LUZERN: Guido Graf greift Krankenkassen an: «Sie sollen endlich ihren Job machen»

Gesundheitsdirektor Guido Graf regt sich über die teure Unterwanderung des Grundsatzes ambulant vor stationär auf. Und er will Versicherer und Spitäler in die Pflicht nehmen.

Balz Bruder
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Guido Graf kritisiert, dass zu viele stationäre Behandlungen durchgeführt werden. Bild: Corinne Glanzmann (Luzern, 22. Januar 2016)

Guido Graf kritisiert, dass zu viele stationäre Behandlungen durchgeführt werden. Bild: Corinne Glanzmann (Luzern, 22. Januar 2016)

Guido Graf, nun ist es quasi amtlich: Spitäler behalten Zusatzversicherte selbst bei einfacheren Eingriffen mehr als einen Tag bei sich. Das ist ein lukratives Geschäft für Ärzte und Spitäler, wie Unterlagen zeigen, die unserer Zeitung vorliegen (Ausgabe vom 29. Oktober).

Ja, das System ist bekannt. Stationäre Behandlungen sind insbesondere bei Zusatzversicherten finanziell interessanter als ambulante. Deshalb haben mich die Zahlen nicht überrascht. Ich kenne sie von einer Tagung, welche die Krankenversicherer Ende September durchgeführt haben. Vorher wurde darüber nur immer spekuliert.

Eben: Aufgebracht hat die Kritik ausgerechnet die Einkaufsgemeinschaft von Helsana, Sanitas und KPT. Dabei profitieren die Krankenversicherer ebenfalls, weil sie ambulante Behandlungen vollumfänglich zu übernehmen haben, derweil bei den stationären der Kanton mit 55 Prozent mitbezahlt.

Ja, das ist der Punkt, den ich extrem stossend finde. Die Krankenversicherer veranstalten eine Tagung, rechnen vor, wie teuer die stationäre Versorgung allgemein und insbesondere von Zusatzversicherten ist, und leiten daraus die Forderung ab, die ambulanten und die stationären Behandlungen müssten nach dem gleichen Modell abgerechnet werden. Dabei sollten die Krankenversicherer zuerst vor der eigenen Türe kehren.

Was meinen Sie damit?

Schauen wir uns ein Beispiel an, das an der Tagung dargestellt wurde: Ein Krampfadern-Eingriff kostet ambulant 2600 Franken, stationär in der Grundversicherung 7400 Franken und stationär in der Zusatzversicherung 20 000 Franken. Offenbar wird über die Zusatzversicherung noch einmal das Doppelte oder Dreifache abgegolten, obwohl mit der Fallpauschale sämtliche Kosten für eine wirtschaftliche Behandlung bereits gedeckt sind. Da stimmt doch etwas nicht! Es wäre die Aufgabe der Krankenversicherer, hier einzugreifen.

Sagen Sie uns, wie.

Ganz einfach: Sie müssen den Auftrag erfüllen, der im Krankenversicherungsgesetz (KVG) angelegt ist. Sie müssen die Wirtschaftlichkeit einer Behandlung überprüfen – und nicht dafür schauen, in welchem Fall sie weniger bezahlen müssen oder ob der Patient zusatzversichert ist. Das ist eindeutig nicht, was das KVG verlangt.

Was verlangen Sie?

Die Krankenversicherer müssen endlich ihren Job machen und ungerechtfertigte Rechnungen zurückweisen. Zudem wünsche ich mir endlich auch einmal ein klares Votum unseres Gesundheitsministers in Bern.

Sie sprechen Bundesrat Berset und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) an ...

... ja, genau. In Bundesbern muss dafür gesorgt werden, dass die Kriterien der Wirtschaftlichkeit, Zweckmässigkeit und Wirksamkeit, die im KVG verankert sind, durchgesetzt werden. Konkret muss der Krankenversicherer die in Rechnung gestellten Leistungen auf die erwähnten Kriterien prüfen, wofür ihm der Leistungserbringer alle dazu erforderlichen Daten zur Verfügung stellen muss. Auch das steht im KVG. Das bedeutet, dass die Versicherer nur ihren Job machen müssten und bei allen Rechnungen prüfen, ob die Leistung wirtschaftlich erbracht wurde.

Umgekehrt hiesse das ...

... dass die Versicherung beanstanden müsste, wenn eine ambulante Behandlung möglich gewesen wäre. Und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen Zusatzversicherten handelte oder ob es für die Versicherung günstiger wäre!

Sie sehen den Ball klar bei den Krankenversicherern. Ist das Problem damit zu lösen?

Ja, die Forderung ambulant vor stationär liesse sich mit einer konsequenten Kontrolle und entsprechenden Sanktionen auf diese Art und Weise lösen. Abgesehen davon gibt es klare Zuständigkeiten: Die Aufsicht über die Krankenversicherung teilen sich das BAG und die Finanzmarktaufsicht (Finma). Für die obligatorische Krankenversicherung ist gemäss KVG das BAG zuständig, für die Zusatzversicherung gemäss Versicherungsvertragsgesetz die Finma.

Wie viel Vertrauen haben Sie?

Ehrlich gesagt, wenig. Machen wir uns nichts vor: Zusatzversicherte werden zum Teil bis zu zehnmal häufiger stationär behandelt als Grundversicherte. Ich befürchte, dass die Versicherer ihre zahlungskräftige Klientel nicht vergraulen wollen. Dies, obwohl es auch für die Zusatzversicherten vorteilhafter wäre, nicht zur Querfinanzierung von Leistungen der Grundversicherung beitragen zu müssen.

Die Bundespolitik hat das Thema der unterschiedlichen Finanzierungsmodelle zwischen ambulant und stationär seit Jahren in Arbeit. Ein Vorschlag lautet, den gleichen Kostenteiler für beide Bereiche anzuwenden. Ein gangbarer Weg?

Für die Spitäler bleibt der Anreiz der gleiche! Wer bezahlt, ist den Häusern egal. Entscheidend ist, wie viel sie bekommen.

Also kein guter Vorschlag?

Nein. Die Umstellung des Systems würde einen extrem hohen Verwaltungsaufwand generieren. Jede einzelne Rechnung für eine ambulante Behandlung müsste gesplittet werden. Und bei jeder Stornierung oder Korrektur müsste dies wieder auf Spital- und Versicherungsseite erfolgen. Ziemlich sicher würden zudem dann auch die Kantone diese Rechnungen kontrollieren wollen.

Sind Sie also unter dem Strich für oder gegen einen gleichen Kostenteiler ambulant und stationär?

Die kantonale Mitfinanzierung bringt ausser viel Administration nichts. Zudem würde ein solches Modell eine Kostenverschiebung von der Kranken­versicherung zu den Kantonen bedeuten – selbst wenn die Umstellung kos­ten­neutral erfolgen sollte, wie immer versprochen wird. Denn die Kostendynamik ist im ambulanten Bereich viel grösser als im stationären.

Können Sie das konkretisieren? Auch für den Kanton?

Seit 2009 ist das Kostenwachstum doppelt so gross. Wir haben zwar keine genauen Zahlen für den Kanton Luzern, weil sich der Kanton ja nur an den stationären Fällen beteiligt. Aber die Entwicklung ist bei uns etwa die gleiche wie anderswo. Und übrigens, falls das Parlament tatsächlich eine Kostenüberwälzung von der Krankenversicherung auf die Kantone möchte, könnte man dies ganz einfach mit einer Anpassung des Kostenschlüssels bei den stationären Behandlungen machen. Ohne dass das System geändert werden müsste und ohne eine Ausweitung der Administration.

Welche Kosten könnten eingespart werden, wenn der Grundsatz am­bulant vor stationär konsequent befolgt würde?

Das Beratungsunternehmen PricewaterhouseCoopers hat errechnet, dass sich rund 1 Milliarde Franken einsparen liesse. Eine Zahl, die übrigens auch die Krankenversicherer gern zeigen. Dabei hätten sie es selber in der Hand, das Potenzial durch eine konsequente Rechnungskontrolle zu realisieren.

Mit welchem Effekt rechnen Sie für den Kanton Luzern?

Auch wenn es weniger als 1 Milliarde wäre: Allein für den Kanton Luzern geht es sicher um einen einstelligen Millionenbetrag.

Sparen kann aber auch der Kanton selber.

Ja, wir haben die Erfahrung gemacht, dass wir mit einer kantonalen Kontrolle viel Geld sparen können. So spielt es beispielsweise für die Krankenversicherer keine Rolle, wo ihr Versicherter seinen Wohnsitz hat. Für den Kanton bedeutet es jedoch zahlen oder nicht zahlen.

In die Pflicht nehmen können Sie zudem die Spitäler.

Ja, das ist so. Wir sind daran abzuklären, ab Mitte des kommenden Jahres selber zu prüfen, ob eine Leistung nicht hätte ambulant erbracht werden können. Der Kanton würde dann seinen Kostenanteil bei ganz bestimmten Behandlungen nur noch dann berappen, wenn das Spital darlegen kann, dass die Behandlung im konkreten Fall – ausnahmsweise – stationär erfolgen musste.

Die Spitäler werden nicht jubeln.

Das müssen sie auch nicht. Aber der Kanton hat die Verantwortung, mit den öffentlichen Mitteln, die er einsetzt, haushälterisch umzugehen. Und so, wie es nach Recht und Gesetz ist. Das würde ich mir auch von den Krankenversicherern wünschen.

Was ist Ihr Rezept gegen ungleiche Tarife für gleiche Leistungen?

Ganz klar: Transparenz. Von allen, insbesondere aber von den Krankenversicherern. Sie sollen gewährleisten, dass alle Spitäler in etwa die gleichen Bedingungen haben. Heute sind die Tarife bei den Zusatzversicherungen völlig intransparent und von Spital zu Spital unterschiedlich. Damit werden sie für gleiche Leistungen unterschiedlich entschädigt. Das wiederum führt zu ungleich langen Spiessen. Das geht nicht – vor allem mit Blick auf die Beträge, um die es geht.

Interview: Balz Bruder