Gesellschaft & Politik

"Zwei Drittel der Kommunikation zwischen Arzt und Spital erfolgt noch per Fax oder Post"

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Vor einem Jahr hat das Parlament dem Bundesgesetz über das elektronische Patientendossier ­zugestimmt. Nun geht es in den Kantonen an die Umsetzung. E-Health Suisse, das ­Koordinationsorgan Bund – Kantone begleitet den Prozess und sorgt für den Dialog zwischen den verschiedenen Akteuren des Gesundheitswesens. Der Leiter des Koordinationsorgans Adrian Schmid im Interview.

Adrian Schmid leitet das Koordiniationsorgan E-Health Suisse
Adrian Schmid leitet das Koordiniationsorgan E-Health Suisse

Wo stehen die Kantone ein Jahr nach der Annahme des Bundesgesetzes über das elektronische Patientendossier?

Adrian Schmid: Das ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Genf etwa ist schon sehr weit, auch im internationalen Vergleich. Für andere Kantone ist das Thema E-Health neu – sie stellen jetzt Überlegungen zur Umsetzung des elektronischen Patientendossiers (EPD) an. Nur in wenigen Kantonen gibt es noch keine Aktivitäten.

Im jüngsten Jahresabschlussbericht der Koordinationsstelle heisst es, dass 2016 das Schlüsseljahr für E-Health sein könnte. Warum?

Nach der Annahme des Bundesgesetzes über das elektronische Patientendossier (EPDG) wurde den verschiedenen Akteuren klar, dass die Sache nun konkret und verbindlich wird. Insbesondere natürlich den Spitälern und Pflegeheimen, die zur Teilnahme am EPD verpflichtet werden. Mit dem klaren Abstimmungsresultat hat das Parlament signalisiert, dass es jetzt vorwärts­gehen soll. Nun müssen sich die Kantone positionieren und schauen, wie sie sich beim EPD engagieren wollen – finanziell, organisatorisch und politisch. Auch müssen sie prüfen, ob und gegebenenfalls mit welchen anderen Kantonen sie zusammenarbeiten wollen. Wir als E-Health Suisse versuchen, alle Akteure zu unterstützen und den gegenseitigen Informationsaustausch zu fördern, damit alle möglichst in die richtige Richtung gehen.

Und geht es überall in die richtige Richtung?

Auf nationaler und kantonaler Ebene befassen sich alle mit dem Thema. An der Front sind es vor allem jene, die das EPD innerhalb einer Übergangsfrist umsetzen müssen. Wenn das Gesetz im nächsten Jahr in Kraft tritt, läuft für Spitäler eine Frist von drei Jahren, für die Heime eine von fünf Jahren. Diese Institu­tionen stehen bei der Umsetzung vor mehr oder weniger grossen He­rausforderungen. Die Anforderungen an Datenschutz und Datensicherheit sind hoch. Und nicht alle sind IT-mässig gleich weit. Auch im ambulanten Bereich gibt es Akteure, die sehr interessiert sind, am EPD mitzuwirken, auch wenn sie nicht dazu verpflichtet sind, etwa die Apotheken. So versprechen sich viele Apotheken oder Spitex-Dienste spürbare Effizienzgewinne und eine bessere Koordination mit den anderen Akteuren. In diesen Bereichen gibt es häufig ein Informationsdefizit, wenn etwa ein Hausarzt oder ein Spital die Medikation geändert hat, diese Änderung aber ungenügend kommuniziert wird. Im Interesse der Patienten sollten relevante Informationen für alle Behandelnden rasch zugänglich sein. Mit dem EPD wird es nun ein Instrument geben, damit sich die Situation markant verbessert.

Es gibt Spital-CIOs, die gar nicht begeistert vom EPD sind. Die Anforderungen an Datensicherheit und IT-Betrieb seien übertrieben. Was sagen Sie dazu?

Zunächst muss man festhalten, dass die Anforderungen noch gar nicht abschliessend definiert sind. Das Ausführungsrecht zum EPDG tritt erst 2017 in Kraft, die Inhalte werden noch diskutiert. Aber es stimmt, dass das EPD etwa in den Spitälern auch intern die eine oder andere Anpassung auslöst. Diese Innovation ist aber wichtig für die Bevölkerung, die das Gesundheitswesen mit Prämien und Steuergeldern finanziert. Für die Qualität der Versorgung und die Patientensicherheit muss das fragmentierte und verzettelte Wissen besser verwaltet und einheitlich verfügbar gemacht werden. Die Investitionen sind im Interesse der Patienten wichtig und nötig.

Die Ärzte und andere ambulante Leistungserbringer müssen beim EPD nicht mitmachen. Warum nicht? Gerade beim Hausarzt fallen doch die meisten Daten an.

Das ist richtig. Aber für viele Ärzte ist die Umstellung gross, wenn sie Daten und Diagnosen elektronisch erfassen, archivieren und austauschen sollen. Insbesondere ältere Ärzte, die alleine praktizieren, sind skeptisch und nicht immer bereit, ihre Arbeitsweise noch umzustellen. Das ist aber kein Schweizer Phänomen, sondern das ist auch in anderen europäischen Ländern so.

Warum gibt es keinen Zwang für die Ärzte?

Das war letztlich ein politischer Entscheid, den das Parlament fällte. Ein Zwang hätte Widerstand gegen den Trend zum digitalen Arbeiten ausgelöst, der eigentlich nicht mehr aufzuhalten ist. Es gab auch Signale, dass die Ärzteschaft das Referendum ergreifen würde, wenn sie zur Teilnahme am EPD gezwungen würde. Zudem sollten die Umsetzungsprojekte in den Versorgungsregionen zum EPD nicht aus Zwang entstehen, sondern aus der Überzeugung, für alle Akteure einen Mehrwert zu schaffen. Der Start wird nun mit jenen Leistungserbringern erfolgen, die schon relativ weit sind mit der Digitalisierung bei der Datenerfassung und Dokumentation, um eine Basis zu schaffen. Und wenn es dann einige gute Projekte gibt, dann kann man davon ausgehen, dass diese eine Sogwirkung auch auf jene Leistungserbringer haben werden, die dem EPD bislang skeptisch gegenüberstehen.

Wie hoch schätzen Sie den Digitalisierungsgrad bei den Ärzten ein?

Es gibt verschiedene Studien dazu. Ich würde sagen so zirka 40 Prozent. Eine Studie aus dem Jahr 2015 hat zudem gezeigt, dass zwei Drittel der Kommunikation zwischen Hausarzt und Spital noch per Fax oder Post erfolgt.

Wie sieht es auf Patientenseite aus? Wollen die ­Patienten ihr EPD eigentlich selbst verwalten und wissen sie mit der Verantwortung umzugehen, die das mit sich bringt?

Die bisherigen Projekte zeigen, dass die Bevölkerung bei diesem Thema aktiv abgeholt werden muss. Wir sind ja als «Patienten» erzogen. Im lateinischen Wort «patiens» steckt das Rollenverständnis einer Person, die nicht aktiv handelt, sondern «erleidet» oder «erduldet». Als Patienten haben wir nicht wirklich eine Kultur, in der ein Kunde aktiv etwas einfordert und der Markt darauf reagiert. Vielmehr gibt es ein Angebot, das Fachpersonen definieren und anwenden – manchmal haben wir die Wahl, manchmal nicht.

Damit das EPD ein Erfolg wird, braucht es also auch einen Kulturwandel in der Bevölkerung?

Ja. Der Kanton Genf investiert viel in die Überzeugungsarbeit der Bevölkerung und hat inzwischen etwa 15 000 Personen im Umsetzungsprojekt «mondossiermedical». Die Erfahrung zeigt, dass die Leute den Nutzen rasch begreifen, wenn man ihnen das System erklärt.

Wie steht die Schweiz im Vergleich zum Ausland da wenn es um E-Health geht?

Wir haben im internationalen Vergleich mit dem EPD, das ja der Kern der Schweizer E-Health-Strategie ist, ein sehr gutes Konzept. Allerdings sind wir aufgrund unserer föderalen Strukturen und Verantwortlichkeiten in der Umsetzung nicht ganz vorne mit dabei. Bei uns dauert es länger. Es gibt natürlich Vorreiter, etwa die skandinavischen Länder. Die sind uns voraus. Ihr Vorteil ist, dass sie politisch ein weniger marktwirtschaftliches System haben als die Schweiz. Sie können sagen «das ist gut für die Bevölkerung», und das dann beschliessen und umsetzen.

Was machen unsere Nachbarn?

Österreich hat ein ziemlich ähnliches Projekt wie wir, die sogenannte ELGA (Elektronische Gesundheitsakte). Sie haben etwa zwei oder drei Jahre Vorsprung auf uns. Deutschland hat inzwischen auch ein nationales Gesetz, ist aber konzeptionell und in der Umsetzung wohl weniger weit als die Schweiz. Frankreich und Italien haben punktuelle Projekte, aber ihnen fehlt die Verankerung in allen Landesteilen oder die nationale Vernetzung.

Glauben Sie an den Erfolg des EPD und an dessen Umsetzung innerhalb der nächsten fünf Jahre?

Wir sind auf einem guten Weg. Der Tag der Inkraftsetzung des EPDG wird aber nicht ein «Big Bang» sein. Ich glaube, dass so in fünf bis zehn Jahren 80 Prozent der Schweiz abgedeckt sein werden.

Warum ist aus Ihrer Sicht die Digitalisierung des Gesundheitswesens wichtig?

Die ganze Wirtschaft, die Gesellschaft und auch die öffentliche Verwaltung stecken mitten im digitalen Wandel. Die Digitalisierung ist nicht aufzuhalten und wird auch das Gesundheitswesen durchdringen. Jetzt haben wir die Gelegenheit, die Weichen so zu stellen, dass sie koordiniert und im Interesse der Patienten und der Behandelnden erfolgt. Nicht die Technik soll der Treiber sein, sondern ein integrierter Einsatz im praktischen Alltag.

Sind die Daten in einem EPD eigentlich sicher vor unerlaubten Zugriffen oder vor Datendiebstahl?

Die Themen Datenschutz und Datensicherheit sind für den Erfolg und für das Vertrauen zentral. Die rechtlichen Vorgaben werden hier aber klare Anforderungen definieren, um die Daten sicher zu erfassen, zu lagern und zu transportieren. Das ist deshalb wichtig, weil der Gesundheitsmarkt zunehmend global und zum Ziel von Cyberkriminellen wird. Die Systeme müssen einerseits mit vernünftigem Aufwand umfassend geschützt werden und gleichzeitig müssen sie noch schnell und zuverlässig laufen. Das ist keine einfache Aufgabe.

Mit welchen weiteren Themen, ausser dem EPD, befassen Sie sich derzeit auch noch?

Mobile Health ist sicher ein wichtiger Trend. Immer mehr Menschen tragen Fitnessbänder, wiegen sich auf WLAN-Waagen. Self-Tracking oder der Trend zum «Quantified Self» sind neue Instrumente, um die Bevölkerung für Gesundheitsthemen zu sensibilisieren. Als Reaktion darauf wurde im Bundesgesetz zum Patientendossier ja auch aufgenommen, dass auch von den Patienten selbst erfasste Daten ins EPD eingebracht werden können. In den Gremien von E-Health Suisse diskutierten wir, auf welche Art und Weise das geschehen könnte, und haben ein entsprechendes Empfehlungspapier erarbeitet, das noch dieses Jahr in die Anhörung geht. Die App-Stores bieten unzählige Anwendungen im Gesundheitsbereich an. Meistens ist es aber unklar, ob sie anerkannte Qualitätsstandards einhalten oder wem die erfassten Daten gehören. Hier scheint es uns wichtig, dass solche Themen für die Bevölkerung und für Behandelnde transparent kommuniziert werden.

Warum ist Ihrer Ansicht nach das EPD das richtige Instrument, um das Gesundheitswesen zu digitalisieren?

Bei den Behandelnden wächst das Bedürfnis, die interprofessionelle Zusammenarbeit und den Informationsaustausch zu verbessern. Die vernetzte Digitalisierung des Gesundheitswesens bietet die Chance, das verzettelte Wissen der verschiedenen Akteure koordiniert zugänglich und nutzbar zu machen. Damit können Fehler in der Behandlung vermieden und die Abläufe verbessert werden. Inzwischen haben die nationalen Verbände der Ärzte, Apothekern oder Pflegenden damit begonnen, sich mit den Inhalten des EPDs zu befassen. Allein dieser Prozess, in dem geklärt wird, welche Informationen die jeweils andere Seite braucht, ist ein wichtiger Beitrag zur besseren interprofessionellen Zusammenarbeit und für das gegenseitige Verständnis. Gleichzeitig ist die Förderung der Gesundheitskompetenz ein wichtiges politisches Anliegen. Wenn Patientinnen und Patienten ihre Gesundheitsdaten einsehen und Zugriffsrechte erteilen können, dann ist das gelebte Gesundheitskompetenz.

Über e-Health Suisse

Das Koordinationsorgan E-Health Suisse wird getragen und finanziert von Bund und Kantonen. In den Gremien sind zudem Delegierte von Leistungserbringern, Versicherern, Patienten- und Konsumentenorganisationen oder Datenschützern.

Mit einer Geschäftsstelle und einem Projektleitungsgremium stellt E-Health Suisse sicher, dass die einzelnen Projekte zielorientiert und strategiekonform sind, und dass die Synergien zwischen den Projekten genutzt werden. Die Beschlüsse des Koordinationsorgans sind Empfehlungen, die von den einzelnen Partnern im Hinblick auf ein vernetztes System umgesetzt werden sollten.

Die Aufgaben sind:

  • gemeinsame Ziele aller Beteiligten entwickeln,

  • daraus einen konkreten Plan für die Umsetzung und Weiterentwicklung festlegen,

  • die verschiedenen Umsetzungsprojekte gemeinsam mit den entsprechenden Kantonen koordinieren,

  • schweizweit einheitliche Standards festlegen, wo es für die Zusammenarbeit nötig ist,

  • Grundlagen für die nötigen Gesetzesanpassungen erarbeiten,

  • beurteilen, welche bestehenden Prozesse national und international am besten funktionieren,

  • den Informationsaustausch fördern.

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