Sterben braucht Zeit – und die kostet

Der Tod wird gesellschaftlich tabuisiert. Das hat Folgen im Gesundheitswesen. Viele Spitäler sind für sterbende Patienten nicht eingerichtet. Fallpauschalen setzen gar ethisch fragwürdige Fehlanreize.

Susanna Ellner
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Nicht nur ein Ort der Heilung: Über ein Drittel der Schweizer Bevölkerung stirbt in einem Krankenhaus. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

Nicht nur ein Ort der Heilung: Über ein Drittel der Schweizer Bevölkerung stirbt in einem Krankenhaus. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

Spitäler sind Orte der Genesung, Ärzte sind da, um zu heilen – möchte man meinen. Doch die Realität sieht anders aus. Über ein Drittel der Schweizer Bevölkerung stirbt in einem Krankenhaus, wie Statistiken belegen. Dies zu akzeptieren, fällt nicht zuletzt den Ärzten schwer.

Oft würden diese Fälle als persönliche Niederlage interpretiert, sagt Daniel Grob, Chefarzt der akutgeriatrischen Klinik des Zürcher Waidspitals. «Obwohl es dem primären Funktionsziel der Spitäler widerspricht, wäre es erstrebenswert, dem Tod ein positiveres Image zu verleihen.» Ein menschenwürdiges Sterben im Spital müsse möglich sein, denn letztlich sei es Ausdruck einer humanen Medizin.

Tatsache aber ist, dass sterbende Patienten für viele Spitäler in der Schweiz eine Herausforderung bedeuten, auf die sie zu wenig vorbereitet sind. Von den landesweit rund 300 Spitälern verfügen nur etwa 30 über eine Palliativstation. Auch lediglich beratende Palliativmediziner und ambulante Teams sucht man vielerorts vergebens.

«Menschenrecht wird verletzt»

Für den renommierten Palliativmediziner Gian Domenico Borasio ist klar, dass in der Schweiz Handlungsbedarf besteht. «Palliative Care ist ein Menschenrecht. Dass einzelne Kantone dieses verletzen, ist nicht akzeptabel», sagt der 53-Jährige, der an der Universität in Lausanne eine Professur innehat. Einerseits fehle das Bewusstsein für das Thema, weil der Tod tabuisiert werde, andererseits würden finanzielle Gründe geltend gemacht: Mit dem bestehenden Tarifsystem der Fallpauschalen können die speziellen Palliative-Care-Stationen nämlich nicht kostendeckend betrieben werden.

Die Situation sei paradox, findet Heidi Dazzi, leitende Ärztin an der Klinik für Onkologie am Universitätsspital Zürich. «Die Kosten unseres Kompetenzzentrums Palliative Care sind für das Spital relativ günstig, da wir keine Hightech-Interventionen durchführen. Wir haben aber einen hohen Personalaufwand für die individuelle Betreuung, der von den Krankenkassen im Gegensatz zu den Interventionen nicht als medizinische Leistung entschädigt wird.» Laut Gian Domenico Borasio setzt die Vergütung der stationären Palliativmedizin mit Fallpauschalen gar ethisch inakzeptable Fehlanreize und fördert die Übertherapie am Lebensende.

Nicht mehr als drei Wochen

Gemäss der Fachgesellschaft «palliative ch» zeitigt die bestehende Praxis aber auch noch andere Folgen: Spitäler verlegen aufgrund des Kostendrucks Patienten in der terminalen Sterbephase in ein Pflegeheim. «Ein Transport mit der Ambulanz ist für die Betreffenden in einer Situation, wo sie Ruhe brauchen würden, eine hohe Belastung», sagt Dazzi. Am Universitätsspital würden solche Verlegungen deshalb vermieden, wenn der Todeseintritt in ein oder zwei Tagen prognostiziert würde. «In 50 Prozent der Fälle haben wir mit unserer Vorhersage recht», sagt Dazzi. Sterben benötige Zeit, doch mehr als drei Wochen auf der Station seien aufgrund des Kostenzwangs nicht möglich, so dass nach der nächstbesten Lösung, einem freien Platz in einem Pflegeheim, gesucht werden müsse. Dank der nationalen Strategie Palliative Care des Bundesamtes für Gesundheit sind in der Schweiz laut Borasio kürzlich aber immerhin gleich mehrere positive Meilensteine gesetzt worden: Seit 2012 gibt es neue Lernziele zur Palliativmedizin, die für alle Medizinstudenten gelten. «Durch die neue Ausbildung wird die Betreuung in der letzten Lebensphase vermehrt als wichtiger Teil der ärztlichen Tätigkeit aufgefasst werden», glaubt Borasio.

Premiere an der Uni Lausanne

Zudem existiert seit vergangenem Dezember ein neuer Facharzttitel mit dem interdisziplinären Schwerpunkt Palliativmedizin. Dadurch sollten den Spitälern künftig auch mehr Spezialisten und Spezialistinnen zur Verfügung stehen. Und mit der Schaffung einer Professur für geriatrische Palliativmedizin wird es im kommenden Mai an der Universität Lausanne gar zu einer weltweiten Premiere kommen.

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