«Man muss das Medizinstudium überdenken»

Gerade in Bereichen wie der Intensivmedizin kämpft Andreas Zollinger, ärztlicher Direktor des Triemlispitals, mit Personalmangel. Viele Ärzte schrecken Schichtarbeit und die aufreibende Tätigkeit ab.

Interview: jhu.
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Es ist allenthalben vom Ärztemangel die Rede. Spüren Sie den auch am Triemli?

Den spüren alle Spitäler, und es ist auch klar, dass dieses Problem in den nächsten Jahren noch zunehmen wird. Im Moment ist es weniger ein Problem bei den Assistenzärzten als vielmehr ein Problem bei den Oberärzten und den höheren Kaderärzten.

Woran liegt das?

Zum einen hat die Spezialisierung enorm zugenommen. Heute kann man nicht mehr einfach einen allgemeinen Chirurgen anstellen, man braucht für jeden Teilbereich Spezialisten und damit mehr Personal. Gleichzeitig sind die Ansprüche der Patientinnen und Patienten gestiegen: Alles, was machbar ist, will man bis zum Äussersten ausreizen. Damit steigt auch der Aufwand. Und schliesslich wurden die Arbeitszeiten für die Assistenz- und Oberärzte verkürzt. Wofür man früher zwei Schichten hatte, hat man heute drei. Das verschärft den Ärztemangel zusätzlich. Das Hauptproblem ist aber immer noch, dass nicht genug Ärzte ausgebildet werden.

Es wird auch immer mehr Teilzeit gearbeitet. Kann das auf Dauer gut gehen?

Natürlich ist das ein Problem, aber das heisst nicht, dass wir uns dagegen wehren können. Gerade weil es zu wenige Ärzte gibt, können sie die Anstellungsbedingungen ein Stück weit diktieren. Wir müssen ihnen Arbeitsmodelle anbieten, die zum Teil individuell auf ihre Bedürfnisse abgestimmt sind, damit sie eine Stelle annehmen. Das macht die Sache für uns nicht einfacher.

Durch die Teilzeitarbeit verlängert sich zudem die Ausbildungszeit.

Das ist ein riesiges Problem. Die Ausbildungsinhalte sind ja gegeben, zum Beispiel die Zahl der Fälle, die man behandelt haben muss. Wenn man 50 Prozent arbeitet, dann dauert die Ausbildung doppelt so lange. Zusammen mit der zunehmenden Spezialisierung geht es damit sehr lange, bis die jungen Ärzte bereit sind für Kaderstellen.

Gibt es Bereiche, für die es besonders schwierig ist, Personal zu finden?

In allen Spitälern gibt es zum Beispiel Engpässe in der Intensivmedizin. Das ist eine Arbeit, die einen sehr stark beansprucht. Man ist ständig eingespannt, muss immer verfügbar sein und ausserdem Schicht arbeiten. Gerade wenn man älter wird, zehrt das an den Kräften. Nicht alle wollen das auf sich nehmen. Zudem haben wir die besondere Situation, dass es den Facharzttitel in Intensivmedizin nur gerade in der Schweiz und Spanien gibt. Wir können deshalb kaum Leute aus dem Ausland auf der Intensivstation anstellen.

Die Oberärzte am Triemlispital unterstehen nicht dem Arbeitsgesetz. An anderen Spitälern müssen sie nur 50 Stunden die Woche arbeiten. Haben Sie dadurch Probleme bei der Rekrutierung?

Im Durchschnitt arbeiten unsere Oberärztinnen und -ärzte nicht mehr als an anderen Spitälern. Nur in Einzelfällen ist das so. Die Arbeitszeit ist ja aber nur ein Faktor. Unser Spital bietet dafür ein breites Arbeitsspektrum, grosse Interdisziplinarität und einen guten Teamgeist. Bezüglich Arbeitszeit und Abgeltung besteht in der Stadt aber tatsächlich Handlungsbedarf.

Es gibt bald mehr Medizinerinnen als Mediziner. Was verändert sich dadurch?

Team-Bildung, sich gegenseitig zu unterstützen, das hat einen anderen Stellenwert erhalten. Das ist positiv. Haudegen, wie sie früher noch vorgekommen sind, sind zum Glück aus dem Klinikalltag verschwunden. Mit dem höheren Frauenanteil hat aber auch der Anteil der Teilzeitarbeitenden zugenommen, mit den erwähnten Folgen.

Welche Massnahmen müssen gegen den Ärztemangel ergriffen werden?

Man muss sicher die Zahl der Studienplätze signifikant erhöhen. Ausserdem müsste man auch das Medizinstudium überdenken. Heute lernen ein Hausarzt und ein Herzchirurg während sechs Jahren das Gleiche. Erst danach beginnt die Spezialisierung, die nochmals fünf bis zehn Jahre in Anspruch nimmt. Das liesse sich beschleunigen. In den Spitälern müssen wir zudem darauf achten, dass die Ärzte wieder vermehrt das tun können, wofür sie ausgebildet wurden. Das heisst, dass wir sie vom Administrativen entlasten müssen. Die Dokumentation der medizinischen Leistungen sowie Rückfragen von Versicherungen haben mit der Einführung des Fallpauschalen-Modells massiv zugenommen.