Spital auf Schienen

Der spanische Fotograf Jordi Pizarro lebt seit längerem in Indien. Dort wurde er auf den «Lifeline-Express» aufmerksam - eine mobile Klinik, die medizinische Hilfe in abgelegene ländliche Gebiete bringt.

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Nur rund vier Prozent des Staatsbudgets investiert Indien ins Gesundheitssystem. In den ländlichen Regionen gibt es Menschen, die ihrer Lebtag keinen Arzt zu sehen bekämen – gäbe es nicht seit 1991 den «Lifeline Express», eine Klinik auf Schienen. Jordi Pizarro hat eines der Ärzteteams begleitet, die ihr Können unentgeltlich in den Dienst des Hilfsprojekts stellen. Sie arbeiten in fünf umgebauten Eisenbahnwagen, die eine optimale Ausgestaltung des Angebots erlauben: Chirurgische Eingriffe sind ebenso möglich wie Informationsveranstaltungen für die Bevölkerung. Dieser an Polio leidende Bub verbringt die ersten Tage nach der Operation im mobilen Spital, bevor er an seinem Wohnort in bestmögliche Obhut gegeben wird.

Gedränge, gespannte Blicke, weit gereckte Arme: Solche Bilder kennt man insbesondere von Lebensmittelverteilungen in Kriegs- und Krisenregionen. Auch wenn hier die Hände nicht leer sind, ist die Dringlichkeit dieselbe. Jedes Formular ist ein Stück Hoffnung auf die Erlösung von Schmerzen oder Behinderungen, welche die Menschen in jenen ländlichen Regionen Indiens, die über keine medizinische Infrastruktur verfügen, oft jahrelang plagen. An solche Orte will der «Lifeline Express» Hilfe bringen. Die Einsätze des mobilen Ärzteteams werden effizient koordiniert: Die Lokaladministration beginnt einen Monat vor Eintreffen des Zuges mit der Bekanntmachung des Angebots und der Registrierung der Patienten. Dennoch wissen die Mediziner, die während der drei bis vier Wochen dauernden Engagements jeden Tag 15 Stunden arbeiten, dass ihre Arbeit nur ein Tropfen auf den heissen Stein ist.

Ein bisschen Zeit sollte man sich nehmen, um auf diesen drei Gesichtern zu verweilen. Die uniforme Kleidung der Frauen, das neutrale Schwarz-Weiss, der nüchterne Hintergrund intensivieren noch die Spannung, welche die Mimik der Porträtierten aufbaut. Da wird Unsicherheit spürbar, mühsam beherrschte Furcht. Jede dieser Inderinnen trägt ein Leiden mit sich; im «Lifeline Express», einer in fünf umgebauten Eisenbahnwaggons eingerichteten mobilen Klinik, sollen sie nun operiert werden – eine einmalige Chance für Menschen, die in ländlichen Regionen fernab jeder ärztlichen Hilfe leben müssen. Aber jetzt, da die Begegnung mit dem Skalpell näher rückt, scheint die Angst die Hoffnung beinah zu verdrängen.

Als die Impact India Foundation ihre Idee für eine mobile Klinik entwickelte, setzte sie zunächst einen Lastwagen ein. Aber bald stellte sich heraus, dass dieser in keiner Hinsicht genügte; erst der Wechsel auf die Schiene machte grössere und kompliziertere Einsätze wie etwa chirurgische Eingriffe möglich. Ein Fokus des Hilfsprojekts liegt auf der Beseitigung heilbarer Behinderungen: Augen- und Ohrenkrankheiten, Hasenscharten, Folgen von Polio. Die Arbeit des «Lifeline Express», die von der indischen Tata Group und anderen Konzernen unterstützt wird, stösst auch im Ausland auf Anerkennung; so stiftete 2009 eine britische Klinik eine Ausrüstung für zahnärztliche Behandlungen und bot zudem den Einsatz eigener Ärzte in dem durch Freiwilligenarbeit bestrittenen Programm an.

Etwas unvertraut und ziemlich eng wirkt er schon – der Eisenbahnwaggon, in dem die Ärzte des «Lifeline Express» chirurgische Eingriffe durchführen. Aber die mobile Klinik, die medizinische Hilfe in abgelegene ländliche Regionen Indiens bringt, leistet wichtige Dienste; schon mehr als 600'000 Operationen wurden in dem adäquat ausgebauten und hygienisch einwandfrei gehaltenen Waggon durchgeführt, dazu kommen ärztliche und zahnärztliche Behandlungen sowie Gesundheitsberatung. Drei bis vier Wochen hält sich das Ärzteteam jeweils an einem Ort auf, um nach operativen Eingriffen auch angemessene Nachbetreuung leisten zu können. Die Arbeit ist hart – noch härter ist es, wenn man die Patienten dann zurücklassen muss. Zelma Lazarus von der Impact India Foundation, die den «Lifeline Express» lanciert hat, erzählt, dass sich die Menschen manchmal quer auf die Gleise legen, um den Zug am Abfahren zu hindern.

Bilder: Jordi Pizarro