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„Wenn du einen Gulag besitzt, lass’ ihn von Ärzten leiten" – Ein junger Mediziner über die Realität der Assistenzzeit

„Ärzte sind ein grausames Volk. Fachidioten, von den Patienten vergöttert, zur Tyrannei erzogen. Das Wort Menschlichkeit hat maximal am Patientenbett Platz—oft genug nicht einmal dort."

Foto: Flickr | Dennis Skley | CC BY-ND 2.0

Es ist 5:45 Uhr, der Wecker klingelt, du wirst mitten aus dem REM-Schlaf gerissen, beim Ausschalten des Weckers schmeißt du ihn auf den Boden und fällst gleichwohl mit. Mal wieder hattest du diesen Traum: Fabulös, das Kinn erhoben, gleitest du in deinem weißen Gewand über den Flur. Links und rechts von dir dein Team von jungen Ärzten und Krankenschwestern, sie alle liegen dir zu Füßen, es ist Chefvisite und DU bist der Chef. Du spürst die Ehrfurcht deiner Untertanen, die Assistenten weichen deinem kritischen Blick scheu aus, der Unterkiefer des zu berichtenden Assistent bebt, sogar die „erfahrenen" Oberärzte werden nervös, als du auch nur mit der Augenbraue zuckst … Ein kurzes Schmunzeln geht nun über deine Lippen, dann schüttelst du dich und stehst auf. So willst du doch niemals werden. Oder etwa doch?

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„Auf die Zähne beißen" heißt es, oder auch „Lehrjahre sind keine Herrenjahre". „Es hat mir nicht geschadet, 30 Jahre so hart zu arbeiten. Und ich habe eine ganz tolle Familie. Drei Kinder, mein Sohn ist auch Arzt, meine Tochter Anwältin." (Sein dritter Sohn ist in der Psychiatrie, aber das passiert ja in den besten Familien.) Diese Zitate der Ober- und/oder Chefärzte spuken mir im Kopf herum. Die alte Schule. Sechs Jahre Medizinstudium, anschließend vier bis acht Jahre Assistenzarzt-Dasein, in dem sie geknechtet, gedemütigt und ausgebeutet wurden. In den operativen Fächern mussten sie sich der reinen Willkür des Chefs beugen, durften nur am Geburtstag operieren und verbrachten den Rest der Zeit damit, „Haken zu halten", zu assistieren. Und nun kommt die Generation Y ums Eck, hält nur die Hand auf und will, dass man ihr alles gibt, wofür sie hart arbeiten musste, einfach so, umsonst. Ihre Vertreter wollen die Balance zwischen Familie und Job, wollen mit ihren Kindern frühstücken UND ihnen abends vorlesen und zwar jeden Tag, nicht ein Mal im Monat. Das, meine Damen und Herren, ist die traurige Realität.

Ich wurde gedemütigt, also wirst du es auch

Nicht nur in der Medizin, auch in vielen anderen Bereichen des Lebens ist die Strafe als Erziehungsmaßnahme die präferierte Methode. Eltern, die ihre eigene Kindheit nie fundiert reflektierten, bestrafen ihre Kinder, ebenso wie sie bestraft wurden. Selbiges gilt für Chefärzte, die früher eine harte Assistenzarztzeit hatten. Sie betrachten es nicht nur als angemessen, sondern praktisch auch als ihre Pflicht, ihre Untergebenen—ungeachtet des Ausbildungsstandes—vor versammelter Mannschaft zusammenzuscheißen, so wurden sie schließlich auch erzogen. Angst soll Fehlern vorbeugen. Dass Lob deutlich mehr motiviert, hat ihnen scheinbar noch niemand gesagt.

Wie? Das weißt du nicht?

Das Medizinstudium bereitet bekanntlich nicht besonders gut auf den späteren Alltag vor. Klar kann man durch Praktika viel lernen, doch wie viel kannst du im Endeffekt in einem Monat mitnehmen? Es ist also ein offenes Geheimnis, dass ein Assistenzarzt im ersten Lehrjahr und vor allem in den ersten Monaten ziemlich oft auf dem Schlauch steht. Hier kommt die Rolle des Oberarztes ins Spiel, der eigentlich für die Ausbildung der Assistenten zuständig ist. Interessant wird es dann, wenn du einen Vorgesetzten hast, der sich selbst für den Größten hält (ca. 60% der Oberärzte). Die meisten Oberärzte verdrängen nämlich erfolgreich diese Phase der Unwissenheit, sind dann meist schockiert, wenn die neue Assistentin mit „trivialen Fragen" kommt und machen keinen Hehl aus ihrer Verwunderung. Die Folge ist natürlich die Vermeidung derartiger Fragen und somit gefährliches Halbwissen, das dir in bestimmten Situationen zum Verhängnis werden kann.

Vermeintlicher Ausbildungsauftrag

Schauen wir uns das Thema Ausbildung mal genauer an. Die grundsätzliche Idee ist folgende: Durch das Studium erlangt man das theoretische Grundwissen, um fächerübergreifend Notfälle und Gefahren zu erkennen. Anschließend folgt die Ausbildung zum Facharzt. Die bekanntlich schwierigste Zeit, die in Abhängigkeit von der Disziplin und der gewählten Ausbildungsstätte sehr unterschiedlich verlaufen kann. Während der Ausbildung zum Internisten beispielsweise ist man nicht so stark darauf angewiesen, praktische Tätigkeiten zu erlernen wie etwa ein Chirurg, dessen Hauptaufgabe praktischer Natur ist.

Für alle diese praktischen Tätigkeiten nun bist du auf die Gnade deines Ober-/Chefarztes angewiesen, der dich instruieren muss. Dementsprechend ist Arschkriechen angesagt. Einen jungen Assistenzarzt operieren zu lassen, ist jedoch sehr anstrengend für die alten Hasen—es bedarf viel Geduld, diese haben nur die Wenigsten. Folglich entstehen die unterschiedlichsten Methoden, um diese Situationen zu vermeiden. Wenn du es dir mit einem Vorgesetzten verscherzt, kann sich deine Ausbildung also schnell mal um ein halbes Jahr verzögern. Im Prinzip ist es in den chirurgischen Fächern auch so, dass du dich zuerst als ordentlicher Stationsarzt beweisen musst, ehe sie dich operieren lassen, obwohl das Eine mit dem Anderen nichts zu tun hat. Schließlich gibt es Universitätskliniken, an denen Studenten als „wissenschaftliche Hilfskraft" bereits jahrelang im OP als Assistenten arbeiten und dort viel Erfahrung sammeln, trotz geringem medizinischem Grundverständnis.

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Auf die Frage, weshalb er seine Assistenten so wenig operieren lasse, antwortete mir ein chirurgischer Oberarzt: „Die sind ja gar nicht interessiert. Ich meine früher habe ich den ganzen Tag zugeschaut, wenn mein Oberarzt operiert hat, auch wenn ich nicht mitoperieren durfte." Wo wir wieder beim Thema früher wären. Früher war es eben normal, dass Patienten in der Notaufnahme stundenlang gewartet haben, ehe ein Arzt sie beurteilt. Heute sollte jeder Patient den Erstkontakt nach Möglichkeit im Rahmen von 30 Minuten erhalten. Passiert das nicht, kommt—wohl auch zurecht—alle fünf Minuten ein Anruf von der Pflege, bis man erscheint. Der Patient bekommt eine genaue Diagnostik und am Ende einen Arztbrief in die Hand gedrückt.

Früher gibt es also nicht mehr.

Tja, der liest halt auch nie etwas nach

Es gibt viele Methoden, um Assistenten klein zu halten. Die Beliebteste ist, ihnen zu unterstellen, sie seien nicht interessiert. Als Arzt solltest du stets auf dem aktuellsten Stand sein, beziehungsweise die Wissenslücken schließen, die sich dir im Alltag präsentieren. Das geschieht natürlich in der Freizeit, die in Abhängigkeit vom Arbeitsaufwand teils gering ist. Neben mangelndem Interesse an OPs (wofür man realistischerweise außerplanmäßig nie Zeit hat) wird dementsprechend gern oft mangelndes Interesse am Selbststudium unterstellt. Das Resultat ist ebenfalls Erniedrigung und Strafe, gern auch in Anwesenheit anderer. „Wenn du nichts nachliest, dann kann ich dich jetzt nicht operieren lassen."

Generation Y

Wir wissen: Generationen unterscheiden sich. Auf die „Babyboomers" folgte „Generation X" und schließlich „Generation Y", der wir jungen Ärzte angehören. Uns schreibt man ganz besonders gern das Hinterfragen gesellschaftlicher Normen, sowie den Wunsch der freien Entfaltung zu. Zeit für sich selbst und die Familie sind zentraler Bestandteil unserer Ziele. Aus soziologischer und menschlicher Sicht also durchaus nachvollziehbare Wünsche, für den ärztlichen Alltag jedoch gänzlich unbrauchbar. Da die meisten Ärzte sehr ehrgeizig sind, handelt es sich bei der Karriereplanung um einen hochansteckenden Virus. Auf einer Tagung wurde ich Zeuge eines Vortrages, der an Unverschämtheit kaum zu überbieten war. Inhalt des Vortrages war Generation Y und wie man mit ihr umzugehen hat. Dabei scheute sich der Dozent nicht, vor den anwesenden Assistenten zu sagen, man könne die Generation Y nicht verhindern, man habe sie zu akzeptieren. Wie eine Plage quasi. Alle anwesenden Kader hatten ernste bis besorgte Mienen. Kein Assistent (inklusive mir) traute sich demgegenüber zu treten, zu fragen, was daran falsch sei, wenn man nicht 70 Stunden pro Woche arbeiten wolle, sondern „nur" 50? Dass man für seine Familie, der man sich verpflichtet hat, da sein möchte, oder auch einfach ein ausgeglichenes, erfülltes Leben führen will? Die Angst davor, man könne es sich beim Chef versauen, ist einfach zu groß. Da sich Chefärzte untereinander austauschen, steht viel auf dem Spiel, im Prinzip die ganze Karriere.

Ärzte sind ein grausames Volk. Fachidioten, von den Patienten oft vergöttert, zur Tyrannei erzogen. Das Wort Menschlichkeit hat maximal vordergründig am Patientenbett Platz—oft genug nicht einmal dort. Wenn du dich zu sehr von der menschlichen Seite zeigst, wirst du von deinen Kollegen belächelt. Jeder Assistenzarzt macht dieselben Erfahrungen, die wenigsten lernen daraus für die Zukunft. Einige Kollegen werden nun sagen: „Du hast es dir doch ausgesucht, selbst schuld!" Euch frage ich: Ist es richtig, Missstände zu akzeptieren? Sollte man wirklich einen Beruf meiden, den man inhaltlich liebt, weil die Platzhirschen ihn unerträglich machen? Und wirst nicht auch du ein solcher Chefarzt, wenn du die Missstände und die Unmenschlichkeit nicht erkennst … wie deine Eltern, die dich schlugen, weil sie geschlagen wurden?