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Voll Psycho. Ausschnitt aus "Hedi Schneider steckt fest".

© Komplizen Film/Pandora Film 2015

Weddinger Modell: Berliner Klinik revolutioniert die Psychiatrie

Die Idee des „Weddinger Modells“: Patienten ernst nehmen und nicht bevormunden; die Türen sind offen, die Regeln flexibel. Ein Gespräch mit den beiden Erfinderinnen.

Im touristischen Teil von Berlin-Mitte liegt das St. Hedwig-Krankenhaus, Große Hamburger Straße 5-11, eine der traditionsreichsten Kliniken der Stadt, von einer katholischen Gemeinde 1846 gegründet. Seit 2001 wird auf dem Gebiet der Psychiatrie mit der Charité kooperiert, seit 2010 arbeitet man nach dem „Weddinger Modell“, dessen Initiatorinnen Oberärztin Lieselotte Mahler und Pflegedirektorin Ina Jarchov-Jádi sind.

Tagesspiegel (TSP): Frau Jarchov-Jádi, Frau Mahler, Ihre Psychiatrie ist zuständig für Patienten aus Tiergarten und Wedding, beide Stadtteile beschreiben Sie selbst als „schwierig“ mit „besonders vielen psychisch schwer kranken Menschen“. Mit welchen Problemen schlagen Sie sich herum?

Lieselotte Mahler (LM): Schwere Krisen, die mit sozialer Armut zu tun haben, oder suizidale Krisen, bei denen jemand voller Alkohol oder Drogen ist, die finden Sie in unseren Stadtteilen häufiger. Wenn Sie dagegen Depressionen oder psychosomatische Erkrankungen nehmen, unterscheidet sich der Wedding kaum von Zehlendorf oder Pankow.

Ina Jarchov-Jádi (IJJ): Unsere Klinik liegt in Mitte, zu unserer Versorgungsregion gehört auch der Hauptbahnhof, und das Zentrum einer Großstadt wie Berlin zieht andere Menschen an als deren grüne Ränder.

LM: Berlin wirkt wie ein Magnet, man könnte von Psychiatrie-Tourismus sprechen. Viele Patienten sagen uns, dass sie sich hier freier fühlen. Wenn Sie stundenlang auf einen Busch einschlagen oder mit einem Mülleimer diskutieren, landen Sie in Zürich oder Nürnberg schnell in der Psychiatrie. In Berlin müssen Sie dazu noch den Mülleimer anzünden und die Polizei beschimpfen. Wenn Sie sich hier verrückt kleiden oder Stimmen hören, kein Problem, Sie haben eine größere Narrenfreiheit. Auch das Regierungsviertel zieht kreative Leute an, die sich irgendwo in den Zug setzen und sagen, ich muss mal zu dieser Frau Merkel ins Kanzleramt, ich will endlich wissen, warum meine Wohnung abgehört wird und wie die NSA da involviert ist.

IJJ: In der konservativen Ländlichkeit, so wie in Schwaben, im Emsland, Odenwald oder ähnlichen Gegenden, gibt es eine starke soziale Kontrolle. Das ist ein schwieriger Lebensraum für Menschen, die anders ticken. Die fühlen sich in der Metropole – in Anführungsstrichen – normaler, weil sie nicht ständig einer moralischen Bewertung ausgesetzt sind. Und irgendwann regeln sie hier auf einer vielbefahrenen Straße den Verkehr, rennen in Geschäfte rein und veranstalten wilden Trubel, sie klettern aufs Dach vom Bahnhof oder die Gleise. Wenn sie bedrohlich wirken für andere oder sich selbst, landen sie bei uns.

LM: Mir sagen Patienten oft, ich musste aus meinem alten Umfeld weg, was ja schon mit ihrer Psychose zu tun hatte, weil die mobben und verfolgen mich, die reden alle über mich. Man nennt das Beziehungserleben: Ich sehe, wie die Bäckerin meinen Arbeitskollegen grüßt, ganz klar, die stecken unter einer Decke. Wenn ich dann aus einem kleinen Kosmos in die große Stadt flüchte, habe ich erst mal meine Ruhe. Man sollte gar nicht prinzipiell das Landleben verteufeln, ein soziales Netz hat viel Positives. Denn in Berlin kann sich jemand wochenlang isolieren und die Wohnung nicht verlassen, ohne dass es auffällt.

TSP: Warum entscheidet sich jemand dafür, nicht mehr aus dem Haus zu gehen?

LM: Dahinter stecken oft, wie in dem Film „Hedi Schneider steckt fest“, Ängste, in deren Rahmen es auch zu Panikattacken kommen kann. Zum Beispiel Angst vor großen Plätzen oder vor Menschenmengen, Angst, auf offener Straße verfolgt zu werden. Die Diagnosen hinter Ängsten sind mannigfaltig.

TSP: Wohlstand und Bildung sind wichtige Faktoren für die Gesundheit. Ließe sich danach ein spezifischer Berliner Stadtplan erstellen?

IJJ: In jedem Fall bei Krankheiten, wo Drogen eine Rolle spielen. Im Osten ist das vorrangig der Alkohol, die Vielfalt der Substanzmittel ist geringer als in Kreuzberg oder Mitte, wo alles Mögliche konsumiert wird. In bürgerlichen Gegenden finden Sie Probleme mit Medikamenten. Das fängt harmlos an, der Hausarzt verschreibt was zur Beruhigung oder dass man besser einschläft – das wächst dann schleichend bis in die Abhängigkeit.

LM: Auch Biografien können wichtig sein, da unterscheiden sich die Bezirke. Einige unserer alten Patienten, die bis zur Wende im Osten lebten, haben ja auf einen Schlag nicht nur ihren Staat verloren, sondern häufig auch ihre Jobs. Manche haben noch Bomben und Krieg erlebt, vielleicht eine Vertreibung, die Vergewaltigung der Mutter, dann waren sie berufstätig und haben sich stabilisiert. Mit dem Mauerfall erlebten sie einen zweiten Zusammenbruch, und irgendwann entwickelten sie eine schwere Depression oder Angststörung, die können etwa plötzlich nicht mehr in einem geschlossenen Raum sitzen.

TSP: Das Bild der Psychiatrie in unseren Köpfen ist geprägt durch Filme wie „Einer flog übers Kuckucksnest“ mit Jack Nicholson, wo Patienten mit Elektroschocks und Zwangsjacken gemartert werden. Gibt es das noch?

IJJ: In dieser Form in Deutschland nicht. Was es manchmal noch gibt, sind der Anstaltscharakter und die Trostlosigkeit von Kliniken und immer wieder mal eine große Distanziertheit zwischen Personal und Patienten. Viel spielt da natürlich auch die gelebte Haltung – im Positiven wie im Negativen – eine Rolle. Ein großes Problem ist nach wie vor die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Wer mal in der „Geschlossenen“ war, trägt diesen Makel ein Leben lang.

Treffen sich zwei Götter in der Psychiatrie

Pflegedirektorin Ina Jarchov-Jádi (links) und  Oberärztin Lieselotte Mahler.
Pflegedirektorin Ina Jarchov-Jádi (links) und Oberärztin Lieselotte Mahler.

© Kai-Uwe Heinrich

TSP: Im oscargekürten „Kuckucksnest“ wie auch in „Hedi Schneider steckt fest“ muss man trotz aller Tragik lachen, weil Situationen so komisch sind. Ist das realistisch?

LM: Oh ja. Ein Patient zum Beispiel, inzwischen über 60 und hochintelligent, kommt seit Jahren immer wieder zu uns, weil er in Krisen gerät. Er hält sich für Gott. Einmal kam er im November und sagte, ich bin Jesus Christus, und dieses Jahr bin ich eine Frühgeburt, ihr seid doch die Spezialstation für Frühchen. Das ist schon irre komisch, was? Dann hatten wir acht Monate lang einen Patienten, der sich auch für Gott hielt und aggressiv wurde, weil er dachte, er könne Menschen heilen, indem er ihnen auf den Kopf haut. Nun kam eines Tages unser Stammgott dazu. Die trafen sich auf dem Flur, und es kam zu folgender Szene: „Ich bin Gott.“ „Nein, ich bin Gott.“ „Unmöglich, denn ich bin Gott!“ „Ich bin Gott.“ So ging das zehn Minuten lang hin und her. Und dann sagte unser Stammgott, der cleverer war als der andere: „Nun pass mal auf, du, ich bin Gott, und du hast keine Krankheitseinsicht!“

TSP: Was?

LM: Ein Terminus von uns Profis, wir sagen schon mal in einem Gespräch mit Patienten: Sie sind nicht krankheitseinsichtig. Aber diese göttliche Begegnung zeigt, die können noch so „ver-rückt“ sein, es gibt eine doppelte Welt, die wissen oft auch, was real ist.

TSP: Sie beide haben vor fünf Jahren im St.-Hedwig-Krankenhaus angeregt, was in Fachkreisen als „Weddinger Modell“ Furore macht. Was ist hier so anders?

LM: Wir haben mit klinischen Strukturen gebrochen, die nicht hilfreich sind. Wir entscheiden nicht über die Patienten hinweg, sondern besprechen die Therapien mit ihnen zusammen. Es gibt flache Hierarchien bei allen Mitarbeitern, Ärzten, Pflege, Therapie… Die Angehörigen werden bei uns mit einbezogen. Wir gehen flexibel auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten ein. Das ist es in aller Knappheit.

TSP: Das klingt überaus vernünftig und gilt doch als Revolution. Was hat Sie denn in der traditionellen Psychiatrie so auf die Palme gebracht?

LM: Nehmen wir einen alten Mann mit einer Depression, der zu uns zur Behandlung kommt. Dann kann es passieren, dass sich ein Team zusammen setzt und sagt, der hat die und die Diagnose, also muss er dieses Medikament nehmen, es wird ein Therapieplan gemacht: Er soll die Antidepressionsgruppe besuchen, die Hauswirtschaftsgruppe… Alle wollen nur das Beste für diesen Menschen, der aber nicht aktiv einbezogen wird. Es ist doch Hybris zu sagen, Therapien wirken, weil wir sie so nennen. Wenn der Mann nicht in die Haushaltsgruppe will, heißt es, der ist nicht therapiemotiviert. Ich sagte dann, Leute, wenn ich im Alter depressiv bin und muss bügeln, dann suizidiere ich mich! Ich hasse Bügeln, ich habe noch nie ein Bügeleisen angefasst. Eine Therapie kann doch nur wirken, wenn sie die Interessen dieses alten Mannes berührt, seine Ressourcen berücksichtigt.

TSP: Interviews oder Vorträge machen Sie in der Regel nie einzeln und ...

IJJ: … auch das gehört zum „Weddinger Modell“, es ist ein Zeichen für die Multiprofessionalität, und wir glauben, das wird die Zukunft in Krankenhäusern sein. Es arbeiten ja aus gutem Grund mehrere Berufsgruppen zusammen, Ergotherapeuten mit einer speziellen Ausbildung, Ärzte mit einer speziellen Ausbildung, Sozialarbeiter, die Pflegekräfte, alle mit eigenem Fachwissen. Nehmen wir einen Patienten, bei dem Schulden aufgelaufen sind oder die Wohnung verwüstet ist, dann sind das drückende existenzielle Probleme für ihn, da kann in dieser Phase der Sozialarbeiter eine viel wichtigere Rolle spielen als ein Arzt.

TSP: Was sofort auffällt, wenn man bei Ihnen durch die Stationen läuft, ist das Fehlen von weißen Kitteln oder Statusabzeichen. Das Personal und die Patienten sind auf den ersten Blick nicht voneinander zu unterscheiden.

LM: Stellen Sie sich mal vor, Sie fühlen sich von den Nachbarn ausspioniert und schlagen eines Tages ein Loch in die Wand, stecken Ihren Kopf hindurch und schauen nach, was da drüben los ist. Dann rufen die Nachbarn die Polizei, die bringt Sie an einen Ort, wo jemand im weißen Kittel auf Sie zukommt, mit einer Spritze in der Hand. Was haben Sie da? Todesangst. Sie rasten aus, ist doch klar.

IJJ: Ich würde mich da auch mit Händen und Füßen wehren, drohen und versuchen zu fliehen, das ist ja ein eher gesunder Impuls, etwas Normales.

LM: Dabei kann es durchaus sinnvoll sein, in einer Notsituation – da will jemand aus dem Fenster springen oder greift mit einem Stuhl an – gegen seinen Willen ein Medikament zu verabreichen. Nur würden wir dann bei diesem Menschen bleiben, ihn beruhigen, versuchen zu erklären, was passiert ist, die Situation möglichst bald aufarbeiten. Wenn Sie jemanden, den die Polizei gebracht hat, fixieren, ein Medikament verabreichen und sagen, wenn der sich in ein paar Tagen beruhigt hat, sprechen wir, dann ist das Kind in den Brunnen gefallen. Das Vertrauen ist weg, und zwar verständlicherweise, denn dieser Mensch fühlt sich entrechtet. Wäre ich Patient, dann würde ich mir wünschen, dass ich in meiner Krise Wärme spüre und Schutz, dass man mich ernst nimmt mit meinen Ängsten.

IJJ: Andere übernehmen die Kontrolle über ihn: Wir wissen, was gut für Sie ist! Egal, was Sie glauben, was gut für Sie ist.

LM: Dafür hat der bekannte Psychologe Thomas Bock ein gutes Bild entwickelt, das Tendenzen in der Psychiatrie ganz schön verdeutlicht, er sagte: Vor der Psychiatrie sitzen zwei Höllenhunde, die muss man als Patient füttern, die Krankheitseinsicht und die Therapietreue den Ärzten gegenüber. Dann kriegt man alle Zuwendungen des psychiatrischen Systems.

Rauchen zur Entspannung

Voll Psycho. Ausschnitt aus "Hedi Schneider steckt fest".
Voll Psycho. Ausschnitt aus "Hedi Schneider steckt fest".

© Komplizen Film/Pandora Film 2015

TSP: Was uns überrascht: Bei Ihnen stehen die Türen meist offen. Und das geht gut?

LM: Sehr wichtig ist für uns, klarzumachen, hier kommt man auch wieder raus. Das schafft Vertrauen. Wobei wir die Tür schon auch schließen, wenn konkrete Gefahr besteht.

IJJ: Aber dann verhandeln wir das gemeinsam mit dem Patienten, wir sagen, wir machen uns Sorgen um Sie, dass da draußen etwas mit Ihnen passiert, wir würden die Türe gern offen lassen, aber dann müssen Sie uns versprechen, jetzt nicht einfach rauszumarschieren. Es gibt durchaus Patienten, egal wie verrückt, die verlässlich sagen, das mache ich nicht, und tun es dann auch nicht.

LM: Mir fällt da die Frau ein, die von auswärts nach Berlin kam, die hat uns nur angeschrien. Sie hatte Erfahrung mit der Psychiatrie und dachte, jetzt geht das wieder los. Sie wollte nicht reden, brüllte nur rum. Wir sagten, nun kommen Sie mal an, wir geben Ihnen was zu essen, Sie können eine rauchen, und wenn Sie Lust haben zu berichten, was Ihnen widerfahren ist, dann sagen Sie es uns. Wir haben sie in Ruhe gelassen. Sie hat geduscht, gegessen, sie merkte, wir meinen es ernst und halten unser Versprechen. Es gab keinen Grund, die Türe zuzumachen, das hätte das Gegenteil bewirkt.

TSP: Noch so etwas Auffälliges: Bei Ihnen darf munter geraucht werden.

IJJ: Nicht überall. Aber Rauchen hat einen deeskalierenden Effekt. Wer raucht, will sich entspannen, und es wäre nicht hilfreich, jemandem in einem Moment die Zigarette zu verbieten, wo er in Stress geraten ist, in eine tiefe Krise. Ich denke an diesen kräftigen alkoholisierten Mann aus der Hooligan-Szene, der bedrohte einen Arzt massiv, indem er ihn am Hals packte, in eine Ecke drängte und ihn umzubringen drohte. Eine Pflegerin sagte irgendwann, jetzt lass’ uns erst mal eine rauchen – und bot ihm eine Zigarette an. Er ließ überrascht den Arzt los und nahm das Angebot an. Das Signal war, hey, ich bekomme mit, du bist angespannt, ich bin es ja auch, wir können doch mal…

TSP: Ein Glas Rotwein oder Whiskey entspannt ja auch. Eine Bar ist nicht zu sehen.

IJJ: Das passt mit den Medikamenten nicht gut zusammen. Und es wäre nicht eben hilfreich, in einem Moment, in dem das psychische System am Wanken ist, etwas Enthemmendes anzubieten.

TSP: Haben Sie eigentlich mehr Männer oder mehr Frauen als Patienten hier?

IJJ: Das hält sich die Waage.

TSP: Die sind sogar zusammen untergebracht, das macht es nicht kompliziert?

IJJ: Auch das bedeutet Normalität und macht’s einfacher. Ich kenne noch getrennte Männer- und Frauenstationen, das war echt problematisch! Natürlich gibt es Frauen, die keine guten Erfahrungen mit Männern haben und umgekehrt, wir haben dafür mit Chipkarten die Möglichkeit geschaffen, dass Patienten ihr Zimmer verschließen und zur Ruhe kommen können, und nur das Personal Zugang hat, so ähnlich wie in einem Hotel. Wir haben ja manchmal Patienten, die distanzgemindert sind und anderen mal zu nahe rücken. Durch die Chipkarten können sich die Mitpatienten zurückziehen.

TSP: Ist es ein Unterschied, ob Patienten ein Mann oder eine Frau gegenübertritt?

LM: Im Positiven wie im Negativen. Eine Frau mit der Erfahrung von Vergewaltigung will vielleicht nur mit einer Frau sprechen. Es gibt auch Frauen, die sagen, um Gottes Willen, ich lasse mich doch von keiner Tussi behandeln. Dazu kommen auch kulturspezifische Aspekte.

Warum schwarzer Humor hilft

Pflegedirektorin Ina Jarchov-Jádi (links) und  Oberärztin Lieselotte Mahler.
Pflegedirektorin Ina Jarchov-Jádi (links) und Oberärztin Lieselotte Mahler.

© Kai-Uwe Heinrich

TSP: Spüren Sie die wachsende Zahl von Flüchtlingen in der Stadt?

IJJ: Klar. Wir haben Menschen aus der Ukraine, aus Somalia, aus Syrien, das ist schon mal mit der Sprache schwierig. Wir arbeiten mit vielen Dolmetschern, aber in der akuten Situation sind die natürlich meist nicht zur Stelle, und so fällt es verbal schwer, beruhigend und verstehend auf die Menschen einzugehen. Es kommen kulturelle Besonderheiten dazu, die wir erst lernen müssen. Wir haben drei Frauen, die auf Grund fürchterlicher Erlebnisse in kurzer Zeit in Ausnahmezustände geraten, mit dem Kopf gegen die Wand springen, weil die totale Verzweiflung nicht mehr aushaltbar ist, weil da überhaupt keine Zukunft gesehen wird. De facto können wir ihnen auch keine Zukunft bieten.

LM: Wenn man nicht aufpasst, kann es zu einer Psychiatrisierung vorrangig sozialer Probleme kommen. Diese Gefahr besteht immer und gilt auch für Flüchtlinge.

TSP: Hier rennen schon mal Leute tobend durch den Flur oder klettern auf einen Schrank und kommen nicht mehr runter. Sie brauchen starke Nerven und viel Optimismus.

LM: Beides, das muss man aushalten können. Und viel Humor mitbringen. Ohne ihn hat man in der Psychiatrie verloren. So kann man manchmal Sachen ausdrücken, die anders nicht ausdrückbar wären. Für Depression etwa ist Anhedonie ein Kennzeichen: dass man sich über nichts mehr freuen kann. Da helfen schon mal Ironie oder richtig schwarzer Humor.

IJJ: Auslachen hingegen ist schlecht, das ist herabwürdigend. Man muss zusammen mit jemandem lachen, Humor muss von beiden Seiten getragen sein. Wenn mich einer auslacht, vertrage ich das ja auch nicht.

TSP: Ein Beispiel?

LM: Wir hatten eine alte Frau, 84, mit einer Demenz. Die wollte unbedingt weggehen, ich muss zu den Eltern, die erwarten mich, ich muss zur Arbeit, ich muss, ich muss, ich muss… Da sagte ich, Frau Soundso, Sie sind doch schon 84. Dann lachte sie sich schlapp und meinte: Was, und in dem Alter muss ich noch arbeiten! Es gibt Inseln, da sind selbst demente Patienten durch Humor erreichbar.

TSP: Als wir Sie vergangene Woche besuchten und Sie führten uns durchs Krankenhaus, sahen wir eine Patientin, die hockte in einem leeren Zimmer und glaubte, sie sei im Hotel Adlon, und es handele sich um minimalistische Innenarchitektur. Hat die Frau uns veralbert oder war sie verwirrt?

IJJ: Sie war psychotisch, sie hat die Welt so wahrgenommen, war ein wenig fröhlich-verrückt unterwegs.

LM: Wir sind in der Psychiatrie in einer sehr bunten Welt des ehrlichen Menschseins, die Patienten sind keine Aliens aus einem anderen Kosmos. Es sind einfach Menschen mit vielen Facetten, wie wir auch. Manche sind unglaublich cool und stecken einen auch mal in die Tasche, sie sind überaus kreativ, das berührt mich immer wieder. Ich denke an diesen jungen Mann, der bezeichnete seine Mutter als Talent-Runterreguliererin. Was für eine Wortschöpfung!

TSP: Was bleibt, was verschwindet? Gibt es in der Psychiatrie die Formulierung „geheilt entlassen“?

IJJ: Es gibt Menschen, die haben einmal im Leben eine schwere Psychose und dann nie wieder. Und wir hatten für Jahrzehnte eine Lehrerin, mit der konnte man sich prima unterhalten, sie wirkte total normal. Sie hatte ihre andere Welt abgespalten, in dieser Welt wurde sie gefoltert, weil sie interessante Dinge wusste, sie war in permanentem Kontakt zum BND, dem Außenminister, zu wem auch immer, damit war sie der wichtigste Mensch des Planeten. Hätte sie diese wahnhaft-schillernde Ecke verlassen, wäre sie in die triste Bedeutungslosigkeit gerutscht. Wir haben alles versucht, nichts hat geholfen, sie war beeindruckend resistent. Mein Gefühl war, die brauchte das. Mit 75 sagte sie auf einmal, ich bin jetzt für die Geheimdienste zu alt, die haben kein Interesse mehr an mir. Wir haben sie von da an nie wieder in der Klinik gesehen, sie zog zu ihren Kindern.

TSP: In „Einer flog übers Kuckucksnest“ spielten echte Patienten einer Psychiatrie das Pflegepersonal. Bei Ihnen ist das Realität. Zwei Menschen, die selbst Patienten waren, sind nun bei Ihnen fest angestellt. Die Jobbezeichnung ist „Experten aus Erfahrung“. Was tun die?

IJJ: Diese zwei Mitarbeiter kennen die Psychiatrie aus langjährigem eigenen Erleben, mit allen Schwierigkeiten, und durchliefen später eine einjährige Ausbildung, das nennt sich Genesungsbegleiter. Die beiden haben eine Mittlerfunktion, die können zwischen uns Profis und den Patienten übersetzen. Sie arbeiten auf der Akut-Station und können sagen, hallo, ich war selbst hier drin, wir haben da etwas Gemeinsames, die und die Angebote kann ich machen.

LM: Es ist nicht immer alles krank in einem Menschen und auch nicht alles gesund, dazwischen gibt es ein Kontinuum. Die Recovery-Bewegung definiert Gesundheit nicht durch das Abhandensein von Symptomen, sonst gälte ja: 100 Prozent gesund gleich symptomfrei, und wer kann das schon von sich behaupten.

TSP: Was uns wundert: Es gibt bei Ihnen Besteck, Glas – sogar ein Aquarium. Die Leute hier drehen doch auch mal durch und gefährden möglicherweise andere.

LM: Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit, auch wenn man Messer, Gabeln und Teller aus Plastik verteilt oder alles mit Gummi auskleidet. Und so ein Aquarium hat ja etwas durchaus Beruhigendes. Eine hat es mal zu gut gemeint und die Fische mit Milch und Brot gefüttert, das ist denen nicht gut bekommen. Nun ist ein Deckel drauf, und den schließen wir ab, das Aquarium ist immer noch da. Natürlich gibt es Situationen, da muss man sehr aufpassen, wir haben die Sorgfaltspflicht allen gegenüber. Im Notfall gibt es ein Krisenzimmer, da ist nichts drin, womit man sich verletzen könnte, es ist reizarm eingerichtet, optisch wie akustisch, in einer Psychose ist man extrem dünnhäutig. Doch auch da ist wichtig, dass nicht nur wir in das Zimmer hineingucken können, sondern der Betroffene herausschauen kann, er fühlt sich nicht noch mehr eingeschlossen, das kann sonst wahnsinnige Angst machen. Da ist auch eine Tafel drin und Kreide, damit sie schreiben oder malen können, in der Manie zum Beispiel hat man viele bunte Bilder im Kopf, die sollen ruhig raus. Einmal schrieb jemand an die Tafel: Frau Dr. Mahler kommt zu spät zu ihrer eigenen Beerdigung. Das fand ich lustig, ich bin nämlich total pünktlich.

IJJ: Eigentlich passiert unglaublich wenig an Zerstörungswut, wenn man bedenkt, was für ein Gewusel in einer 28-Betten-Station ist, Personal dazu, da sind auf einem begrenzten Raum leicht mal 40 Menschen unterwegs – das alleine verursacht einen wahnsinnigen Stress. Deshalb versuchen wir, alles liebevoll einzurichten, auch das ist Normalisierung. Wo die Wände verschmiert sind, das Mobiliar schlimm aussieht oder ein Tisch zur Saftpfütze wird, neigt jeder dazu, nicht groß achtzugeben. Je angenehmer das Umfeld, desto weniger wird zertrümmert.

Cooling-Down-Pink gibt's hier nicht

Voll Psycho. Ausschnitt aus "Hedi Schneider steckt fest".
Voll Psycho. Ausschnitt aus "Hedi Schneider steckt fest".

© Komplizen Film/Pandora Film 2015

TSP: Die Räume sehen zum Teil aus wie ein modernes Design-Hostel, Wände mit gedeckten Farben. Gibt es dazu neuere Forschung?

LM: Verzeihung, ich muss nur so lachen, weil es da ein sogenanntes Cooling-Down-Pink gibt. Wir haben uns das angeguckt, und ich habe gesagt, wenn ich den ganzen Tag dieses Pink anschauen muss, werde ich psychotisch. Das nimmt jeder unterschiedlich wahr, wir haben entschieden, nicht zu dunkel, nicht zu grell …

TSP: Ihr Modell benötigt doch sicherlich mehr Personal und ist damit auch teurer?

LM: Nein. Unser Ziel ist es, die Strukturen unter den Bedingungen zu optimieren, die wir haben.

TSP: Bei allen gut gemeinten Bemühungen, Sie werden gelegentlich an Grenzen stoßen.

LM: Sicher geht mal was schief, doch das gehört zur Natur der Psychiatrie. Diese Menschen sind in Ausnahmesituationen, die greifen auch mal das Personal an, pures Laissez-faire wäre verantwortungslos. Auch im „Weddinger Modell“ haben wir Regeln, nur keine unsinnigen Restriktionen. Einige Vorschriften in Krankenhäusern dienen mehr dem Personal als dem Patienten. Feste Besuchszeiten für Angehörige. Ausgang nur bis 23 Uhr. Und wenn jemand nach 23 Uhr sagt, ich habe schreckliche Angst, ich muss mal kurz raus, sagen wir dann: sorry, die Regel!? Ich finde ja, wir sind sorgfältiger geworden, indem wir näher an den Menschen dran sind.

TSP: In dem Film „Hedi Schneider steckt fest“ bekommt die Frau nach Panikattacken Beruhigungsmittel mit nach Hause. Sie sagt: „Wirkt wie kiffen, nur besser.“ Psychopharmaka machen Ihnen die Arbeit leichter.

LM: Tabletten wie die im Film verabreichten, also Tavor, Valium, Diazepam, nehmen die Ängste, in Notsituationen ist das super und gut verträglich. Doch es ist nur eine Scheinsicherheit, wenn das Medikament nicht mehr wirkt, kehren die Ängste zurück, oft verstärkt. Das sind Benzodiazepine, und die führen schnurstracks zur Abhängigkeit, wie bei Alkohol, sie docken an die gleichen Rezeptoren an. Tavor wirkt zwei Stunden, dann müssen Sie nachlegen, Sie bekommen Entzugserscheinungen, zittern, schwitzen – und brauchen immer mehr. Als Nebenwirkungen kennen wir eine Art Demenz, man denkt nicht mehr klar, der Gang wird unsicher, man baut körperlich ab. Langfristig sind gerade Angststörungen psychotherapeutisch sehr gut zu behandeln. Bei anderen Krankheiten können Medikamente durchaus helfen, aber nur in Verbindung mit psychotherapeutischer und psychosozialer Unterstützung.

TSP: Die große Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, umgangssprachlich „Bonnies Ranch“, lag in Wittenau in einer parkähnlichen Anlage. Sie residieren mitten in der Stadt, im Touristenrummel. Reizarm sieht anders aus.

IJJ: Es gab viele Bedenken gegen diesen Standort, als wir 2007 hierher sind. Drumherum ist Tumult, das ist richtig, aber wir haben die Ruhe innerhalb des Hauses geschaffen. Der Vorteil ist, die Patienten verlieren nicht ganz den Kontakt zum normalen Leben, sie sind in Begleitung von uns schnell mal in der Realität unterwegs. Die Leute müssen irgendwann wieder in den Wedding, die Käseglocke ist auch nicht nur gut.

TSP: Bekommen Sie zu spüren, was gern mit Gentrifizierung beschrieben wird?

LM: Die Sozialarbeit hat viel zu tun. Es geht billiger Wohnraum verloren. Mietrückstände, die früher schon mal toleriert wurden, sind jetzt eine willkommene Gelegenheit, den Vertrag zu kündigen und dann teurer zu vermieten. Ich kann es nicht in Zahlen ausdrücken, aber es gab eine Menge Patienten, die nach ihrem Aufenthalt in der Psychiatrie wohnungslos waren.

TSP: Sprache ist ja in Ihrem Job sehr wichtig, Sie selbst sagen auch mal verrückt, wahnsinnig. Wir verwenden im Alltag oft irre, geisteskrank und …

LM:… geisteskrank benutzen wir nicht. Wenn jemand selbst sagt, ich bin bekloppt oder ich habe einen Sockenschuss, dann lässt man das stehen. Ich habe mal zu einem Patienten gesagt, als der eine Aids-Reinigungsmaschine bauen wollte, das ist selbst für Sie komplett verrückt, da musste der herzlich lachen. Zu einer Patientin, die mich mit ihren Verfolgern in der Heimat unter eine Decke steckte, meinte ich: Nun tun Sie doch nicht so psychotisch! Das fand die großartig und schrieb später einen Aufsatz mit dem Titel „Wie eine schwangere Ärztin eine Mutter daran hinderte, an ihrer Situation zu verzweifeln“. Sie hat mir den dann zugeschickt. Sprache ist ein sensibles Feld, sie kann einen Weg bieten oder versperren. Wenn ich bei der Aufnahme sage, da kommt der chronisch Schizophrene, dann ist das Ding quasi gelaufen. Wenn ich hingegen sage, da kommt Herr Müller, der ist in einer Krise, Vordiagnose ist Schizophrenie, zeigt das eine andere innere Haltung.

TSP: Verraten Sie doch bitte mal Ihren liebsten Psychiatrie-Witz.

LM: Ein Mann, der sich verfolgt fühlte, soll nach acht Monaten Psychiatrie entlassen werden. Der Arzt fragt ihn in der letzten Visite: „Sie wissen inzwischen schon, dass sie kein Huhn sind?“ – „Na klar“, antwortet der Patient erfreut, „aber wissen das auch die Füchse?“

DER NEUE FILM

Seit einigen Tagen läuft im Kino„Hedi Schneider steckt fest“ von Regisseurin Sonja Heiss, Hauptdarstellerin ist Laura Tonke; sie spielt eine junge Frau, die plötzlich Panikattacken bekommt, Ärzte und Therapeuten aufsucht. Auf dem Foto weigert sie sich, eingenommene Tabletten herauszugeben. Heiss und Tonke waren vor den Dreharbeiten zu Recherchen im Hedwig-Krankenhaus, um Einblicke in die Psychiatrie und den Umgang mit Patienten zu bekommen und den Film realistisch zu gestalten.

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