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Der deutsche Dr. House

Medizin ist wie ein Krimi, sagt Jürgen Schäfer. Der Arzt jagt rätselhafte Krankheiten wie Schwerverbrecher – und mit ähnlichen Methoden wie der begnadete TV-Diagnostiker

Es war Staffel 7, Episode 11 von „Dr. House“, die dem gelernten Maurer Bernd Kreinacher* das Leben rettete. Und natürlich die Tatsache, dass sein Arzt, ein deutscher Medizin-Professor namens Jürgen Schäfer, ein Fan von Gregory House ist, diesem begnadeten, aber miesepetrigen Diagnostiker aus dem Fernsehen.

Schäfer, 59, Kardiologe und Internist an der Universitätsklinik Marburg, hatte über Jahre mit seiner Frau, einer Magen-Darm-Fachärztin, die Serie verfolgt und nächtelang über die mysteriösen Krankheiten diskutiert, die der TV-Arzt da enttarnte. Gibt es solch skurrile Leiden wirklich, oder ist alles frei erfunden? Die beiden wälzten Bücher, suchten im Internet und kamen zum Schluss: Die medizinischen Fakten von Dr. House sind erstaunlich akkurat, es gibt oder gab sie, die Zinkvergiftungen durch Zahnhaftcreme, die Allergie gegen Spermien, die Gehirnentzündung durch Schweinebandwurm.

Irgendwann setzte Schäfer seinen Studenten einige House-Rätsel vor. Wenn jemand Blut erbrach oder kollabierte, drückte er auf die Stopp-Taste und fragte: „Hätten wir den Patienten in Marburg auch geheilt? Wie lautet die Diagnose?“ So kam der Professor aus Hessen nicht nur zum Ruf des „deutschen Dr. House“. Sondern auch im entscheidenden Moment auf diese eine, für Bernd Kreinacher so lebenswichtige Spur.

„Medizin ist wie ein Krimi“, sagt Schäfer und strahlt über dem fast weißen, dichten Bart, als er von dem Fall mit dem Happy End erzählt. „Man will unbedingt rauskriegen, wer es war. Man will den Täter stellen, das Virus oder den Wurm, oder das mutierte Gen.“ Der gebürtige Karlsruher leitet in Marburg das „Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen“ (ZusE), dort kümmert er sich um Patienten, die andere längst aufgegeben haben.

Während Detektive Fingerabdrücke oder Fasern sammeln, nehmen Schäfer, zwei Assistenzärzte und zehn Fachkollegen, die dem ZusE jede Woche einige Stunden zur Verfügung stehen, Krankheitssymptome ins Visier, um den Täter zu jagen. Bei dem schwer erkrankten Bernd Kreinacher war es die Kombination aus rapidem Hör- und Sehverlust, massiver Herzschwäche, Fieberschüben und einer Schilddrüsen-Unterfunktion, die den entscheidenden Hinweis lieferte. Schäfer erinnerte sich plötzlich: Bei Dr. House hatte eine ältere Dame mal genau dasselbe Krankheitsbild. Er fand heraus: Der Fernsehdoktor hatte eine Kobaltvergiftung durch ein schadhaftes Hüftgelenk diagnostiziert. Jürgen Schäfer ließ das Blut seines Patienten testen – und der Rest war, wie man so schön sagt, Geschichte.

„Unser Patient hatte ein Metallgelenk als Austausch erhalten, nachdem seine zuvor eingesetzte Keramik-Prothese bei einem Sturz gebrochen war. Das sollte man nie machen“, sagt Schäfer, zu dem mittlerweile zehn weitere Menschen mit der gleichen Leidensgeschichte fanden. Denn einige der Keramiksplitter, die sich einfach nicht vollständig aus dem Körper spülen lassen, schabten am neuen Gelenk Späne ab und setzten das Kobalt frei. Seit Kreinacher wieder ein Keramikgelenk hat, erholt er sich langsam.

Viele der Menschen haben Odysseen durch die Praxen und Kliniken der Republik hinter sich, ohne auch nur eine richtige Diagnose erhalten zu haben. Nicht wenige sind als eingebildete Kranke abgestempelt, ihre Leiden gelten als psychosomatisch oder neurotisch. Dass es diese Fälle gibt, wusste der Professor, der einige Jahre am Nationalen Gesundheitsinstitut der USA geforscht hat. Doch dass es so viele sind, hat er nicht geahnt.

„Ein Berg von Leidensgeschichten“, sagt Schäfer und zeigt auf Dutzende Kisten, die in einem Büro seiner Abteilung stehen, auf Tischen, auf dem Boden, einer Untersuchungsliege, überall. Viele dicke Umschläge stecken in jeder der Boxen, braune, weiße, graue, alle sorgfältig beschriftet und geordnet. 3500 seien es, sagt der Arzt. Wartezeit: mindestens ein halbes Jahr.

Nachdem Schäfer wegen seiner unorthodoxen Lehrmethode 2013 zum „Arzt des Jahres“ gekürt wurde, brach über die Uni-Klinik eine Flut von Anfragen herein. In seiner Not richtete das privatisierte Marburger Lehrkrankenhaus, das zur Rhön-Klinikum AG gehört, vor anderthalb Jahren das ZusE ein. Ähnliche Zentren gibt es an knapp 20 Standorten in Deutschland. Doch das sind zu wenige, sagt Schäfer. In seinem Buch „Der Krankheitsermittler“ schildert er, was er und seine Kollegen im Alltag erleben (Droemer Knaur, München. 256 Seiten, 19,99 Euro, erscheint am 20. August). Und welche Fallen auf Mediziner warten, die den Verbrecher im menschlichen Körper jagen. Auch dort, wo sie keiner vermutet.

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Bernhard Gerber* etwa hatte zwei jener „unspezifischen“ Beschwerden, die so oft vorkommen: Bauchschmerzen und Antriebslosigkeit. Alle möglichen Ursachen können dafür verantwortlich sein, ähnlich wie bei Müdigkeit, Appetitlosigkeit oder Schwindel. Doch bei der Aufklärung störte plötzlich ein ganz unerwarteten Gegner: das sogenannte DRG-Abrechnungssystem. DRG steht für „Diagnosis- Related Groups“, also diagnosebezogene Fallgruppen. Jeder Patient wird in eine „Fallgruppe“ eingeteilt, von der abhängt, was die Klinik bekommt für seine Behandlung. Manche Krankheiten „rechnen“ sich, andere, vor allem seltene Erkrankungen, die viele Untersuchungen erfordern, eben nicht. Und damit ein Fall überhaupt abgerechnet werden kann, stellen Ärzte oft schon Diagnosen, wenn der Befund noch vage ist. Bauchschmerzen werden zu „Gastritis“, Antriebslosigkeit zu „Depression“.

Erst in Marburg fiel einer jungen Ärztin auf, dass Gerber auch noch an einer für Männer seltenen Blutarmut litt. Krampfartige Bauchschmerzen, Anämie – die junge Ärztin tippte auf Porphyrie, also eine Störung des roten Blutfarbstoffes. Doch was sollte dafür die Ursache sein? Möglich wäre eine Bleivergiftung. Auch hier die Frage: wovon? Die Ärztin ließ den Urin testen, fand ihren Verdacht bestätigt. Und nahm sich den Patienten vor. „Gibt es bei Ihnen zu Hause alte Bleirohre?“ Nein, gab Gerber zurück, alles neu gebaut. „Mit Ausnahme der antiken Badewanne“, setzte er im Nebensatz hinzu. Und siehe da, der Missetäter war entlarvt: Die Wanne, in der er täglich Entspannungsbäder nahm, war aus Blei.

Eine Patientin wurde jahrelang wegen Depressionen behandelt, obwohl sie am Sheehan-Syndrom litt: Dabei wird die Hypophyse im Gehirn geschädigt, weil sie während der Geburt eine Zeitlang nicht durchblutet wurde. Statt eine bakterielle Entzündung der Herzklappe zu haben, litt eine Sekretärin an systemischem Lupus, einer Art Rheuma. Die 40-jährige Lehrerin Evi wurde durch jahrelange, unerträgliche Kopfschmerzen sogar arbeitsunfähig – bis ihre Hormonspirale als Untäter identifiziert war. Und ein Mann, dem alle Zähne ausfielen und der überall Entzündungen im Körper hatte, war von einem afrikanischen Wurm befallen, dessen Gen die Humanbiologen in Marburg in einer Stuhlprobe entdeckten. Der Physiotherapeut war noch nie in Afrika. Nach langem Suchen kam heraus: Es waren die Aquarien, in denen der 43-Jährige exotische Fische züchtete.

„Der häufigste Satz, den ich in den letzten Jahren gelesen oder gehört habe, lautet: Sie sind meine letzte Hoffnung“, sagt Schäfer. Dabei wollen er und die zehn Fachärzte, die ihn unterstützen, vom Radiologen und Nervenheilkundler bis zum Lungenfacharzt, keine falschen Hoffnungen machen. „Wir sind ganz normale Ärzte. Wir können nichts, was man nicht als Arzt ohnehin können muss.“

Nur wenige Patienten holt Schäfer persönlich nach Marburg. Aber sie sichten die Laborwerte und Krankheitsgeschichten, die Röntgenbilder oder CTs von Hausärzten oder Krankenhäusern neu, dann geht eine Empfehlung zurück. In zwei Dritteln der Fälle, schätzt er, sei wenigstens eine Diagnose möglich. Das heißt nicht, dass eine Heilung naht. Manche Krankheiten sind noch so unerforscht, dass sie nicht therapierbar sind.

In Deutschland gilt eine Krankheit als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Personen darunter leiden. Ein Hausarzt sieht im Schnitt höchstens einen solchen Fall pro Jahr. Fraglich also, ob er auf Anhieb die richtige Diagnose zu stellen vermag. Was sich zunächst nach einer Orchideenerkrankung anhört, ist, auf 80 Millionen Bürger hochgerechnet, jedoch gar nicht so wenig: Eine Erkrankung ist selten, wenn weniger als 40.000 Menschen in Deutschland daran leiden. Schlimmer noch: Weil es etwa 8000 unterschiedliche seltene Erkrankungen gibt, sind rund fünf Prozent der Bevölkerung mehr oder weniger stark betroffen. „Das sind mehr als derzeit FDP-Wähler“, sagt Schäfer.

Der Arzt hält nicht nur ein flächendeckendes Netz „Kümmererstationen“ wie der Marburger für nötig, am besten an den Uni-Kliniken. Für seltene oder unerkannte Krankheiten müsse die Politik auch andere Abrechnungsmodalitäten finden. „Mit der Fallgruppenabrechnung kann das nicht funktionieren, das sollte jedem klar sein.“

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Doch wenn die Politik sich nicht bewegt, muss dann Dr. House ran. „Unser Zentrum haben wir letztendlich Hollywood zu verdanken“, sagt Schäfer. Der Misanthrop aus dem Fernsehen hat es geschafft, die Strukturen einer fast 500 Jahre alten Universitätsklinik zu verändern. Und ganz nebenbei offengelegt, wie groß das Versorgungsprobleme von Menschen mit unerkannten Krankheiten in Deutschland ist.

* Namen von der Redaktion geändert

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