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So streichen Kassen Langzeitkranken das Krankengeld

Etwas weniger als die Hälfte aller Langzeitkranken muss sich vom Medizinischen Dienst untersuchen lassen. Jeder fünfte davon wird anschließend gesund geschrieben Etwas weniger als die Hälfte aller Langzeitkranken muss sich vom Medizinischen Dienst untersuchen lassen. Jeder fünfte davon wird anschließend gesund geschrieben
Etwas weniger als die Hälfte aller Langzeitkranken muss sich vom Medizinischen Dienst untersuchen lassen. Jeder fünfte davon wird anschließend gesund geschrieben
Quelle: Infografik Die Welt
Die Zahl der Langzeitkranken in Deutschland steigt. Doch oft trauen die Kassen dem Hausarzt nicht – und kontrollieren selbst nach. Für die Betroffenen kann damit eine neue Zeit der Leiden beginnen.

Rudolf Meier (Name geändert) ist körperlich am Ende. Der 58-Jährige hat kaputte Knie. Zudem machen dem früheren Energieanlagenwart Depressionen zu schaffen. Dazu kommt ein entzündeter Darm, der ihn nun wieder ins Krankenhaus zwingt.

Auch seine Frau leidet darunter: „Der Mann ist schwer krank, er kann nicht mehr – und ich bin auch am Ende meiner Kräfte“, sagt Ingeborg Meier. Meier arbeitete jahrzehntelang bei BMW in einem Oberpfälzer Werk. Am Ende einigte man sich auf eine Abfindung. Seine Ärzte sagen: Meier kann nicht arbeiten.

Doch seine Krankenkasse sieht das anders. Laut einem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) kann er wieder arbeiten gehen. Er erhielt ein Schreiben seiner Krankenkasse: „Die Feststellung Ihrer Arbeitsfähigkeit ist dadurch begründet, dass bei Versicherten, die zuletzt arbeitslos waren, Arbeitsfähigkeit bereits dann besteht, wenn eine leichte Tätigkeit ausgeübt werden kann“, heißt es dort. Darunter fallen laut der Krankenkasse etwa „Museumsaufsicht, Pförtner, Telefonist oder auch Postverteiler.“

Kurzum: Die Kasse strich Meier das Krankengeld. Seither lebt das Ehepaar vom Einkommen der halbtags bei einem Amt beschäftigten Frau – und vom Ersparten: „Ich hebe jeden Monat 1500 Euro vom Konto ab“, sagt Ingeborg Meier.

Immer mehr Langzeitkranke

Das Gutachten wurde lediglich per Aktenlage erstellt. Der 58-Jährigen wurde von keinem Arzt des Medizinischen Dienstes untersucht. Die Stellungnahme umfasst vier Zeilen und kommt zu dem Schluss, dass „bei bestehender Befund- und Infolage“ festgestellt wurde, dass „eine leichte Tätigkeit (...) durchaus möglich war“. Alle Atteste von approbierten Ärzten, die Meier vorlegte, waren damit wirkungslos.

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Krankengeld wird in der Regel ab der sechsten Krankheitswoche gezahlt. In Deutschland gibt es immer mehr solche Langzeitkranke. Betrug der Jahresschnitt der Krankengeldbezieher 2014 bundesweit 1,08 Millionen Menschen, waren es im März 2015 bereits 1,28 Millionen.

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Quelle: Die Welt

Die Bundesregierung hat inzwischen auf die steigende Zahl an Krankengeldbezieher reagiert und lässt bis Sommer 2015 ein Sondergutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen erstellen.

Parallel mit dem Anstieg der Krankengeld-Bezieher prüfen die Kassen nun auch häufiger, ob der Versicherte tatsächlich arbeitsunfähig ist. Denn der Anteil der Krankgemeldeten, die von den Kassen zum MDK geschickt werden, stieg zuletzt schnell. Im Jahr 2010 waren es noch 36 Prozent, drei Jahre später waren es bereits 45 Prozent aller Krankengeld-Bezieher. In all jenen Fällen traute die Kasse also dem behandelnden Arzt nicht und schaltete den MDK ein.

20 Prozent werden gesund geschrieben

Entsprechend nimmt die Zahl der Gutachten durch den MDK Jahr für Jahr zu. Waren es 2010 noch knapp 580.000 Gutachten von Kassenpatienten, die Krankengeld bezogen, stieg die Zahl 2013 auf 621.000 an. 2013 waren das immerhin rund 124.000 Arbeitnehmer, denen ein Arzt ursprünglich attestiert hatte, nicht arbeiten zu können.

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Im Jahr 2014 sind die Zahlen der angezweifelten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zwar zurückgegangen: Etwa 587.000 Mal musste ein ärztliches Attest vom Medizinischen Dienst überprüft werden, 17 Prozent davon wurden aufgehoben – die betroffenen mussten wieder arbeiten gehen.

Die Betroffenen rutschen in eine Problemzone, insbesondere dann, wenn sie kein Krankengeld mehr bekommen, gleichzeitig aber ein Sozialgerichtstermin auf sich warten lässt.
Ulrich Becker, Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik

Für den Rückgang dürften aber auch Maßnahmen wie die Rente mit 63 verantwortlich sein, die ältere Langzeitkranke von den Krankenkassen-Töpfen in die Rentenkasse rutschen lässt. Immer noch aber waren es vergangenes Jahr rund 100.000 Krankgeschriebene, die trotz ärztlichem Attest arbeiten gehen mussten.

Der Anteil jener Versicherten, deren Krankschreibung für nichtig erklärt wurde, blieb konstant. Er beträgt über die vergangenen Jahre hinweg jeweils rund 20 Prozent.

Krankenkassen hüllen sich in Schweigen

Es sei nachzuvollziehen „dass die Krankenkassen prüfen, wenn Krankengeld gezahlt werden muss. Schließlich geht es hier auch um Mitgliederbeiträge und erhebliche Kosten“, sagt Ulrich Becker vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik. Der Medizinische Dienst sei die richtige Anlaufstelle, „auch wenn dieser bei den Krankenkassen angegliedert und damit nicht völlig neutral ist.“

Andererseits bestätigt Becker, dass „die Betroffenen in eine Problemzone rutschen, insbesondere dann, wenn sie kein Krankengeld mehr bekommen, gleichzeitig aber ein Sozialgerichtstermin auf sich warten lässt.“

Schwierig wird es bei der Frage, ob es bestimmte Kassen gibt, die Krankengeld-Empfänger besonders häufig zum Medizinischen Dienst schicken. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat nach eigenen Angaben keine Zahlen vorliegen.

Auch die Krankenkassen hüllen sich in Schweigen. Der AOK-Bundesverband antwortet, man habe keine „MDK-Controlling-Auswertungen zur Krankengeldbegutachtungen verfügbar“. Auch bei IKK classic, Barmer und Techniker Krankenkasse gibt es keine Angaben.

Viele wissen nichts von Gesundschreibung

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Die KKH hingegen veröffentlicht Zahlen. Bei ihr liegen diese deutlich unter dem Durchschnitt. Auffällig dabei ist, dass diese deutlich abweichen von den Zahlen des Bundesverbands der Medizinischen Dienste. Zwar wird auch bei der KKH der MDK etwa in jedem zweiten Fall eingeschaltet.

Doch nur sechs Prozent aller Fälle werden als unberechtigt, sprich zumindest teilweise arbeitsfähig eingestuft – die Zahl der Gesundschreibungen über alle Kassen hinweg liegt bei rund 20 Prozent. Nur bei drei Prozent aller Fälle beendet die KKH dann tatsächlich die Krankengeldzahlung. Diese Entscheidung obliegt nämlich den Kassen selbst.

Beim Verband der Unabhängigen Patientenberatungen in Berlin ist man häufig mit Krankengeld-Beziehern konfrontiert, deren ärztliches Attest vom MDK aufgehoben wurde. „Gerade weil so viele davon betroffen sind, häufen sich bei uns auch die Anfragen“, sagt Jan Bruns Patientenberatungen.

„Oft stellen die Berater aber fest, dass die Betroffenen gar nicht wissen, warum sie gesundgeschrieben wurden.“ Häufig sind es nicht Zweifel an der ärztlichen Einschätzung, ob jemand arbeitsfähig sei oder nicht, sondern oftmals sind es Verfahrensfragen: „Wenn ein Arzt beispielsweise keine Therapie einleitet, dann kann das dazu führen, dass die MDKs zu der Einschätzung kommen, dass eine Arbeitsfähigkeit besteht“, sagt Bruns.

Es ist natürlich auch ein legitimes Anliegen der Kassen, auch aus wirtschaftlichen Gründen zu überprüfen, ob ein Anspruch tatsächlich besteht.
Claudia Schlund, Patientenberaterin

Zudem komme es auch vor, dass die Krankschreibe-Praxis des jeweiligen Arztes so lax ist, dass der MDK grundsätzliche Zweifel anführt – „das kann der Patient oft aber gar nicht wissen“, so der Sprecher der Patientenberatung.

Wortlaut des Gutachtens anfordern

Der Ratschlag an Betroffene lautet dann auch: „Immer das Gutachten im Wortlaut anfordern, damit man überhaupt erst einmal erfährt, warum es so ausfiel.“ Zudem sollte man „unbedingt auf eine Therapie bestehen und den Arzt auch offen fragen, was er gegen die Erkrankung zu tun gedenkt.“

Claudia Schlund ist Patientenberaterin in Nürnberg. Sie beobachtet, dass „viele Betroffene psychische Probleme haben, die aufgrund einer Situation am Arbeitsplatz entstanden sind.“ Häufig seien es Mobbing, Stress und die hohe Arbeitsbelastung, die die Menschen krank gemacht hätten.

Auch sie bestätigt, dass die Zahl der Betroffenen groß ist – „gleichzeitig ist es natürlich auch ein legitimes Anliegen der Kassen, auch aus wirtschaftlichen Gründen zu überprüfen, ob ein Anspruch tatsächlich besteht.“ Doch häufig bekämen die Betroffenen „zunächst gar nicht mit, dass ihr Fall überprüft wird, erst wenn ein rechtswirksamer Bescheid erlassen wird, dass sie beispielsweise ab nächsten Montag wieder arbeiten müssen.“

„Glaube an den Staat verloren“

Die Patientenberatung bewertet den jeweiligen Fall nicht – sondern versucht, die rechtlichen Möglichkeiten aufzuzeigen. „Vielen Betroffenen zieht es in einer schwierigen Situation nochmal den Boden unter den Füßen weg“, schildert Claudia Schlund.

Der 58-jährige Rudolf Meier hat inzwischen Klage vor dem Sozialgericht eingereicht. Der Fall hängt nun seit Monaten fest – bis es zu einer Verhandlung kommt, bezieht Meier keinen Cent mehr von der Kasse.

Entscheidet das Gericht für ihn, muss die Krankenkasse das komplette Krankengeld seit März 2014 nachzahlen. Ob er daran glaubt? „Ich habe meinen Glauben an diesen Staat verloren“, sagt er.

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