Das schlanke Vorbild Toyota

Wie Schweizer Spitäler von japanischen Autobauern lernen, alles auf die Karte Effizienz zu setzen – und dabei doch stets dem Patienten beste Qualität bieten wollen.

Simon Hehli, Liestal
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Mehr Zeit für die Kranken: Effizienzgewinn durch den Einsatz eines Pflegewagens im Spital Liestal. (Bild: Dominic Steinmann / NZZ)

Mehr Zeit für die Kranken: Effizienzgewinn durch den Einsatz eines Pflegewagens im Spital Liestal. (Bild: Dominic Steinmann / NZZ)

Wer schon in einem Schweizer Spital lag, kennt das Frühstücksprozedere: Gereicht wird ein Tablett mit einem Weggli, einer Scheibe Brot, Birchermüesli, Joghurt, Butter, Konfitüre oder so ähnlich. Bloss isst nicht jeder Kranke dasselbe. Die Gastronomieabteilung des Kantonsspitals Baselland (KSBL) in Liestal meldete deshalb nach oben: Zu viel Essen kommt wieder zurück, ein klassischer Fall von Verschwendung. Die Lösung ist ein Buffetwagen, von dem die Patienten selber auswählen können, was sie möchten – und sich dadurch gar noch privilegiert fühlen.

Der Buffetwagen ist ein Pilotprojekt; ob er in Liestal zum Standard wird, ist noch offen. Die stetige Suche nach Verbesserungsmöglichkeiten ist typisch für ein Spital, das nach dem sogenannten Lean Management funktioniert. «Lean» bedeutet schlank, es geht also um möglichst effiziente Abläufe auf allen Ebenen. In amerikanischen Spitälern steht das Prinzip hoch im Kurs, weshalb derzeit zahlreiche Schweizer Spitalmanager über den Ozean reisen, um sich über die Organisationsstruktur zu informieren.

In Japan aus der Not geboren

Vorreiter ist das Virginia Mason Medical Center in Seattle. Es hat als erste Institution die Produktionsprinzipien von Toyota in den Spitalbereich übersetzt und es so geschafft, gravierende Qualitätsmängel zu beheben. Der japanische Autobauer musste wegen der Isolationspolitik der USA in den 1930er und 1940er Jahren mit äusserst knappen Ressourcen zurechtkommen. Das damals gewonnene Wissen floss 1978 in ein Handbuch des Toyota-Ingenieurs Taiichi Ohno ein, von dem sich in der angelsächsischen Welt später die Promotoren des Lean Management inspirieren liessen.

Das Kantonsspital Baselland begann im Jahr 2013, die Lean-Prinzipien anzuwenden. Dass sich die Spitalleitung an einer Automobilfabrik orientiert, führt aber nicht etwa dazu, dass Patienten nun wie am Fliessband abgefertigt werden. Vielmehr soll die Zufriedenheit des Kunden das Mass aller Dinge sein. Schweizer Spitäler stehen je länger, je mehr im – politisch erwünschten – Wettbewerb zueinander und müssen um Patienten buhlen. «Glückliche Kunden haben wir dann, wenn sie möglichst schnell wieder nach Hause können und eine Behandlung in bester Qualität erhalten haben», sagt KSBL-CEO Jürg Aebi.

Aebi hat dafür gesorgt, dass sich das ganze Spital, zu dem auch die Standorte Bruderholz und Laufen gehören, an diesem Prinzip orientiert. In den Zimmern hängt nun für jeden Patienten eine Tafel, auf der steht, wer ihn heute pflegt und wie der zuständige Arzt heisst. Vermerkt ist auch das geplante Austrittsdatum. Die Patienten werden täglich nach ihrer Zufriedenheit gefragt, um Probleme frühzeitig zu erkennen.

Ein weiteres Element ist eine stärkere Standardisierung. Er habe die Pflegenden gefragt, was sich im Tagesablauf planen lasse, erzählt Aebi. «Die Antwort war: ‹Nichts.›» Doch auch wenn auf einer Spitalstation immer wieder Ausnahmesituationen vorkommen, ist vieles Routine und damit planbar. Um die Arbeitsbelastung zeitlich besser zu verteilen, gibt ein Raster die grobe Tagesstruktur vor. Die Pflegenden gehen jetzt jede Stunde fix bei allen Betten vorbei. Das führt dazu, dass die Patienten weniger oft die Glocke läuten – und so müssen die Pflegenden seltener alles stehen- und liegenlassen.

Wenn die Zeit unnütz verrinnt

Auch andere Massnahmen dienen dem Ziel, dass die Pflegenden mehr Zeit für die Kranken haben. So müssen sie nicht mehr jedes Mal den relativ weiten Weg zur Materialstation zurücklegen, wenn sie Medikamente oder Verbandszeug benötigen. Das meiste haben sie in ihrem standardisiert ausgerüsteten Pflegewagen dabei – und wenn sie sonst etwas brauchen, können sie auf Tafeln gleich ausserhalb des Patientenzimmers eine Notiz schreiben; der Aussendienst bringt dann das Material und stellt es auf ein Brett neben der Tür. In den Zimmern sind an der Wand Packungen mit Wegwerfhandschuhen befestigt. Früher waren diese in einem Schrank verstaut – die Pflegenden mussten immer zuerst die Hände desinfizieren, bevor sie die Schranktüre öffneten. «Das sind viele Kleinigkeiten, die in der Summe aber zu grossem Zeitverlust führen», sagt Stefanie Kurz, die Projektleiterin des KSBL für Lean Management.

Die meisten Modifikationen haben die Pflegenden selber angeregt – Kaizen nennt sich das nach Toyota-Vorbild. Es bezeichnet auf Japanisch das stetige Streben nach Verbesserung. Die Mitarbeitenden haben allein auf einer Lean-Station bereits mehr als hundert Optimierungsideen eingebracht. «Wir wollen von den Leuten lernen, die direkt bei den Patienten sind, denn sie wissen am besten, was es braucht», betont Kurz. Es sei sozusagen detektivische Arbeit, die Leerläufe aufzuspüren, die es im KSBL wie in jedem Spital gibt. Ein Kaizen-Vorschlag führte auch dazu, dass die auf Papier ausgedruckten Laborberichte abgeschafft wurden. Sie auf allen Stationen zu verteilen, war zeitraubend – aber schon länger schaute niemand mehr die Berichte an, weil die Daten auch in den Computern abrufbar sind.

«Als wir mit dem Lean Management anfingen, war das für viele Mitarbeitende einfach ‹BWL-Quark›», erinnert sich CEO Aebi. Jetzt aber seien sie froh. Das bestätigt Pflegefachfrau Daniela Girod: «Die Standards helfen uns im Alltag und spielen Kapazitäten frei, die wir für aussergewöhnlich schwierige Situationen mit Patienten benötigen.» Ein Schlüssel zum Erfolg ist laut Projektleiterin Stefanie Kurz, dass die Angestellten nicht das Gefühl bekommen, dass die Effizienzgewinne letztlich zu einem Stellenabbau führen würden. «Das wäre gefährlich, denn der Erfolg des Prozesses steht und fällt mit dem Goodwill des Personals.»

Mittelfristig kommen die Spitäler aber wohl ohnehin nicht um schlankere Prozesse mit weniger Personal herum, denn in einer alternden Gesellschaft mit mehr Bedarf an medizinischen Leistungen dürfte sich der Fachkräftemangel noch verschärfen. Und natürlich sind in Zeiten leerer Kantonskassen und rasant steigender Gesundheitskosten auch Kostensenkungen erwünscht – nicht nur in der Region Basel, wo die Krankenkassenprämien zu den höchsten des Landes gehören.

Die ganze Institution «huddlet»

Das Pflegepersonal hat im KSBL eine Vorreiterrolle, doch auf jeder Stufe bis hinauf zur Geschäftsleitung gibt es bereits regelmässige Huddle-Meetings. Der Ausdruck stammt aus dem American Football und bezeichnet die Versammlung der Spieler, die einen Kreis bilden, um die Taktik zu besprechen. Auf grossen Tafeln an den Wänden placieren die Teilnehmer Zettel mit ihren laufenden Projekten, die sie kurz beschreiben, und pinnen lachende grüne, neutrale gelbe oder traurige rote Smileys hin, je nach Stand der Entwicklung. Die Informationen gelangen rasch auf die nächsthöhere Ebene, indem die Verantwortlichen tieferer Stufen dort rapportieren.

In den nächsten Monaten werden auch die Liestaler Ärzte beginnen, sich mit den Lean-Prinzipien auseinanderzusetzen. Noch sei die Skepsis gross, sagt Stefanie Kurz. «Aber die Ärzte werden die Vorteile rasch bemerken, wenn sie schneller an die nötigen Infos herankommen, weniger durch Telefonate gestört und von administrativer Arbeit entlastet werden.» Für solche Argumente dürften Mediziner tatsächlich empfänglich sein, beklagen sie sich doch immer lauter über die überbordende Bürokratie in den Spitälern.

Hat das Personal weniger Stress, sind auch die Patienten zufriedener, und das Risiko von fatalen Fehlern sinkt. Fliessen zudem die verschiedenen Prozesse vor einer Operation – zum Beispiel Empfang und Aufnahme der Daten, Blutentnahme, Gespräche mit dem Chirurgen und dem Anästhesisten – besser ineinander, lassen sich die für den Patienten lästigen Wartezeiten markant verkürzen.

Den Spitalbau neu denken

Bei der – anspruchsvollen – Neuorganisation der Abläufe im Spital soll das Umsetzen der Lean-Philosophie nicht haltmachen. Wie die Autoren des Buchs «Lean Hospital – das Spital der Zukunft» skizzieren, gibt es auch bei den Gebäuden noch grosses Optimierungspotenzial, weshalb sie anstehende Neubauten von Krankenhäusern in der Schweiz als grosse Chance sehen. «Bisher wurden die Spitäler um die Ärzte herum gebaut, künftig sollen die Bedürfnisse der Patienten radikal im Mittelpunkt stehen», sagt auch KSBL-CEO Aebi. Beispielsweise wären dann die Wege von den Bettenstationen in den Operationssaal deutlich kürzer. Doch das ist noch Zukunftsmusik.

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