Gesundheitswesen
«Wir sind ein Volk von Hypertonikern»

Der emeritierte Medizinprofessor Fritz Hefti beschreibt, welche Blüten die neue Spitalfinanzierung treibt. Er sorgt sich weniger um hohe Kosten als um abnehmende Qualität.

Anna Wanner
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Herr Hefti, vor zweieinhalb Jahren wurde das System der Fallpauschalen mit dem Fernziel eingeführt, die Kosten in den Griff zu kriegen. Was ist Ihre Zwischenbilanz?

Fritz Hefti: Das System wird ausgereizt. Alle Spitäler haben Personen angestellt, die ausloten, wie sie am besten zu Geld kommen, wie sie das System optimieren. Ziel ist, alles zu notieren, was irgendwie Geld bringt. Ein typisches Beispiel: Wir sind neuerdings ein Volk von Hypertonikern, das heisst, Patienten mit hohem Blutdruck. Jede Person, die in ein Spital einrückt, ist aufgeregt. Wenn man ihr zu jenem Zeitpunkt den Blutdruck misst, ist er höher als normal. Das wird als Krankheit festgehalten, weil es bei der Abrechnung mehr Geld gibt. Dabei normalisiert sich der Blutdruck in der Regel nach einem Tag wieder.

Es wird somit geschummelt.

Fritz Hefti Fritz Hefti, emeritierter Ordinarius an der medizinischen Fakultät der Universität Basel, war früher Chefarzt für Kinderorthopädie am Universitätskinderspital beider Basel (UKBB). Der 69-Jährige beschreibt im Artikel «Hurra, die Gesundheitskosten steigen – dem Wettbewerb sei Dank!» die Probleme des Schweizer Gesundheitswesens. Der Artikel erschien dieses Jahr in «Extremitäten-Chirurgie im Wandel».

Fritz Hefti Fritz Hefti, emeritierter Ordinarius an der medizinischen Fakultät der Universität Basel, war früher Chefarzt für Kinderorthopädie am Universitätskinderspital beider Basel (UKBB). Der 69-Jährige beschreibt im Artikel «Hurra, die Gesundheitskosten steigen – dem Wettbewerb sei Dank!» die Probleme des Schweizer Gesundheitswesens. Der Artikel erschien dieses Jahr in «Extremitäten-Chirurgie im Wandel».

Zur Verfügung gestellt

Sie haben vor der Einführung der Fallpauschalen gewarnt. Wird tatsächlich mehr operiert?

Das ist so. Aber schon vorher wurde oft unnötig viel operiert. Auch die Tagespauschalen förderten eine Mengenausweitung, allerdings nicht so stark. Die massive Kostensteigerung, die wir erleben, hängt damit zusammen. Alle risikoarmen Eingriffe, die relativ gut standardisiert sind, rentieren. Jedes Spital, jeder Arzt hat die Tendenz, möglichst viele solcher Operationen zu machen. Was ich geradezu unanständig finde, ist, dass gewisse Spitaldirektionen ihren Ärzten Boni bezahlen, wenn sie mehr solche Patienten bringen.

Der Arzt steht im Konflikt: Er hat eine ethische Verantwortung gegenüber seinem Patienten, spürt aber auch einen wirtschaftlichen Druck vonseiten des Spitals ...

... er spürt nicht nur den Druck des Spitals, er verfolgt auch persönliche Interessen: Je mehr er operiert, desto besser verdient er. Am Ende ist es eine Frage der Betrachtung. Unsere Gesellschaft betrachtet es als unmoralisch, wenn jemand im Gesundheitswesen viel Geld verdient. Wenn jemand aber in der Industrie viel Geld verdient, wird das positiv gesehen: Die Wirtschaft floriert. Im Gesundheitswesen wurden letztes Jahr 68 Milliarden Franken umgesetzt. Es gibt kaum einen Wirtschaftszweig, der so floriert! Wenn wir es positiv sehen, kommen wir zum Schluss: Wir sind ein reiches Land, wir können uns das leisten. Wir geben 11,5 Prozent des BIP für unsere Gesundheit, für ein längeres Leben aus.

Trotzdem gibt es eine ethische Linie. Wird ein Patient operiert, bei dem das medizinisch gar nicht angezeigt ist, wird sie überschritten.

Das ist unethisch. Was ich aber sagen wollte: Mir geht es nicht darum, die Gesundheitskosten zu senken. Ich bin Mediziner, nicht Politiker oder Ökonom. Mir geht es um die Erhaltung der Qualität, die heute noch hervorragend ist.

Ist diese denn in Gefahr?

Die neue Spitalfinanzeriung

2009 trat die Gesetzesrevision zur neuen Spitalfinanzierung in Kraft, 2012 wurde der grosse Brocken umgesetzt: Die Einführung von leistungsbezogenen Fallpauschalen, die gesamtschweizerisch festgelegt werden. Im Prinzip sollte eine bestimmte Behandlung gleich teuer sein, egal, in welchem Spital sich der Patient behandeln lässt. Über die Transparenz der Kosten und in der Theorie auch der Qualität sollte ein Wettbewerb zwischen den Spitälern entstehen. Bisher fehlen den Patienten aber Informationen, um zu wissen, für welches Spital sie sich entscheiden sollen. Schliesslich hätte die Reform Anreize schaffen sollen, um die Kosten einzudämmen. Ob das tatsächlich klappt, ist höchst umstritten.

Wir profitieren vom Fortschritt in der Medizin.

Ja. Aber man muss differenzieren. Beispielsweise werden die USA oft gepriesen, weil sie die höchste Qualität in der Spitzenmedizin ausweisen. Die Amerikaner sind spitze in der Forschung, weil sie viel Geld haben. Und sie sind spitze in der hoch spezialisierten Behandlung, weil das Einzugsgebiet gross ist und dadurch mehr Fälle behandelt werden. Hingegen ist die Qualität der Behandlung in den USA ausserhalb der Zentren deutlich schlechter als bei uns, das Vertrauen in die Ärzte ist viel tiefer, wie eine amerikanische Studie vor kurzem eindrücklich zeigte. Der Schweiz wies die Studie weltweite Spitzenwerte nach. Die Essenz ist: DRGs und Kostensteigerung führen nicht zwingend zu einer Verbesserung der Qualität.

Das Gesundheitswesen wird in der Schweiz gemeinhin für gut befunden. Wieso sollte sich das ändern?

Es gibt bedenkliche Entwicklungen. Über die Problematik der Indikationen haben wir schon gesprochen. Zweitens führen DRGs dazu, dass Spitäler dort zu sparen beginnen, wo kein Geld generiert wird. Ärzte braucht es, weil sie Patienten ins Spital bringen. Und der Verwaltungsapparat wird immer mehr aufgebläht, weil auch dort Geld generiert wird. Wo gespart wird, ist beim Pflegepersonal. In Deutschland hat sich die Zahl seit Einführung des DRG-Systems vor 15 Jahren halbiert.

Gibt es Anzeichen dafür in der Schweiz?

Nicht sehr konkret. Aber es ist absehbar, dass dies passieren wird. Es liegt im System, bei der Pflege zu sparen. Das ist auch deshalb problematisch, weil sich die Aufenthaltsdauer der Patienten verkürzt. Pflegeintensiv sind der Eintrittstag, die Tage während und nach der Operation und der Austrittstag. Bleibt ein Patient nur drei, vier Tage, braucht es doppelt so viel Personal. Falls dort gespart wird, leidet die Qualität der Behandlung massiv.

Wo leidet die Qualität ausserdem?

Nicht zuletzt wegen der DRGs wird immer mehr Zeit für administrative Arbeit aufgewendet. Codierungen sind aufwendig, die Forderung nach Transparenz ebenso. Vieles ist bürokratischer Leerlauf. Hinzu kommt, dass Ärzte limitierte Arbeitszeiten haben. Ein Assistenz- oder Oberarzt darf nicht mehr als 50 Stunden pro Woche arbeiten – inklusive Weiterbildung. Die Konsequenz: Junge Ärzte haben weniger Zeit für Patienten. Doch: Ein Arzt wird nur gut, wenn er sehr viele Patienten gesehen hat.

Die limitierte Arbeitszeit schützt auch Patienten. Nicht ausgeruhten Ärzten passieren mehr Fehler.

Ich finde es problematisch, dass oft das Beispiel herangezogen wird, wie einem übermüdeten Arzt ein Fehler passiert. Ich würde gerne einmal einen Gewerkschafter auf der Notfallstation mit einer schweren Verletzung sehen und ihn bezüglich der Operation vor die Wahl stellen zwischen einem ausgeschlafenen Assistenten, der kaum Erfahrung hat, und einem erfahrenen leitenden Arzt, der die halbe Nacht gearbeitet hat. Welchen hätten Sie gerne? Ich bin sicher, dass ich die Antwort kenne.

Was läuft sonst noch schief?

Die Tendenz ist, risikoarme, gut standardisierte Behandlungen zu machen. Dem steht entgegen, dass alles andere, was schwierig und komplikationsreich ist, kaum jemand machen will, weil es schlecht abgebildet ist im DRG. Ein behindertes Kind mit Zerebralparese oder Patienten mit Altersbeschwerden und Sterbende will man tendenziell nicht behandeln. Man schiebt sie ab.

Was heisst das?

Man versucht, sie in ein anderes Spital zu verlegen oder früher zu entlassen. In jedem Fall werden sie quersubventioniert, weil sie das Geld nicht einbringen, das sie kosten. Dabei wäre dies genau die Idee der Fallpauschalen. Das Spital sollte so viel bekommen, wie es dem Schweregrad und der Komplexität des Falles entspricht. Auch die Kindermedizin ist generell schlecht abgebildet, weil sie zeitaufwendiger ist als Erwachsenenmedizin.

Bevor die Fallpauschalen eingeführt wurden, warnte man vor blutigen Entlassungen. Eingetreten sind sie aber nicht.

Bisher konnten wir in der Schweiz dem Druck standhalten. Aber er besteht. Und wir sehen zum Beispiel in den USA: Dort werden die Leute viel zu früh entlassen, zum Beispiel in ein Hotelzimmer am Tag nach einer schweren Operation.

Die gute Nachricht ist: In der Schweiz passiert das nicht.

Was ich auch positiv finde: die Fusionspläne der Spitäler in Bern und Basel. Es wird genau das aufgehoben, was ich am meisten kritisiere: der Wettbewerb. Im Gesundheitswesen funktioniert er nicht, da kein echter freier Markt da ist. Wir haben in der Schweiz – im Vergleich zum europäischen Ausland – viel zu viele Akutspitäler. Das zeigte sich auch in Basel. Dort haben neben dem Universitätsspital auch andere Spitäler Behandlungen angeboten, die eindeutig an ein Zentrum gehörten. Doch das Angebot wurde unnötig ausgeweitet, Strukturen wurden aufgebaut, weil die einzelnen Behandlungen rentabel sind. Am Ende waren aber zu wenig Patienten da – und teure Strukturen. Das ist unsinnig.

Zumal jedes Spital aus Qualitätsgründen eine bestimmte Fallzahl ausweisen muss.

Genau das führt dann zu einer Mengenausweitung, zu mehr Kosten. Gleichzeitig bleibt die Erfahrung an den einzelnen Orten zu klein. Die Qualität ist ungenügend. Dass sich beispielsweise alle auf Herzkatheter spezialisieren, macht überhaupt keinen Sinn! Aber es bringt Geld.

Wird mit der Spitalfusion dieser Entwicklung einen Riegel geschoben?

Ja. Das ist gut so. Die wirklich aufwendigen Behandlungen sollen nur noch an den Unispitälern gemacht werden, die erweiterte Grundversorgung kann auch in einem Kantonsspital passieren. Es ist der einzige Weg, wie im stationären Bereich gleichzeitig Kosten gesenkt und die Qualität verbessert werden kann.

Müssen wir das System ändern, um die Qualität zu retten?

Nein. Wir müssen uns einfach der Gefahren bewusst sein – dass wir grosse Risiken im System haben und alles daran setzen müssen, um die hohe Qualität in der Schweiz aufrechtzuerhalten.