Ein Gesundheitswesen im Blindflug

«Big Data» könnte mithelfen, die Knackpunkte im Schweizer Gesundheitssystem zu erkennen und zu beheben. Die Krankenkassen stellen sich jedoch quer – zum Missfallen von Innenminister Berset.

Simon Hehli
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Das Gesundheitssystem ist qualitativ hervorragend, aber ist es effizient? Dazu gibt es in der Schweiz häufig keine Antwort: Arzt mit Stethoskop. (Bild: Christian Beutler / Keystone)

Das Gesundheitssystem ist qualitativ hervorragend, aber ist es effizient? Dazu gibt es in der Schweiz häufig keine Antwort: Arzt mit Stethoskop. (Bild: Christian Beutler / Keystone)

Dass die Schweiz eines der qualitativ besten Gesundheitssysteme der Welt hat, ist unbestritten. Doch es gleicht bisweilen einer Blackbox: Es ist praktisch unmöglich, sich in dem komplexen System einen Überblick zu verschaffen, ob die Behandlungen aus therapeutischer wie finanzieller Sicht effizient erfolgen. Welches sind die grössten Gesundheitsrisiken im Land? Und welche Bevölkerungsschichten sind welchen Risiken am meisten ausgesetzt? Wir wissen es nicht. Denn es mangelt an den entsprechenden Daten. «Wenn nicht genug in das Sammeln von Informationen investiert wird, um eine angemessene Wissensgrundlage zu schaffen, kann es auch keine ‹wissensbasierte› Politik geben», mahnt der OECD-Bericht über das Schweizer Gesundheitssystem aus dem Jahr 2011 an. Eine Steuerung und Verbesserung des Systems ist so schwierig. Auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hält die heutige Datensituation für «unbefriedigend».

Berset will Transparenz

Gesundheitsdaten stammen vor allem aus zwei Quellen. Einerseits kommen sie von den Leistungserbringern selber. Während die Spitäler schon länger das Bundesamt für Statistik mit den entsprechenden Zahlen über Patienten und Behandlungen versorgen müssen – was erst die Einführung der Fallpauschalen ermöglicht hat –, gilt die Weisung für frei praktizierende Ärzte erst ab dem 1. August. Andererseits sitzen auch die Krankenkassen auf einem Datenschatz. Dieser wächst mit jeder einzelnen Abrechnung, auch wenn darin die ärztliche Diagnose fehlt. Das BAG erhält die Daten schon seit längerem, aber nur in aggregierter Form – zum Beispiel die Anzahl Versicherter einer Kasse nach Franchise. Das SP-Innenminister Alain Berset unterstellte Bundesamt fordert deshalb auch detaillierte Informationen zu den einzelnen Versicherten «im Zeitverlauf» ein.

Hier stellen sich die Krankenkassen aber quer. Verena Nold, Direktorin des Krankenkassenverbandes Santésuisse, sagt: «Daten zu haben, ist nicht per se gut; entscheidend ist, was man damit anstellt.» Es handle sich um sehr heikle Informationen, und die Versicherer seien verpflichtet, diese nur an Dritte – und dazu zählt auch das BAG – herauszugeben, wenn es das Gesetz erlaubt. Die Krankenkassen müssen die Informationen in einer pseudoanonymisierten Form an das BAG schicken. Dabei erscheint der einzelne Patient als Nummer mit seiner Krankengeschichte. Nur eine externe Stelle wäre in der Lage, diese Daten so zu entschlüsseln, dass die Nummer einer konkreten Person zugeordnet werden kann. «Wir wollen vom Datenschützer wissen, ob er mit diesem Verfahren einverstanden ist», sagt Nold.

Doch sie hat noch einen grundsätzlicheren Einwand: Die Versicherer wollten keine Daten auf Vorrat liefern. «Die Daten müssen für einen klaren Zweck verwendet werden.» So sei dies beispielsweise der Fall bei den Bemühungen, den Risikoausgleich zwischen den Kassen zu verfeinern. Dazu braucht es von jeder Kasse die Informationen, wie viele «schlechte und gute Risiken» sie haben – also Versicherte, die besonders hohe oder besonders tiefe Kosten verursachen. «Kein Versicherer wird sich dagegen sperren, diese Daten zur Verfügung zu stellen – aber wir wollen nicht, dass es auf Bundesebene einen riesigen Datenpool gibt, dessen Verwendung unklar ist», betont Nold.

«Eine verkannte Chance»

Das BAG schreibt auf Anfrage, es bedauere, «dass manche Versicherer und Leistungserbringer die Chancen verkennen beziehungsweise die erhöhte Transparenz fürchten, die mit einer umfassenden Datenbasis zu den Gesundheitsleistungen einhergehen». Die Daten könnten nicht nur dem BAG dienen, sondern auch den Tarifpartnern, den Genehmigungsbehörden der Tarife sowie der Öffentlichkeit. Mehr von Möglichkeiten als von Risiken spricht auch der Verein Ethik und Medizin (VEMS), der eine unabhängige Sicht auf das Gesundheitswesen bieten will. Die Schweiz stehe am Scheideweg, sagt der Kommunikationsverantwortliche Flavian Kurth. «Dank Big Data könnten wir die Versorgungsforschung intensivieren.» Voraussetzung dafür sei jedoch ein freier Zugang zu allen anonymisierten Gesundheitsdaten.

Als Beispiel, wo die Forschung ansetzen könnte, nennt Kurth die hochgepriesenen Ärztenetzwerke – bei denen man heute aber kaum überprüfen könne, wie effizient sie wirklich arbeiteten. Auch die bedarfsorientierte Planung von Arztpraxen und Behandlungszentren würde vereinfacht. Heute lässt sich feststellen, dass in einer Stadt die Ärztedichte sehr hoch ist. Doch heisst das auch, dass eine Überversorgung besteht? Nicht unbedingt, sagt Kurth: «Es kann ja auch sein, dass viele Patienten aus umliegenden Gebieten sich dort behandeln lassen. Oder dass es mehr Psychiater braucht, weil auch die Anzahl der Burnout-Patienten besonders hoch ist.» Solche Vermutungen liessen sich derzeit weder verifizieren noch falsifizieren, klagt Kurth. Der VEMS sähe es als Idealfall an, wenn sich die Daten von Leistungserbringern und Krankenkassen vereinen liessen. Das wäre technisch aber aufwendig. Das BAG sieht die beiden Datenquellen vielmehr als komplementär an.

Probleme liegen anderswo

Santésuisse-Direktorin Nold warnt vor zu hohen Erwartungen: Nur weil man mehr Daten sammle und mehr Forschung betreibe, heisse das noch lange nicht, dass man dadurch das Gesundheitswesen besser machen könne. «Wir wissen ja eigentlich heute schon, wo die Probleme liegen – nur sind Massnahmen zur Kostensenkung politisch schwer umsetzbar.» Sie verweist auf die hohe Anspruchshaltung der Versicherten. «Patienten fordern die volle Wahlfreiheit ein und wollen jedes Medikament beziehen können, und sei es noch so teuer. Und die Ärzte wollen gut daran verdienen.»