens-Papier zur Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung verfasst,  in Holland gibt es sogar einen Lehrstuhl für Medizin für Menschen mit geistiger Behinderung (Prof. Heleen Evenhuis) und eine entsprechende Zusatzausbildung. In Deutschland gibt es nur ergänzende Module, die die Bundesarbeitsgemeinschaft Ärzte für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung anbietet.

Menschen mit geistiger Behinderung im Krankenhaus: Erhöhte Krankeitsrisiken

Mit der geistigen oder mehrfachen Behinderung sind die Risiken für bestimmte Krankheiten erhöht. Psychische Erkrankungen wie Depressionen treten bis zu dreimal häufiger auf als in der Gesamtbevölkerung. Ein hohes Risiko besteht für Atemwegserkrankungen. Die können zum einen Folge der Medikation sein, oft werden die für Psychotiker gedachten Neuroleptika verschrieben, um die Patienten zu beruhigen. Sie reduzieren den Hustenreflex. Diese Patienten-Gruppe verschluckt sich aber ohnehin häufiger. Ohne das Abhusten gelangen dann jedesmal Bakterien in in die Luftröhre und lösen bisweilen eine Bronchitis bis hin zur Lungenentzündung aus.

Die Bronchitis zeigt bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung zuweilen unübliche Symptome. Andere Kranke fiebern und husten, „diese Patienten sind vor allem benommen,  fast komatös. So befürchtet man zunächst Schlaganfall oder Hirnschlag und macht ein CT vom Kopf – bis sich herausstellt, dass es eine Bronchitis war“, berichtet der Mediziner. Auch Verstopfung ist ein häufiges Problem, eine Nebenwirkung verschiedener Psychopharmaka.

Die Ärzte brauchen mehr Zeit und Umsicht , auch an die Krankenschwestern werden andere Anforderungen gestellt. So müssen sie etwa körperlich eingeschränkte Patienten mobilisieren und lernen, mit ungewöhnlichen Verhaltensweisen umzugehen und sie richtig einzuschätzen. Das Mara-Krankenhaus rechnet als als „besondere Einrichtung“ nicht nach Fallpauschale sondern nach Tagessatz ab. Kostendeckend ist er nicht.

Dennoch: Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung benötigten im Krankenhaus eine besondere Pflege und Behandlung, davon ist Dr. Stockmann überzeugt. Nur dann können sie gleichberechtigt vom medizinischen Forschritt profitieren.

Foto: Jaren Wicklung

Weitere Nachrichten zum Thema Behinderung

Aktuelle Nachrichten

Mehr zum Thema
Für Menschen mit Behinderung sind Arbeit und gesellschaftliche Teilhabe nach wie vor nicht selbstverständlich. Gesundheitsstadt Berlin hat mit Ulla Schmidt, MdB und Bundesvorsitzende der Lebenshilfe, darüber gesprochen, was getan werden muss, um die Situation von Betroffenen zu verbessern.
Weitere Nachrichten
Die Langzeitfolgen der Corona-Pandemie machen Beschäftigten in Gesundheitsberufen besonders zu schaffen. Das zeigt eine Analyse der AOK-Nordost für Berlin. Eine Berufsgruppe ist sogar doppelt so oft betroffen wie der Durchschnitt der Versicherten.

Die Charité hat am Montag eine stadtweite Kampagne gestartet, um neue Mitarbeitende zu gewinnen. Besonders Pflegekräfte werden umworben, aber auch in Forschung, Lehre und Verwaltung sucht die Universitätsmedizin Verstärkung.

Trotz internationaler Transparenzregeln werden viele klinische Studien nicht veröffentlicht. Wichtige Ergebnisse bleiben somit verborgen. Dem setzt das Berlin Institute of Health (BIH) der Charité nun mit einem öffentlich einsehbaren Dashboard etwas entgegen.
Interviews
Einen ambulanten Pflegedienst in Berlin zu finden, ist schwierig geworden. Personalmangel ist das Hauptproblem. Dabei gäbe es relativ einfache Lösungen, sagt Thomas Meißner vom AnbieterVerband qualitätsorientierter Gesundheitspflegeeinrichtungen (AVG). Im Gespräch mit Gesundheitsstadt Berlin verrät der Pflegeexperte und Chef eines häuslichen Krankenpflegedienstes, wie man Menschen in den Pflegeberuf locken könnte und warum seine Branche noch ganz andere Sorgen hat als die Personalfrage.

Affenpocken verlaufen in der Regel harmlos. Doch nicht immer. Dr. Hartmut Stocker, Chefarzt der Klinik für Infektiologie am St. Joseph Krankenhaus in Berlin Tempelhof, über die häufigsten Komplikationen, die Schutzwirkung der Impfung und den Nutzen von Kondomen.

Zöliakie kann in jedem Lebensalter auftreten und ein buntes Bild an Beschwerden machen. Bislang ist das wirksamste Gegenmittel eine glutenfreie Ernährung. Gesundheitsstadt Berlin hat mit PD Dr. Michael Schumann über die Auslöser und Folgen der Autoimmunerkrankung gesprochen. Der Gastroenterologe von der Charité hat an der aktuellen S2K-Leitinie „Zöliakie“ mitgewirkt und weiß, wodurch sich die Zöliakie von anderen Glutenunverträglichkeiten unterscheidet.
Logo Gesundheitsstadt Berlin