Sim Hospital: Ein russisches Krankenhaus simuliert mit GPU-Power jede Menge OPs

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Special Roland Austinat (US-Korrespondent)
Chirurgen helfen drei Simulationsmethoden bei der OP-Vorbereitung.
Quelle: PC Games Hardware

Virtuelle Krankenstation: Im russischen Samara arbeiten Ärzte und Programmierer an umfassenden Simulationen des Körpers und sogar eines ganzen Krankenhauses - damit Studenten und Ärzte alltägliche wie seltene Eingriffe per VR und AR üben können.

Wie lernten wir schon in "Raumschiff Enterprise" von Mr. Chekov? So ziemlich alle Segen der Zivilisation wurden in Russland erfunden. Das behauptet Dr. Boris Yaremin, Associate Professor und Leiter des High Performance Computing & Big Data Department an der Samara State Medical University zwar nicht, doch der quirlige Mediziner präsentierte auf der GPU Technology Conference in San Jose zahlreiche hundertprozentig selbst entwickelte Technologien, die an "seinem" Lehrkrankenhaus auf den GPU-, VR- und AR-Einsatz bauen, um Ärzten und Studenten aus- und weiterzubilden - und sogar Operationen zu erleichtern.

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Virtuelle Physiologie

Zu den Eigenentwicklungen von Dr. Yaremin und seinen Kollegen gehört das Deep Anatomy Projekt - ein realistisches Modell des menschlichen Körpers, das für Forschung, Diagnose, Lehre, Operationen und andere Anwendungsgebiete verwendet wird. "Wir reden hier nicht von noch einem weiteren Anatomieatlas, sondern einem lebenden, atmenden Körper - und nicht um eine Leiche", sagt Yaremin. Virtuelle Physiologie nennt sein Team so präzise Simulationen etwa eines schlagenden Herzens, dem die Ärzte virtuelle Medikamente verabreichen und dann beobachten können, wie sich das Herz und dessen Verhalten dynamisch verändern.

Eine weitere Anwendung ist ein virtuelles Ultraschallgerät, das wie in der Realität im Körper verborgene Organe abbildet und so Studenten mit der realen Untersuchungsmethode vertraut macht. Chirurgen helfen drei Simulationsmethoden bei der OP-Vorbereitung: Eine Nieren- beziehungsweise Lebersimulation erleichtert Transplantationsspezialisten ihre Arbeit. Bei der Niere werden Blut- und Urinfluss mit rund 50 Varianten simuliert, während bei der Leber das anatomisch am besten passendste Spenderorgan ausgesucht wird. Dritte im Bunde sind schönheits- beziehungsweise rekonstruktionschirurgische Eingriffe: "Hier wählt die Patientin zusammen mit dem Arzt mit Hilfe von 3D-Modellen das passende Implantat aus", erklärt Dr. Yaremin. Uns erinnerte diese Simulation frappierend an die Charaktererstellung in einem modernen 3D-Rollenspiel - ohne Kettenhemd, versteht sich.

Simulierte Operationen

Vom Monitor geht es in die dreidimensionale Welt: Der Pirogow-Anatomietisch könnte auch aus dem Reboot-Star-Trek-Universum entliehen sein. Er bekam seinen Namen von Nikolai Iwanowitsch Pirogow, "dem Vater der modernen Chirurgie" - hier erinnert uns Dr. Yaremin dann doch ein wenig an Pavel Chekov. Die Oberfläche des Tisches: ein mehrere Quadratmeter großer Touchscreen, der einen Blick in den Körper erlaubt - von Muskel- über Nerven- bis zur Knochenstruktur. Außerdem sind interaktive Sezierarbeiten möglich.

Noch interaktiver: OP-Simulatoren mit Nvidia-Profi-Grafikkarten, die laparoskopische und endovaskulare Eingriffe nachbilden. Hier können Ärzte und Studenten sogar zu authentischen Instrumenten greifen, deren Aktivitäten von der Simulation erfasst und dann auf dem Monitor wiedergegeben werden. "Diese Operationen sind sehr komplex und enthalten sowohl eine Vor- als auch eine Nachbesprechung", so Dr. Yaremin. "Genau wie im richtigen Leben. Außerdem lassen sich so Eingriffe simulieren, die im normalen Krankenhausbetrieb nicht jeden Tag auf dem Plan stehen."

Virtueller Klinikrundgang

Auch Augmented Reality kommt an der Samara State University zum Einsatz. Etwa mit einem iOS- oder Android-Tablet, das ein Lehrbuchfoto erfasst und daraufhin tiefere Einblicke in den Körper erlaubt. Oder mit einer Tierleber, über die Venen und Arterien gelegt werden. "Diese Methode kommt noch nicht bei Operationen zum Einsatz, wir arbeiten derzeit an einem neuen Tracking-System", erklärt Dr. Yaremin. Was jedoch schon testweise Alltag ist: Komplexe OPs, bei denen die Chirurgen AR-Brillen tragen. Damit sehen sie eine Art 3D-Ansicht des Körpers, die auf vorhergehenden Untersuchungen des Patienten beruht. Und sie wissen ganz genau, an welcher Stelle sie das Skalpell ansetzen müssen - und was sie darunter erwartet. In einer anderen Anwendung führen Ärzte vor einer OP einen Probelauf durch, bei dem sie beispielsweise einen Stent einsetzen.

Das Meisterstück von Dr. Yaremins Team: die VR-Version einer Klinik. Mit einem Oculus-Rift-Headset können sich Medizinstudenten die einzelnen Abteilungen eines Krankenhauses ansehen - Ärzte und Patienten inklusive. So sehen wir den Empfangsbereich, ein Ultraschall-Labor, eine Endoskopie, eine Kernspintomographie und sogar ein Patienten im OP. "Wir erfassen selbst individuelle Fingerbewegungen der Studenten, die damit beispielsweise selbst Instrumente in die Hand nehmen können - und bereiten sie so auf ihre Zeit im Krankenhaus vor", so Dr. Yaremin.

Faszinierend: Die Zukunft schon heute

Gleichzeitig stoßen die Wissenschaftler noch an Grenzen der Technik, etwa, wenn es um haptische Rückmeldungen in der virtuellen Welt geht. "Wir experimentieren bei den laparoskopischen und endovaskularen OPs damit, doch die Ergebnisse sind noch nicht zufriedenstellend", sagt Dr. Yaremin. "Als Chirurg kommt es mir persönlich weniger auf die Haptik an, sondern darauf, meine Hand-Augen-Koordination zu trainieren. Aber ich mag da auch falsch liegen und möglicherweise fällt uns in Zukunft noch eine ganz neue Methode dafür ein."

Der Vortrag des Professors begeistert uns. Die GPU-gestützten Simulationen könnten auch auf der Enterprise-Krankenstation von Pille McCoy laufen - mit dem Unterschied, dass die russischen Eigenentwicklungen bereits heute Menschenleben retten helfen. Auch Dr. Boris Yaremin ist begeistert und zeigt uns zum Abschluss einen Luftbildvergleich zwischen New York und Samara mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern. "Ich behaupte nicht, dass wir uns mit der US-Großstadt messen können, doch Samara ist eine wunderschöne Stadt. Und ich lade jeden herzlich ein, uns zu besuchen - dann können wir euch noch ausführlicher zeigen, woran wir arbeiten."

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      • Von fxler Freizeitschrauber(in)
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