Kommentar

Schlendrian im Gesundheitswesen

Die Kostensteigerung im Gesundheitswesen liegt Jahr für Jahr weit über der durchschnittlichen Teuerung. Fehlender Wettbewerb und mangelhafte Kostenkontrollen kommen die Versicherten teuer zu stehen.

Werner Enz
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Auf der Intensivstation des Triemli-Spitals steht gelegentlich etwas auf dem Kopf. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Auf der Intensivstation des Triemli-Spitals steht gelegentlich etwas auf dem Kopf. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Die Schweiz steckt seit mehr als zwei Jahren in einer leichten Deflation, aber im Gesundheitswesen, das inzwischen fast 13 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung oder gegen 80 Milliarden Franken absorbiert, steigen die Kosten ohne Unterlass weiter. Das schlägt bei Millionen von Haushalten direkt aufs Portemonnaie durch. Diesmal stehen Prämienerhöhungen an, die das langfristige Mittel von ungefähr 4 Prozent markant übersteigen werden. Erschwerend wirkt, dass jüngst die Reservepolster der Krankenkassen wegen der mageren Anlagerenditen wieder dünner geworden sind.

Gewollt undurchsichtig

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat unlängst die schlechte Nachricht in Watte verpackt mit der Ankündigung, bei einer Minimalfranchise von 300 Franken würden die Prämien im Mittel um 4,5 Prozent steigen. Prompt machte diese Zahl Schlagzeilen, obschon sie die effektive Lage zu rosig wiedergibt. Es geht in Tat und Wahrheit in Richtung von Preisaufschlägen von 6 Prozent, denn erneut werden die Prämiensätze für höhere Franchisen – wie schon im Vorjahr – stärker belastet. Mit Blick auf das zentrale Erfordernis, die Eigenverantwortung des Bürgers zu fördern, sind solche Eingriffe besonders widersinnig. Ebenso fragwürdig ist es, dass in der Prämienrunde 2017 Kinderprämien im Schnitt sogar um 6,6 Prozent heraufgesetzt werden. Absehbar ist, dass die Zahl jener Familien, die Anspruch auf Prämienverbilligungen haben, beschleunigt weiterwächst. Prämienverbilligungen von inzwischen jährlich 4 Milliarden Franken sind ein Warnsignal. So kann es nicht weitergehen.


Kosten im Gesundheitswesen - NZZ Dossiers

Hohe Krankenkassenprämien und Gesundheitskosten führen unter den Beteiligten zu Schuldzuweisung. Das Nachsehen hat der Prämienzahler.


Was genau hinter der ungebändigten Teuerung im Gesundheitswesen steckt, lässt sich wegen der mangelhaften Rechnungsablage nur ansatzweise eruieren. Das BAG räumt ein, diesmal für einen Kostenanstieg im Umfang von 250 Millionen Franken – das sind gerundet 0,3 Prozent der Gesamtausgaben – keine Erklärung zu haben. Es gibt im Dreieck Patient - Krankenkasse - Arzt/Spitäler viele Tricks, um sich gesundzustossen. Die Anreize sind so gesetzt, dass Mengen maximiert werden. Preisgarantien, wie sie sich im Ärztetarif Tarmed spiegeln, laden dazu ein, Grenzen der Zahlungsbereitschaft von Krankenkassen auszuloten. Wer hat nicht schon als Patient am eigenen Leib erfahren, dass ihm noch ein Medikament oder eine Zusatzbehandlung aufgeschwatzt wurde?

Ein neuer Trend geht dahin, dass Spitäler des Öfteren Leistungen ambulant erbringen, um mehr Rechnungen über die Kassen abwickeln zu können. Dem Spitaldirektor sitzt der kantonale Finanzdirektor im Nacken, der die Steuern nicht schon wieder wegen ausufernder Spitalkosten erhöhen möchte. Zum intransparenten Spiel gehört, dass in der Schweiz der Steuerzahler Krankenpflegeleistungen auf Kantonsebene mitfinanziert. Es sollte im Weiteren doch möglich sein, in Spitälern stationär und anderswo ambulant erbrachte, gleichwertige Leistungen zum selben Preis abzurechnen. Zuversichtlich stimmt, dass in dieser Frage der Krankenkassenverband Curafutura und der Ärzteverband FMH am selben Strick ziehen. Der Kostendruck steigt auch in Spitälern, vor allem in finanzschwachen Kantonen; die Pflegerinnen und Pfleger werden immer stärker gefordert. Es gilt anzuerkennen, dass mit fortschreitender Alterung der Gesellschaft in der Pflege Hochbetagter die Zahl benötigter Arbeitsstunden steigen wird. Indes müsste der technische Fortschritt in der Kommunikation und in der Telemedizin grosse Sparpotenziale bergen.

Die harten Fakten sprechen eine andere Sprache: Mathias Binswanger von der Fachhochschule Nordwestschweiz prägte für die Kostendynamik im Gesundheitswesen jüngst den Begriff Controlling-Bürokratie. Im Zeitraum 2010 bis 2014 hat die Zahl der Ärzte und des Pflegepersonals in den Schweizer Krankenhäusern um je etwa einen Zehntel auf 21 000 beziehungsweise 64 500 zugenommen. Das mag zum Teil mit einer Zunahme der Aufgaben erklärbar sein. Aber warum ist im Gleichschritt dazu die Beschäftigung in der Administration, im Hausdienst und bei den technischen Diensten ebenfalls um rund 10 Prozent gestiegen? Die naheliegende Erklärung ist, dass der Kontrollaufwand exponentiell steigt, weil im Gesundheitswesen der Wettbewerb nicht spielt.

Die Einführung der Fallpauschale vor vier Jahren – sie zielt richtigerweise auf Kosteneindämmung – ist einer der Gründe für mehr Bürokratie. Wo der Wettbewerb nicht spielt, sind Technokraten am Werk. So wird in Spitälern zwecks Einhaltens von Vorschriften geplant, rapportiert, codiert oder dokumentiert. Korrespondierend dazu werden dann auch die Krankenkassen von einer Papierflut erfasst. Die Krankenkasse CSS liess einmal verlauten, beim BAG einzureichende Prämientabellen hätten vor zwanzig Jahren auf vier A4-Seiten Platz gefunden. Nun füllten sie 300 Seiten.

Vorgeschobene Argumente

Unausweichlich steigt mit der diesmal besonders harsch ausfallenden Prämienrunde der Leidensdruck der Bevölkerung. Die Aushandlung des neuen Ärztetarifs Tarmed kann nicht losgelöst vom lauter werdenden Unmut erfolgen. Lasereinsatz bei der Behandlung von Augenkrankheiten ist nur eines jener zahlreichen Beispiele, wo dank neuer Technologie grosse Ersparnisse möglich geworden sind. Sinnvoll wäre aber auch, den Selbstbehalt der Versicherten heraufzusetzen, vor allem für Behandlungen, bei denen es nicht um eine akute Gefährdung von Leib und Leben geht.

Der Leistungskatalog
der Grundversicherung sollte mit den Grenzen der Finanzierbarkeit vor
Augen ausgedünnt werden.

Bei der Beschaffung medizinischer Geräte aller Art ist bisweilen der Schlendrian am Werk. Es muss jedenfalls erstaunen, wie der technische Fortschritt immer wieder im selben Atemzug mit Kostensteigerungen genannt wird, als ob das eine das andere bedingen würde. Überall in der Wirtschaft, zumindest dort, wo Wettbewerb herrscht, läuft der technische Fortschritt immer darauf hinaus, eine vergleichbare Leistung zu tieferen Preisen zu erbringen oder ein Produkt mit einer besseren Qualität anzubieten. Warum schlägt der harte Frankenkurs nicht kostendämpfend durch, wenn Spitäler teure Maschinen importieren? Warum bringt der Zerfall der Preise für die Datenübermittlung keine Entlastung? Die unangenehme Antwort lautet, dass das Interesse an Kostentransparenz gering ist, denn jede Anschaffung wird ohnehin bezahlt. Bewegen sollten sich beispielsweise die Kantone, indem sie Spitäler – wie in Winterthur in die Wege geleitet – privatisieren oder sich zu überkantonalen Kooperationen durchringen. Überhaupt steht und fällt viel mit der Rolle der Kantone, wenn es um überfällige Reformen im Gesundheitswesen geht. Sie betätigen sich als Finanzierer, Planer und Betreiber von Spitälern, sind zugleich deren Eigentümer und deren Überwachungsinstanz, welche womöglich noch unliebsame Konkurrenten ausbremst.

Ein guter Startpunkt für eine Reform, die diesen Namen verdiente, wäre die Aufwertung der Krankenversicherungen. Das Volk hat die Einheitskasse mehrfach wuchtig verworfen und damit eines klargemacht: Angebotsvielfalt und Wettbewerb unter den Krankenkassen sind erwünscht. Die Abkehr von Einheitsprämie und Vertragszwang würde den Weg zu einem effizienten Gesundheitswesen ebnen. Dazu gehört, dass sich der Konzentrationsprozess unter Krankenversicherern fortsetzt, aber auch neue Anbieter (Migros und andere) in den 80-Milliarden-Franken-Markt eintreten. Der Leistungskatalog der Grundversicherung sollte mit den Grenzen der Finanzierbarkeit vor Augen ausgedünnt werden. Es müssen Rezepte gegen die Kostendynamik gefunden werden. Hierbei wird an die Solidarität unter Versicherten bei lebensbedrohenden Krankheiten und zugleich an die Selbstverantwortung bei allen übrigen Behandlungen appelliert. Damit die Versorgung im ersteren Fall für breite Bevölkerungskreise bezahlbar bleibt, muss Abschied vom Gedanken einer Rundumversorgung genommen werden.