Der Abrechnungsbetrug nimmt in der Pflege zu. Kleinere Fälle werden erst gar nicht verfolgt. Kassen fordern Fachstaatsanwälte.

Nach Auskunft Berliner Staatsanwaltschaft gab es seit 2013 mehr als hundert Verfahren wegen Betrugs in der Pflegebranche. Im vergangenen November lagen demnach 217 Strafanzeigen gegen 157 Pflegedienste in Berlin vor. Daraus resultierten zum damaligen Stand 101 Verfahren. Anzeige erstatteten Bezirksämter, Verwandte oder Krankenkassen. Allein die AOK Nordost hat nach Angaben ihres Justiziars Peter Wewer 240 Strafanzeigen in den Jahren 2014 und 2015 gestellt.

Verurteilungen hat es aber offensichtlich nicht gegeben. Sowohl Spandaus Sozialstadtrat Frank Bewig als auch Mittes Sozialstadtrat Stephan von Dassel (Grüne) sagen, es sei zu keinen größeren Prozessen gekommen. „Bestenfalls“, so von Dassel, „werden Verfahren gegen Verhängung einer Geldstrafe eingestellt.“

Kleinere Fälle werden erst gar nicht verfolgt

Von einer „falschen Prioritätensetzung“ bei den Ermittlungsbehörden spricht der Stadtrat. 50 Strafanzeigen hat der Bezirk seit Ende 2012 gestellt. „Alles größere Fälle, in denen wir von erwerbsmäßigem Betrug ausgehen. Die kleinen Einzelfälle können wir aus Kapazitätsgründen gar nicht verfolgen“, sagt der Grünenpolitiker. Selbst in solchen in Fällen, bei denen es zu Hausdurchsuchungen kam, wisse er von keiner Verurteilung der Verantwortlichen. Dabei geht es um viel Geld. Von Dassel beziffert die Schäden durch die Betrugsmaschen in Berlin auf 50 Millionen Euro, bundesweit auf zwei Milliarden.

Rund 250 Pflegedienste gibt es in Mitte, knapp 2500 Patienten erhalten Leistungen aus der Sozialkasse. Noch größer schätzt von Dassel den Anteil derjenigen Pflegebedürftigen, die ihre Versorgung selbst bezahlen und dem Bezirk deshalb nicht bekannt sind. Sechs Millionen Euro konnte Mitte 2014 allein bei den von der Sozialkasse bezahlten Patienten einsparen, weil seine Mitarbeiter im Rahmen von Kontrollbesuchen in der ambulanten Pflege aufdeckten, dass abgerechnete Leistungen nicht erbracht wurden. Nicht selten unter Mitwirkung der vermeintlichen Patienten, die immer wieder auch Mittäter in den Betrugsfällen sind.

Strafzahlung tut den Pflegdiensten kaum weh

Weil der Bezirk, der lediglich falsche Abrechnungen gegenüber der eigenen Sozialkasse, nicht aber gegenüber den Pflegekassen anzeigen kann, oftmals Schadenssummen nur im dreistelligen Bereich konkret nachweisen kann, tue eine Strafzahlung den Verurteilten kaum weh. Manche Geschäftsführer aus der Branche seien einschlägig namentlich bekannt, weil sie bereits etliche Pflegedienste gegründet hätten und immer wieder durch Unregelmäßigkeiten auffielen. Mehr Sensibilität wünscht sich der Stadtrat aber auch auf Seiten der Pflegekassen. 19 Pflegedienste hatte allein der Bezirk Mitte benannt, bei denen eine nicht anlassbezogene Rechnungsprüfung angezeigt wäre. Solche Nachforschungen sind der Senatsverwaltung in Zusammenarbeit mit den Kassen vorbehalten. Von Dassel: „Nur in einem Fall wurde dann auch geprüft.“

Viele Hinweise aus der Bevölkerung

Dem Neuköllner Sozialstadtrat Bernd Szczepanski (Grüne) stehen inzwischen zwei zusätzliche Mitarbeiterinnen zur Verfügung, die die Qualität von Pflegeleistungen kontrollieren und Pflegebetrug aufdecken sollen. Sie werden nach Hinweisen aus der Bevölkerung tätig - und bekommen mehr solcher Hinweise, als sie bearbeiten können. Bisweilen seien es mehrere Dutzend pro Monat, wie Szczepanski der Berliner Morgenpost sagte.

Auch der Neuköllner Stadtrat vermisst eine ausreichende Unterstützung durch die Staatsanwaltschaft. Zudem kritisiert er, dass Strafverfahren in der Regel gegen die Geschäftsführer betrügerischer Pflegedienste geführt werden, nicht aber gegen die Pflegedienstleitung. Die seien aber in aller Regel in die kriminellen Aktivitäten eingebunden, anders seien diese gar nicht zu praktizieren. So würden dann häufig kurz nach der Schließung von Pflegediensten neue eröffnet – mit der alten Pflegedienstleitung.

Der Grünen-Politiker moniert, dass das Bezirksamt den Vertrag mit einem Pflegedienst nur gemeinsam mit der Pflegekasse kündigen könne. Die Zusammenarbeit mit den Kassen sei zwar besser geworden, dennoch wünscht sich Szczepanski im nächsten Rahmenvertrag mit den Pflegediensten ein eigenständiges Kündigungsrecht für die Bezirke. Schließlich müssten sie falsch abgerechnete oder nicht erbrachte Leistungen ja auch bezahlen, wenn sie über die Sozialkasse abgerechnet werden.

Bildung einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft gefordert

Die Techniker Krankenkasse fordert im Zusammenhang mit dem betrügerischen Verhalten von Pflegediensten, den Einsatz einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft. „Wenn wir als Krankenkasse Fälle zur Anzeige bringen, dann landet das bei einem Staatsanwalt, der im Zweifel kein ausreichendes Fachwissen hat“, sagte die Sprecherin der Techniker Krankenkasse, Heike Weinert, der Berliner Morgenpost. „In unterschiedlichen Dienststellen vorhandene Informationen über Ermittlungsverfahren oder Verdachtsmomente fließen oft nicht zusammen“, kritisierte die Sprecherin. Auch Stadtrat von Dassel fordert seit Jahren , die Staatsanwaltschaft möge eine spezielle Gruppe auf das Thema Pflegebetrug ansetzen. „Das müssen immer dieselben Leute sein, die Muster erkennen und das System durchschauen können“, sagt von Dassel.

Aus der Senatsverwaltung Gesundheit und Soziales hieß es, man verfolge bereits seit geraumer Zeit eine gemeinsam abgestimmte Strategie mit den Pflegekassen, den Bezirken und den Ermittlungsbehörden zur Bekämpfung von Leistungsmissbrauch. „Dadurch ist es gelungen, den Verdachtsfällen umgehend nachzugehen und Missbrauch einzudämmen“, sagte eine Sprecherin. Zusätzlich zur 2013 eingerichteten juristischen Hilfestellung unterstütze die Senatsverwaltung die Bezirke durch zwei zusätzliche Stellen je Bezirk zur Vermeidung von Leistungsmissbrauch in der Pflege.

Zudem sei auf Vorschlag der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales im Justizressort bereits eine Staatsanwältin ausschließlich mit dem Thema Pflege befasst. Dort würden etwa Fälle von Leistungsmissbrauch sondiert und zum Teil direkt bearbeitet. „Diese Stelle weiter zu spezialisieren und personell zu stärken wird von unserem Hause ausdrücklich befürwortet“, sagte eine Sprecherin

Bundeskriminalamt sieht einen Schwerpunkt in Berlin

Auch das Bundeskriminalamt (BKA) beobachtet das Phänomen des Abrechnungsbetruges von Pflegediensten, die von Staatsangehörigen aus den GUS-Staaten geführt werden. Berlin gehöre wegen seiner großen Russischen Community deshalb zu einem bundesweiten Schwerpunkt, hieß es aus dem BKA. „Den kommunalen Sozialhilfeträgern sowie den gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen, also letztlich der Allgemeinheit, entstehen beträchtliche finanzielle Schäden.“ Deshalb sei es wichtig, sich gemeinsam mit den Polizeien der Bundesländer diesem Phänomen zuzuwenden und Straftaten aufzuklären, sagte eine Sprecherin auf Anfrage der Berliner Morgenpost. Das BKA führe allerdings keine eigenen Ermittlungen, sondern führe die Daten aus den Ländern nur zusammen. Die Sprecherin konnte keine genauen Angaben über den bislang entstandenen Schaden machen.