Patientensicherheit im OP? : Täter, Tat und Tatort
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Ist es im Operationssaal immer steril? Bild: dpa
Die deutschen Chirurgen ziehen Bilanz: Werden Behandlungsfehler heute eher verhindert? Einiges deutet darauf hin. Doch Fakt ist: Viele Kliniken haben Sicherheitsmaßnahmen immer noch nicht eingeführt.
Behandlungsfehler waren lange Zeit kein Thema in der Medizin, obwohl die Heilkunst viele Risiken hat. Das änderte sich schlagartig, als vor zehn Jahren der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie erstmals öffentlich über unerwünschte Ereignisse diskutierte. Zugzwang war unter anderem durch einen sechs Jahre zuvor in den Vereinigten Staaten veröffentlichten Bericht entstanden. Dieser hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass vermeidbare Behandlungsfehler eine relevante Todesursache sind und dass es Behandlungsfehler in dieser Hinsicht sogar mit einigen großen Volkskrankheiten aufnehmen können.
Viele Staaten waren nach der Veröffentlichung dieses Berichts nicht mehr bereit, die hohen Fehlerquoten weiter zu akzeptieren. Seither sind viele Maßnahmen und Initiativen zur Vermeidung von Patientenschäden bei operativen Eingriffen entwickelt und implementiert worden. In Deutschland wurde damals auch das Aktionsbündnis Patientensicherheit gegründet, das sich heute als nationales Programm zum Ausbau der Patientensicherheit versteht. Der diesjährige Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in München hat nun bilanziert, wo die Patientensicherheit in Deutschland steht. Dabei wurde deutlich, dass viele Fortschritte gemacht worden sind, dass aber niemand sicher weiß, wie viele Behandlungsfehler tatsächlich vermieden werden. Jede dritte bis vierte Klinik hat wichtige Sicherheitsmaßnahmen nicht eingeführt. Außerdem wird die Personalknappheit zum Damoklesschwert.
Auf der Habenseite steht, dass heute offen über Behandlungsfehler gesprochen wird. Eine Sicherheitskultur wurde etabliert. Positiv ist auch zu verbuchen, dass nicht nach Schuldigen gesucht wird, sondern nach Lösungen. Die zentrale Frage lautet nicht, wer hat den Fehler begangen, sondern was hat zu dem Fehler geführt und wie kann er in Zukunft vermieden werden. Patientensicherheit ist heute nationales Gesundheitsziel. Vor zwei Jahren trat zudem das Patientenrechte-Gesetz in Kraft, das wichtige Regelungen zur Patientensicherheit enthält. Hedwig Francois-Kettner, Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, machte in München deutlich, dass es nie darum gegangen sei, Fehler anzuprangern oder Vorkommnisse zu skandalisieren. Das Aktionsbündnis hat viele Handlungsanweisungen und Checklisten erarbeitet, die inzwischen bundesweiter Standard sind und an denen sich auch die Haftpflichtversicherer orientieren, wie Peter Gausmann von der Gesellschaft zur Risikoberatung in Detmold sagte.
Der Chirurg Matthias Rothmund stellte aktuelle Zahlen zur Einführung wichtiger Sicherheitsmaßnahmen in deutschen Kliniken vor. Die Angaben basieren auf einer vor wenigen Monaten durchgeführten Befragung von 3328 Chirurgen. Die meisten von ihnen sind Chefärzte oder Oberärzte. Rothmund hatte das Thema Patientensicherheit vor zehn Jahren auf die Tagesordnung des damaligen Chirurgenkongresses gesetzt. Nach dieser Befragung nutzen mehr als neunzig Prozent der Kliniken Sicherheits-Checklisten und markieren die spätere Schnittführung mit einem nicht abwaschbaren Stift auf der Haut, um Seitenverwechslungen zu vermeiden. 87 Prozent der Kliniken verwenden Infektionsstatistiken.
Drei Viertel der Kliniken halten Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen ab, um zu besprechen, ob bei Komplikationen oder Todesfällen vermeidbare Fehler im Spiel gewesen sind und was dagegen getan werden kann. Drei Viertel der Kliniken verwenden Armbänder, um Patienten, die sich wegen einer Erkrankung oder mangelnder Sprachkenntnis nicht verständlich machen können, sicher zu identifizieren. Zwei Drittel der Kliniken schulen neue Mitarbeiter oder weisen Mitarbeiter in neue Geräte ein. Doch nur drei von vier Kliniken haben ein anonymes Fehlermelde- und Berichtssystem eingeführt, obwohl der Gemeinsame Bundesausschuss die Kliniken zur Integration eines Fehlermeldesystems in ihr Qualitätsmanagement verpflichtet hat. Damit sollen Gefährdungen angezeigt werden, bevor jemand zu Schaden kommt. Mehr als die Hälfte der Ärzte hat in der Befragung auch angegeben, dass sie nicht davon überzeugt sind, dass ein Fehlermeldesystem tatsächlich etwas bewirkt. „Die Zahlen zeigen“, so Rothmund, „dass kontinuierlich an weiteren Verbesserungen gearbeitet werden muss.“
Wären Sanktionen ein Mittel, um weitere Verbesserungen zu erzielen? In den Vereinigten Staaten werden eindeutige Behandlungsfehler - wie etwa die Operation des falschen Knies - nicht mehr von der Krankenversicherung Medicare vergütet. In Deutschland setzen die Haftpflichtversicherungen die Kliniken zunehmend unter Druck. Peter Gausmann sagte, dass die Versicherungen Maßnahmen zur Verbesserung der Patientensicherheit einfordern und Präventionsprogramme mit einem Bonus belohnen. Daher sei die Höhe der Haftpflichtversicherungsbeiträge für die Kliniken ein wichtiger Anreiz, die Sicherheitsmaßnahmen auch tatsächlich einzuführen.
Sterben heute weniger Menschen in Deutschland an vermeidbaren Behandlungsfehlern als vor zehn Jahren? Diese Frage lässt sich nicht beantworten, weil die implementierten Sicherheitsmaßnahmen nicht angemessen evaluiert werden. Es gibt weder eine einheitliche Datenerfassung noch ein Register für Behandlungsfehler. Man kenne zwar die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland, sagte Francois-Kettner, aber nicht die Zahl der Todesfälle durch vermeidbare Behandlungsfehler. Alle Angaben sind lediglich Schätzwerte. Das Aktionsbündnis geht davon aus, dass in deutschen Krankenhäusern jährlich rund 17 000 Patienten wegen Fehlern sterben. Auch die Schadensfälle, die den Krankenkassen, Schiedsstellen oder Haftpflichtversicherern gemeldet werden, sind nicht in einer Liste zusammengeführt. Es gibt auch keine Verlaufsbeobachtungen. Dass im Patientenrechte-Gesetz kein Register für Behandlungsfehler verankert worden ist, liege daran, dass der Gesetzgeber in diesem Bereich keine Gesetzgebungskompetenz habe, sagte Bettina Godschalk vom Bundesgesundheitsministerium.
Als größtes Risiko für die Patientensicherheit wird inzwischen die zunehmende Personalknappheit gesehen. Heute werden immer mehr Patienten von immer weniger Personal betreut. Das ist eine Folge des DRG-Systems, das Behandlungsfälle vergütet, ohne dabei den Faktor Zeit zu berücksichtigen. Wie angespannt die Situation in den Kliniken ist, machte Bernd Metzinger von der Deutschen Krankenhausgesellschaft deutlich. Auf einen Krankenhaus-Mitarbeiter in Vollzeit kommen 23 339 behandelte und entlassene Patienten pro Jahr, sagte Metzinger in München. Dieser Wert sei zweieinhalb Mal so hoch wie in der Schweiz. Nur in der Slowakei sei die Arbeitsbelastung noch größer.
Günther Jonitz, Präsident der Ärztekammer Berlin, verglich die deutschen Anstrengungen für eine bessere Patientensicherheit mit den Bemühungen in anderen Ländern. Ein wesentlicher Unterschied bestehe darin, so Jonitz, dass die Aktivitäten hierzulande nicht von einer nationalen Behörde verordnet worden seien, sondern von den Partnern im Gesundheitswesen gemeinschaftlich entwickelt und getragen worden seien. Dadurch seien die wichtigen Interessengruppen von Anfang an beteiligt gewesen. Günstig sei auch, dass alle Handlungsanweisungen und Empfehlungen frei zugänglich seien. Dass die Chirurgen in Deutschland eine Schlüsselrolle bei der Einführung einer Sicherheitskultur übernommen haben, lag nicht daran, dass sie besonders viele Fehler machen, sondern dass chirurgische Fehler besser zu sehen sind als solche in konservativen Fächern. Bei einer Operation gibt es immer einen Täter, eine Tatzeit und einen Tatort.
Was könnte weiter getan werden? Francois-Kettner wünscht sich, dass die Kranken noch stärker als bisher in die Fehlervermeidung eingebunden werden. „Patienten sind mutiger, als man denkt“, sagte sie in München. Die Kranken müssten nachvollziehen können, wo die Risiken liegen, und gezielt um Mithilfe gebeten werden. Auch Eigenverantwortung diene der Patientensicherheit.
Kommentar: Seid ihr sicher?
Seit einigen Jahren versucht die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie, teilweise vorbildlich, die Sicherheitskultur in den eigenen Reihen zu verbessern. Nicht ins Bild passt daher eine gemeinsame Stellungnahme der DGCH und der Deutschen Gesellschaft für Biomedizinische Technik. Darin heißt es, die von der EU geplante Erneuerung der Medizinprodukteverordnung stoße bei der DGCH auf „erhebliche Bedenken“. Denn „die Novelle werde Innovationen blockieren“. Hans-Joachim Meyer, der Generalsekretär der DGCH, sagt, ein aufwändiges Zulassungsverfahren, wie die (neue) Medizinprodukteverordnung es vorsehe, sei keine Garantie für eine erhöhte Sicherheit der Patienten. Schützenhilfe erhält er vom Präsidenten der Fachgesellschaft, Peter Vogt und dem Vorsitzenden der Sektion Chirurgische Forschung der DGCH, Ernst Klar. Was diese nicht erwähnen: Bei der Einführung neuer Medizinprodukte erhält die Sicherheit des Patienten derzeit viel zu wenig Beachtung. Eine grundlegende Überarbeitung des Medizinproduktegesetzes ist daher dingend notwendig und wird, bislang allerdings erfolglos, unter anderem von Patientenorganisationen, aber auch einigen Chirurgen, seit Jahren gefordert. Wie sich abzeichnet, enthält die Novelle aber nur einen Bruchteil der verlangten Änderungen. Offenbar ist es den Lobbyisten gelungen, den ursprünglichen Antrag weichzuspülen. Insofern dürfte es in Zukunft weiterhin möglich sein, neue Eingriffsarten und medizintechnische Verfahren weitgehend unkontrolliert anzuwenden – bis sich dann irgendwann herausstellt, dass sie möglicherweise doch nichts bringen oder gar schaden. Weshalb für Medizinprodukte andere Regeln gelten sollen als für Medikamente, wie der DGCH-Präsident meint, lässt sich schwer nachvollziehen. Sein Argument, die Entwicklung von Medizinprodukten sei – anders als jene von Arzneimitteln – nach der Einführung nicht abgeschlossen, ist jedenfalls wenig überzeugend. Umgekehrt könnte man auch sagen: Medikamente kann man jederzeit absetzen, während der Ausbau von Implantaten in der Regel nicht nur erhebliche Zeit in Anspruch nimmt, sondern zudem beträchtliche Risiken birgt. Und Eingriffe lassen sich vielfach überhaupt nicht mehr rückgängig machen. Etliche Beispiele illustrieren, wie gefährlich es ist, neue Eingriffsarten oder Medizinprodukte ohne eingehende klinische Prüfung anzuwenden. Hierzu zählt die kathetergestützte Nierennervenverödung gegen hartnäckigen Bluthochdruck: Als eine von der amerikanischen Arzneimittelbehörde geforderte klinische Studie zeigte, dass das Katheterverfahren keinen Nutzen bringt, waren in Deutschland bereits etliche Patienten damit behandelt worden. Wenn es um ihre Patienten geht, sollten Ärzte daher auf Nummer Sicher gehen. (Nicola von Lutterotti)