Gesundheitswesen:Die ganze Palette des Betrugs

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  • Betrügerische Pflegedienste haben über mehrere Jahre hinweg Millionen-Summen von den Krankenkassen abgezockt - auf Kosten der Allgemeinheit.
  • Allein in Bayern soll der Schaden bis zu 200 Millionen Euro betragen.
  • Die AOK Bayern hat bereits neun Fälle in Schwaben angezeigt, die Staatsanwaltschaften in Augsburg und Kempten ermitteln.

Von Stefan Mayr und Dietrich Mittler, Augsburg/München

Am Dienstag saßen sie in München zusammen, die Kämpfer aller bayerischen Krankenkassen gegen Abrechnungsbetrug. Im Bürokratensprech heißen sie "Beauftragte zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen", das klingt furchtbar abstrakt und langweilig. Doch seit diesem Wochenende stehen sie im Mittelpunkt des Interesses, am Dienstag war sogar ein Kamerateam des ZDF da.

Die Journalisten interessierten folgende Fragen: Was läuft da schief im Pflegesystem? Wie kann es sein, dass betrügerische Pflegedienste über mehrere Jahre hinweg Millionen-Summen auf Kosten der Allgemeinheit abzocken?

Dominik Schirmer hat dazu ganz klare Antworten: "Grob geschätzt wurden alleine in Bayern die Krankenkassen um bis zu 200 Millionen Euro betrogen", sagt der Bereichsleiter von der AOK Bayern. Er spricht dabei von "der ganzen Palette des Betrugs". Schirmer berichtet von Pflegediensten, die sich Leistungen erstatten lassen, die sie allerdings nie erbracht haben. Von ungelernten Hilfskräften, die als qualifizierte Fachkräfte abgerechnet werden. Oder auch von einem Arzt, der Verordnungen ausstellt, die seine Patienten überhaupt nicht benötigen.

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Die AOK Bayern hat nach Schirmers Angaben neun Fälle in Schwaben angezeigt, die Staatsanwaltschaften in Augsburg und Kempten ermitteln. In einem Fall wurde bereits Anklage am Amtsgericht Augsburg erhoben. Die Staatsanwaltschaft wirft zwei Geschäftsführerinnen und vier Mitarbeitern eines Pflegedienstes Betrug respektive Beihilfe zum Betrug vor.

"Der Schwerpunkt liegt auf einer Achse Augsburg-Kaufbeuren-Kempten", sagt Dominik Schirmer. Die AOK habe aber auch schon weitere Fälle in den Großräumen München und Nürnberg im Visier. Die Abzocke findet aber in ganz Deutschland statt, längst beschäftigt sich das Bundeskriminalamt mit den flächendeckenden Betrügereien.

Am Wochenende zitierten der Bayerische Rundfunk und die Welt am Sonntag aus einem internen Papier des BKA, das sogar Hinweise auf organisierte Kriminalität aus Osteuropa aufzählt. "Beim Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen durch russische Pflegedienste handelt es sich um ein bundesweites Phänomen", heißt es in dem BKA-Bericht, "das insbesondere dort auftritt, wo sich durch Sprachgruppen geschlossene Systeme bilden." Darüber hinaus seien "in Einzelfällen Informationen bekannt, laut denen die Investition in russische, ambulante Pflegedienste ein Geschäftsfeld russisch-eurasischer Organisierter Kriminalität ist". Den Sozialkassen und damit auch den Beitragszahlern entstehe bundesweit ein jährlicher Schaden von mindestens einer Milliarde Euro.

Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) fordert in einer ersten Reaktion eine "umgehende Aufklärung" durch die Staatsanwaltschaften. Das Ministerium hat die bayerischen Kranken- und Pflegekassen um deren Erfahrungsberichte zu den Betrügereien gebeten. Die Rückmeldungen waren bis Dienstag noch nicht ausgewertet. Sofern sich "konkrete Hinweise auf gesetzgeberische Lücken ergeben", sagt Huml, werde man "beim zuständigen Bundesgesetzgeber auf eine rasche Schließung dieser Lücken dringen".

Dominik Schirmer von der AOK nennt die Probleme bereits beim Namen: "Die Krankenkassen brauchen bessere Kontrollmöglichkeiten", fordert er. Es gebe eine Gesetzeslücke, die die Betrüger konsequent ausnutzen. "Die Krankenkassen haben im Gegensatz zu Pflegekassen kein Recht auf unangemeldete Kontrollen", bemängelt Schirmer. Zudem fordert er eine bundesweite Datenbank, in der die Erkenntnisse aller Krankenkassen und Staatsanwaltschaften zusammengefasst werden. "Es gibt Geschäftsführer, die sind bundesweit für zig Pflegedienste tätig", sagt Dominik Schirmer von der AOK. Während in Bayern gegen eine Geschäftsführerin bereits eine Anklage vorliege, wüssten in anderen Bundesländern die Behörden und Kassen davon nichts. Dies erschwere den Kampf gegen Betrug erheblich.

Die Anklage der Staatsanwaltschaft Augsburg gegen die sechs Mitarbeiter eines Pflegedienstes liegt dem Amtsgericht seit 2014 vor. Einen Prozesstermin gibt es aber noch nicht. Auch das ist laut Krankenkassen im Kampf gegen die Betrügereien ein Problem: Die Justiz sei nicht ausreichend mit Experten ausgestattet, um "diese komplizierte Materie" adäquat zu bearbeiten.

© SZ vom 20.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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