Extrem pflegebedürftig – Seite 1

Über manche Geschichten muss man schmunzeln, wenn Kritiker der Pflegebranche sie erzählen. Dabei sind sie gar nicht zum Lachen. Die von der hochbetagten Dame zum Beispiel, die morgens ganzkörperwippend und geistesabwesend auf ihrem Stuhl saß, als die Kontrolleure kamen, um ihre Pflegestufe zu ermitteln. Abends dagegen zog sie auf der Bühne des Pflegeheims ihre Show als Alleinunterhalterin und Clownin ab. Für die muntere Frau kassiert der Heimbetreiber Pflegegeldzuschüsse satt, deshalb ist ihre wunderbare Verwandlung keine bloße Clownerie, sondern Betrug. Sozialverbände und Korruptionsexperten kennen viele solcher Geschichten. Sie kosten das System jährlich Milliarden.

"Das Geld, das wir in die Pflege stecken, würde sehr wohl ausreichen", sagt Christoph Jaschke, Leiter des Bereichs Pflege und Betreuung bei Transparency International Deutschland, "wenn wir den Betrug und die Korruption aus dem System herausbekommen würden." Gut 61 Milliarden Euro fließen von staatlicher Seite und aus privaten Haushaltskassen in die Pflegebranche. Damit ließen sich die rund 2,5 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland schon ordentlich betreuen, zumal nur ein Bruchteil von ihnen zu den schweren Pflegefällen zählt, der Großteil dagegen braucht viel weniger Hilfe. Und 61 Milliarden ergeben immerhin 24.400 Euro pro Kopf und Jahr.

Tatsächlich komme nur ein kleiner Teil des Geldes überhaupt bei den Patienten an, sagt Jaschke. "Wir haben schon seit Jahren Informationen darüber, dass es Bestechung und unglaubliche Betrügereien in der Branche gibt." Der kürzlich aufgeflogene Abrechnungsskandal, bei dem Pflegedienste geschätzt ein bis zwei Milliarden Euro ergaunerten, indem sie sich für nicht erbrachte Leistungen bezahlen ließen, überrascht Jaschke deshalb gar nicht: "Wir müssen sogar davon ausgehen, dass das nur die Spitze des Eisbergs ist und da noch viel mehr verloren geht." In einem Report von 2012 prangerte Transparency erhebliche Schwachstellen im Pflegebereich an und erkannte viele Möglichkeiten "für versehentliche oder absichtliche Falsch- und Doppelabrechnungen, aber auch für kreative Buchführungsmethoden". Erst Mitte der Woche haben die Staatsanwaltschaften Kiel und Lübeck wegen vermuteten Sozialbetrugs 110 Pflegeheime und Kliniken durchsucht. "Es geht um den Verdacht, dass die Einrichtungen Pflegekräfte als Scheinselbstständige beschäftigten und auf diese Weise Sozialabgaben in Höhe von 6,1 Millionen Euro einsparten", sagte Oberstaatsanwalt Axel Bieler am Freitag. Ermittelt werde gegen Verantwortliche in 237 Einrichtungen.

Wirrwarr bei der Finanzierung

Das Hauptproblem sei die große Anzahl von Akteuren auf der Finanzierungsseite. "Ganz ohne Frage quillt das deutsche Pflegesystem über von bürokratischen Abstimmungsproblemen zwischen Bund, Ländern, Kommunen, freien Verbänden und freier Wirtschaft und zwischen den verschiedenen Leistungsträgern", sagt Jaschke. Das Geld für die Pflege stammt zu einem kleineren Teil aus dem Privateinkommen von Patienten und ihren Angehörigen und zum überwiegenden Teil von Pflegekasse, Sozialhilfe, Krankenversicherung, Rentenversicherung und deren Reha-Töpfen sowie der gesetzlichen Unfallversicherung. Genau dieses Zuständigkeitswirrwarr mache das System "schwer durchschaubar und überhaupt nicht kontrollierbar", kritisiert Transparency.

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz schließt sich diesem harten Urteil an: "Der Gesetzgeber hat Pflegeversicherung und Krankenversicherung künstlich getrennt. Hinzu kommt eine Vielzahl von Leistungsanbietern wie Ärzte, Therapeuten, Apotheker. So entsteht ein undurchsichtiger Dschungel", sagt deren Vorstand Eugen Brysch, "das macht den Milliardenbetrug mit Pflegebedürftigen erst möglich." Oft wisse die eine Seite nicht, was die andere Seite schon bewilligt oder bezahlt habe, "so ein System kann man immer ausnutzen, wenn mehrere Leute zusammenarbeiten."

Die Kassen verteilen und verwalten das Geld bloß und zahlen es an die Dienstleister, also an Heimbetreiber und ambulante Pflegedienste. Die versuchen erst einmal, selbst ihre Kosten zu decken und danach noch einen Gewinn übrig zu behalten. Die Patienten sind das schwächste Glied in dieser Kette. Sie sind zwar "die eigentlichen Finanziers der Pflege, haben aber bis heute keine durchsetzbaren Mitbestimmungsrechte", sagt Transparency-Mann Jaschke. Und sie bekommen auch keine der Abrechnungen zu sehen, mit denen Pflegedienste ihr Geld bei den Kassen einfordern. Ob darauf also steht, dass angeblich dreimal täglich ein Betreuer bei ihnen in der Wohnung vorbeischaut – obwohl höchstens zweimal täglich jemand kommt – das wissen sie nicht einmal.

Theoretisch können Betreute und Angehörige Einsicht in die Unterlagen anfordern, praktisch mache das aber so gut wie niemand, sagt Korruptionsexperte Jaschke. Und dann gebe es ja auch noch Patienten, die mit Heimbetreibern gemeinsame Sache machen, um mehr Geld zu ergaunern. Oder Angehörige, die falsche Bescheinigungen ausstellen, um besser für die Pflege entlohnt zu werden.

Kontrollen gibt es kaum

Aber kontrolliert das alles keiner? Die Antwort darauf fällt bei vielen Kritikern verblüffend direkt aus: "Nein – zumindest kaum", heißt es bei den Patientenschützern und Transparency ergänzt: "Es gibt Kontrollregelungen auf verschiedenen Ebenen, die entweder zu detailliert oder zu ungenau sind. Während die namhaften Heimbetreiber bundesweit agieren, sind die Prüfbehörden regional, bestenfalls landesweit organisiert. Ein deutschlandweites Register darüber, welcher Betreiber wie oft gegen Regelungen verstoßen hat, existiert nicht. Systematische Verstöße lassen sich so kaum feststellen." Auch Schwerpunktstaatsanwaltschaften, die systematisch Betrugsfälle aufdecken könnten, existieren hierzulande kaum. Das müsste sich ändern, fordert die Stiftung Patientenschutz.

Es gibt zwar den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK), der für Stichprobenkontrollen beim Patienten zuständig ist, "aber der prüft nur, ob alle Leistungen sachgerecht erbracht wurden", sagt Jaschke, "nicht aber, ob übereinstimmt, was erbracht und abgerechnet wurde." Eine reguläre Prüfung der Abrechnungen findet auch bei den Krankenkassen nicht statt. Viele haben zwar Antibetrugsabteilungen eingerichtet, die nach groben Fälschungen in den Nachweisen fahnden sollen, letztlich machen aber auch sie nur Stichproben. Zudem gibt es offenbar viele Fälle, in denen sich auch der Medizinische Dienst bei seinen Hausbesuchen an der Nase herumführen lässt, legt eine aktuelle Studie des Wirtschaftsforschungsinstitutes RWI und der Beratungsgesellschaft Accenture nahe: "Immer wieder wird berichtet, dass Gutachten des MDK den tatsächlichen Pflegebedarf nicht korrekt berücksichtigen."

Es fehlt an Transparenz

Viele Kritiker haben daher Zweifel, ob die Berichte des MDK überhaupt zu mehr Transparenz beitragen. Ebenso wenig wie die Pflegenoten, die Patienten ihren Betreuern und Heimen regelmäßig in Umfragen für Pflegeheim Rating Reports geben. Die fallen nämlich durchweg gut bis sehr gut aus. "Das ist ja auch klar", sagen Patientenvertreter wie Bettina Schubarth vom Sozialverband VdK, "die Betreuten befinden sich in einem Abhängigkeitsverhältnis und sind psychisch oft nicht in der Lage, sich zu wehren." Wer Monate nach einem Pflegeplatz gesucht hat, der wird nicht mit einer schlechten Benotung riskieren, dass er künftig als Patient zweiter Klasse behandelt wird.

Denn während es bei der Finanzvergabe zu viele Akteure gibt, fehlen sie dort, wo tatsächlich Patienten betreut werden sollen. Bundesweit gibt es 12.300 Pflegedienste und 12.400 Pflegeheime mit rund 900.000 Plätzen. Bereits in 15 Jahren werden es wegen der schnell alternden Bevölkerung rund 166.000 Plätze zu wenig sein, ermittelte das RWI und außerdem viel zu wenige Betreuer. Schon jetzt sind ausgebildete Fachkräfte knapp. Denn obwohl der Beruf des Pflegers anstrengend und kräftezehrend ist, ist er dermaßen unterbezahlt, dass ihn kaum jemand ergreift. Bei ihnen sparen die Heim- und Dienstbetreiber nämlich am liebsten.

Das schnelle Wachstum der Pflegebranche hat in den vergangenen Jahren zu einer Welle von Privatisierungen geführt. Immer mehr Kommunen und öffentliche Träger ziehen sich zurück und immer mehr private Betreiber drängen in den Markt, schlüsselt das Wirtschaftsforschungsinstitut RWI auf. Auch, weil die Einstiegshürden gering sind: Um einen ambulanten Pflegedienst anzumelden, reicht eine examinierte Krankenschwesterausbildung, sagen Branchenexperten. Die Folge ist eine zunehmende Kommerzialisierung des Sektors, dessen Bürokratiekosten zudem immer mehr steigen. Der Effizienz- und Kostendruck nehme so zu, heißt es in der Studie des RWI.

"Inzwischen ist der Personalschlüssel in vielen Pflegeheimen und ambulanten Diensten so schlecht, dass eine angemessene Pflege überhaupt nicht zu leisten ist", sagt Bettina Schubarth vom Sozialverband VdK. Wenn ein Pfleger regelmäßig für die Nachtwache von 40 bis 60 Patienten zuständig ist, zum Beispiel. Welche bizarren Auswirkungen der Personalmangel hat, hört sie oft: "Patienten, die noch mobil wären, werden dann im Rollstuhl in den Speisesaal geschoben, weil es zu lange dauern würde, mit ihnen die Treppen zu gehen." Und Demenzkranke, die vergessen haben, wie man einen Löffel benutzt, verhungern quasi vor ihren Tellern, weil ihnen niemand beim Essen hilft. "Oft geschieht das nicht aus Boshaftigkeit", sagt Schubarth, "sondern ist nur dem Zeitmangel geschuldet."

Würde das Geld, dass dieses Land regelmäßig in die Branche pumpt, üppiger und häufiger am Ende der Pflegekette ankommen, bei den Betreuungskräften, könnten die viel besser tun, wofür sie bezahlt werden: es den Patienten gut gehen lassen.