Anonymer Patient gibt heftige Einblicke: »So war es in der geschlossenen Psychiatrie

Ein Facharzt hat die Schilderungen für uns eingeordnet

Patient bietet heftige Einblicke auf Reddit: »So war mein Alltag in der geschlossenen Psychiatrie

Bei Reddit gibt ein 22-Jähriger teils verstörende Einblicke in den Alltag einer geschlossenen Psychiatrie. Ein Facharzt hat seine Schilderungen für uns eingeschätzt (Symbolfoto)

Foto: OJO Images/Getty Images
Von: von ANNA KESSLER

Tagelang an ein Bett fixiert, unter permanenter Beobachtung, dazu Panikattacken und das Gefühl, komplett hilflos zu sein – es liest sich wie ein Horror-Bericht.

Auf der Diskussionsplattform Reddit beantwortet seit Dienstag ein anonymer 22-Jähriger Fragen zum Alltag in einer geschlossenen Psychiatrie. Dort war er nach eigenen Angaben drei Wochen gegen seinen Willen wegen „akuter Eigengefährdung“ in Behandlung.

Als Identitätsnachweis stellte „FappingLurker“ einen Teil des Entlassungsberichts ein, Diagnose: „Suizidale Krise“.

Die teilweise sehr heftigen Schilderungen des jungen Mannes empören viele Nutzer. Aber kann es sich wirklich so zugetragen haben, wie er es beschreibt? Wir haben Dr. Matthias Nagel, Chefarzt der Psychiatrie der Asklepios Klinik Wandsbek in Hamburg, um Einschätzung gebeten.

Grund für den Zwangsaufenthalt

„Selbstzugefügte Stichverletzungen mit einem Messer. Eine eingeweihte Freundin alarmierte den Rettungsdienst aus Panik, dass ich mich womöglich umbringen wollte“, schrieb der 22-Jährige. Dies sei jedoch nicht seine Absicht gewesen. „Eine halbe Stunde später bimmelt es bei mir und ich öffne erstaunt dem Notdienst die Tür“, berichtete er. Als dann die Polizei mit einem amtsrichterlichen Unterbringungsbeschluss dazukam, habe er sich ergeben.

► Dr. Matthias Nagel: Die Hürden, um jemanden gegen seinen Willen festzusetzen, sind sehr hoch. Wichtig wäre es zu erfahren, warum Ärzte/Richter/Angehörige und das Umfeld der Auffassung waren, dass eine Unterbringung erforderlich war.“

Der Transport

„Bin selbst ohne Handschellen mit notdürftig versorgtem Arm in den Rettungswagen eingestiegen und mit zwei Beamten der örtlichen Polizei ins Krankenhaus geliefert worden. Als ich aussteigen wollte, hat mich ein Polizist für meinen Bedarf etwas hart angepackt, weshalb ich versucht habe, meinen Arm wegzuziehen. Das ganze ist eskaliert, weshalb ich mich max. 30 sek. später von acht Personen überwältigt, außer Atem, leicht betäubt (Sani hat mir irgend ein ekligen Scheiß in die Nase gespritzt), am Boden liegend wiederfand. Danach ging’s auf ein Bett mit fünffacher Fixierung, indem ich die nächsten zwei Nächte verbringen musste. Schlafen war nur auf dem Rücken möglich. Bin es sonst gewohnt auf der Seite zu liegen, aber ich konnte mich nicht drehen, da mir sonst der Knöchel gebrochen wäre.“

Anm. d. Red.: Bei einer Fünfpunktfixierung wird der Körper außer am Bauch an beiden Armen und Beinen fixiert.

► Dr. Matthias Nagel: „Das ist durchaus möglich. Die Polizei/Sanitäter sind verpflichtet, Patienten möglichst ohne Gewalt in eine Klinik zu bringen. Wenn ein richterlicher Beschluss vorliegt, ist die Polizei aber auch verpflichtet den Betroffenen auch gegen seinen Willen in die Klinik zu bringen. Gelegentlich wird dann auch Gewalt angewandt. Wenn acht Personen den Betroffenen überwältigten, spricht vieles dafür, dass sich die Polizei und die Sanitäter selbst gegen die Gewalt des Patienten schützen wollten.“

Abgenommene Gegenstände

„Alles was ich am Leib hatte und gefährlich war, wurde abgenommen. Schnürsenkel, Telefonladekabel, Nagelknipser, sogar Zahnseide war tabu. War zuerst auch zwei Tage fixiert und musste in eine Flasche pinkeln. Wurde dann zum Glück von den Fesseln befreit und hab so gut es ging versucht, keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.“

Dr. Matthias Nagel: „Wenn eine akute Gefährdung besteht, ist das oft unvermeidlich. Leider kommen gelegentlich schwere Suizidversuche oder Suizide mit relativ kleinen und scheinbar ungefährlichen Gegenständen vor. In der Regel werden solche Gegenstände den Patienten aber zügig im Verlauf wieder ausgehändigt oder für den Gebrauch zur Verfügung gestellt. Auf den geschützten Stationen sollen Patienten die Möglichkeit bekommen, trotz der Unterbringung Zugang zu allen alltäglichen Dingen zu bekommen. Es geht um Sicherheit und Therapie und nicht darum Menschen ‚wegzusperren‘.“

Smartphone, Laptop, Internet

„Mein Handy sowie die aller anderen Patienten wurden im Stützpunkt des Personals verschlossen. Alle Besucher mussten ihre entweder abgeben oder ausschalten. Es gab ein Münztelefon. Internet und Laptop gab es nicht.“

Dr. Matthias Nagel: „Telefonieren sollten Patienten immer können dürfen. Auch damit die Patienten ihre Rechte wahrnehmen und z.B. Anwälte kontaktieren können. In den meisten Gesetzen ist der Zugang zu Telefonen rechtlich vorgeschrieben. Internetzugang über Mobiltelefone sollte eigentlich auch immer ermöglicht werden. Das könnte aber auf den unterschiedlichen Station abweichend gehandhabt werden.“

Einrichtung

„Im ersten Zimmer, ein Überwachungszimmer, war die Toilette außerhalb. Hab jedoch sämtliche Nahrungsaufnahme verweigert, weil ich nicht in eine Bettpfanne machen wollte. Am Ende war ich dann in einem normalen Zimmer mit WC/Dusche im Badezimmer.“

Dr. Matthias Nagel: „Patienten werden engmaschig von Krankenpflegern überwacht, und erhalten bei Bedarf eine Bettpfanne oder eine Urinflasche. Eine Alternative ist bei notwendigen Fixierungen leider nicht möglich.“

Essen

„Ich fand es wirklich ausgesprochen gut. Morgens und abends konnte man sich sein Essen zusammenstellen wie man wollte. Mittags gab es drei verschiedene Menüs, aus denen man wählen konnte.“

Zeitvertreib

„Alltag für mich und meine Leidensgenossen bestand darin, die Zeit zwischen den Mahlzeiten bzw. dann am Ende zur Schlafenszeit totzuschlagen. MauMau war recht beliebt. Ich selbst habe so gut es ging versucht den geistigen Verschleiß in Grenzen zu halten, indem ich alles an Rätseln aus der Zeitung gelöst habe. (Sudoku, Kreuzworträtsel etc.)“

Wirkung der Medikamente

„Habe keine Effekte feststellen können. Hätte man mir auch unbemerkt untermischen können, ich wäre um nichts schlauer gewesen. War ja täglich nur 1,5 mg gesamt, also drei mal 0,5 mg [laut Entlassungsbericht Lorazepam, Anm. d. Red.]“

► Dr. Matthias Nagel: „Patienten müssen über alle Medikamente informiert werden. Die verdeckte oder heimliche Verabreichung von Medikamenten ist nicht zulässig.“

Besonders krasse Erlebnisse

„Ein Patient hatte die Gewohnheit ins Bett zu nässen, das Waschbecken als Toilette zu verwenden und er glaubte, den Personal vormachen zu können, geduscht zu haben, indem er sich kurz Wasser in die Haare spritzt.“

Kontakt zu anderen Patienten 

„Mit einem habe ich mich bestens verstanden. Haben Nummern ausgetauscht und wollten in Kontakt bleiben …“

Empfindung

„Ich empfand das als Folter dort. Gerade mit so vielen unbekannten Menschen 24/7 eingesperrt zu sein hat mich enorm belastet. Zu keinem Zeitpunkt war ich alleine oder konnte mich zurückziehen. Naja außer auf’m Klo, solange man nicht länger als üblich dort blieb – sonst kam ein Angestellter mit Schlüssel und hat mal schnell reingeguckt.“

Dr. Matthias Nagel: „Sofern Suizidalität eine Rolle gespielt hat, ist das denkbar. Ich halte es aber für wahrscheinlicher, dass der Pfleger vorher angeklopft hat und erst wegen einer fehlenden Antwort die Tür geöffnet wurde. Rückzugsorte wie Toiletten sind Orte, an denen Suizide und Suizidversuche häufiger stattfinden.“

Arbeitgeber

„Bin in vollschulischer Ausbildung von daher gibt's keinen Arbeitgeber. Mir wurde aber gestattet dort am ersten Tag anzurufen und zu sagen, dass ich krankheitsbedingt auf unbestimmte Zeit fehlen werde. Die haben dann eine neutral formulierte Krankschreibung angefertigt, in der nichts von Psychiatrie stand.“

Hobbys

„Ich mag Chemie und war früher mal begeisterter Gamer. Serien und Filme guckte ich auch mal mit viel Freude, aber auch hier ist es mehr und mehr zum bloßen Zeitvertreib geworden.“

Therapieversuche

„Dreimal die Woche gab es Ergotherapie von 9 bis 10.30 Uhr. Hab das als Höhepunkt des Tages empfunden, weil es mal was anderes zu tun gab. Gespräche gab es keine und abgesehen von den Lorazepam auch keine Medikamente.“

Dr. Matthias Nagel: „Das erscheint eher unwahrscheinlich. Es gab sicher noch Visiten durch Ärzte und Gespräche über die Diagnose und Therapie. Typische psychotherapeutische Gespräche mit einer Gesprächsdauer von 50 Minuten sind in Akutsituationen oft kaum möglich.“

Selbsteinschätzung

„Wenn man im Grunde kaum was fühlt, ist so etwas zu tun ein dummer Weg mit den Problemen umzugehen. Durch den Schmerz hatte ich mir erhofft mich wenigstens für einen Moment am Leben zu fühlen.“

Umgang mit der Diagnose

„In gewissem Maß ist es hilfreich zu wissen, dass es einen Namen hat, aber irgendwo auch komisch, da ich mich ja zuvor stets als normal sah. Bin noch nicht ganz sicher was ich davon halten soll.“

Was der Aufenthalt gebracht hat

„Ich kann nicht sehen, wie so eine Einrichtung irgendjemandem hilft. Der Allgemeinheit höchstens, weil man dann endlich einen Ort hat, an dem die ganzen Spinner weggesperrt sind und dem Rest nicht schaden können. Den ganze Zirkus empfand ich als Folter, weshalb ich niemals im Leben auch nur in die nähe einer Klinik gehen werde.“

► Dr. Matthias Nagel: „Ziel der Behandlung ist es, dass Patienten in Zukunft freiwillig eine Therapie wahrnehmen können. Wenn das dem Patienten und der Einrichtung nicht gelingt, ist das sehr schade. Es gibt viele psychotherapeutische Angebote auf offenen Stationen, die freiwillig wahrgenommen werden können.“

Seine Schnürsenkel hat „FappingLurker“ übrigens wieder zurückbekommen: „Die haben sie mir schön eingetütet und mitgegeben.“

So läuft eine Einweisung rechtlich ab

Dr. Matthias Nagel über den rechtlicher Ablauf einer Einweisung: Der Arzt (meist Facharzt f. Psychiatrie) vom Gesundheitsamt, der beauftragt wurde, erstellt ein Schreiben über den Patienten. Anhand des Schreibens entscheidet die zuständige Behörde für oder gegen eine Einweisung gegen den Willen des Betroffenen. Dann erfolgt die Zuführung. In der Klinik wird vom aufnehmenden Arzt erneut entschieden, ob die Einweisung rechtlich und medizinisch korrekt ist. Dann kommt noch ein weiterer Facharzt (meist Oberarzt) hinzu und entscheidet ebenfalls dafür oder dagegen. Dann wird ein Richter hinzugezogen, der die Unterbringung, sofern länger als 24 Stunden erforderlich, genehmigt. Der Richter führt eine Anhörung durch, bei der ein Verfahrenspfleger dabei ist. Der Betroffene wird über seine Rechte informiert und kann Widerspruch/Beschwerde einlegen. Dann wird ggf. das Landgericht involviert und entscheidet erneut. (Regelung weicht je nach Bundesland ab).

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