Gastkommentar

Ärzte in Zeitnot

Über eine Optimierung der Prozessqualität und unter Beihilfe neuer IT-Möglichkeiten kann der Patientennutzen erhöht und die Bürokratie abgebaut werden.

Matthias Mitterlechner, Johannes Rüegg-Stürm und Harald Tuckermann
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Akutsomatisch tätige Ärzte verbringen im Durchschnitt noch rund ein Drittel des Tages mit patientennahen Aktivitäten. (Bild: Christian Beutler / Keystone)

Akutsomatisch tätige Ärzte verbringen im Durchschnitt noch rund ein Drittel des Tages mit patientennahen Aktivitäten. (Bild: Christian Beutler / Keystone)

Im Januar 2016 berichtete diese Zeitung über eine Studie des Forschungsinstituts GfS Bern. Das GfS untersuchte die Auswirkungen des Swiss-DRG-Systems auf den Arbeitsalltag der Fachleute im Gesundheitswesen. Laut dieser Studie sind die Ärzte mit ihrer Arbeit sehr zufrieden. Allerdings beschreiben sie einen wachsenden Aufwand für Dokumentationsarbeiten bei einer gleichzeitigen Abnahme medizinischer Tätigkeiten. So verbringen akutsomatisch tätige Ärzte im Durchschnitt noch rund ein Drittel des Tages mit patientennahen Aktivitäten. Woher kommt der Rückgang genau jener Tätigkeiten, derentwegen wohl die allermeisten Fachpersonen im Gesundheitswesen ihren Beruf ergriffen haben?

Erstens leben wir in einer Zeit, in der eine zunehmend kritische Öffentlichkeit von ihren Institutionen immer mehr Transparenz und Rechenschaft einfordert. Diese Entwicklung hat auch das Gesundheitswesen erfasst. Gesundheitsfachleute sollen eine Vielzahl von Kennzahlen erheben und diese nach innen und aussen rapportieren. Die dafür erforderlichen Erhebungen nehmen Zeit in Anspruch und führen zu wachsendem administrativem Aufwand, ohne dass bei den Beteiligten immer Klarheit über den konkret erwartbaren Nutzen besteht, der oft an anderer Stelle als am Erhebungsort anfällt.

Zweitens deutet aber die zunehmende «Papierflut» auch auf strukturelle Veränderungen in der Wertschöpfung des Gesundheitswesens hin. Diese Veränderungen führen zu einem erhöhten Koordinationsbedarf, der häufig mithilfe von mehr und neuen Formularen abgearbeitet wird.

Zunächst einmal beruht der beispiellose medizinische Fortschritt der letzten Jahrzehnte auf einer fortschreitenden Spezialisierung und Ausdifferenzierung der modernen Medizin und ihrer Organisation. Weil aber der Anteil multimorbider, meist chronisch kranker Patienten heute stark zunimmt, steigt die gegenseitige Abhängigkeit der Health-Professionals. Immer mehr Spezialisten sind zeitgleich an der Behandlung eines einzelnen multimorbiden Patienten beteiligt.

Eine weitere Ursache für den gestiegenen Abstimmungsbedarf liegt darin, dass Gesundheitsfachleute – in Zeiten knapperer Budgets – gemeinsam auf eine immer aufwendigere Infrastruktur wie medizinisch-technische Geräte, IT oder kapitalintensive Arbeitsplätze zurückgreifen müssen. Dieser Zugriff auf geteilte Ressourcen und deren überlegte Weiterentwicklung setzen steigende Abstimmungsmöglichkeiten zwischen den Leistungserbringern voraus. Nicht zuletzt aufgrund der existenziellen Dimension ihrer Arbeit setzen aber Gesundheitsfachleute ihre Prioritäten traditionell anders. Sie fokussieren stark auf die Arbeit unmittelbar am und mit dem Patienten – im Operationssaal oder in den Behandlungszimmern. Fragen, die mit einer systematischen Optimierung von gemeinsamer Planung und Zusammenarbeit, von Informations-, Patienten- und Materialfluss zusammenhängen, rücken häufig in den Hintergrund. Darunter leidet nicht nur die Qualität einer patientenzentrierten Wertschöpfung über Disziplinen- und Bereichsgrenzen hinweg. Unerwünschte Nebenwirkungen sind auch eine anschwellende Zettelwirtschaft und ungewollte Bürokratie. Diese Symptome werden von den Gesundheitsfachleuten im GfS-Bericht ausführlich beschrieben. Was kann unternommen werden, damit sich Gesundheitsfachleute wieder vermehrt ihrem Hauptgeschäft, der Behandlung von Patienten, widmen können?

Eine Kernaufgabe besteht künftig darin, die Wertschöpfung am Patienten und die dabei mitlaufenden Datenflüsse und Entscheidungsprozesse noch stärker als bisher integrativ in Richtung einer patientenzentrierten, prozessorientierten Organisation weiterzuentwickeln. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die Förderung eines geteilten Verständnisses für die Komplexität medizinisch-pflegerischer Behandlungsprozesse. Dies erfordert vor allem das gezielte Schaffen von Kommunikationsplattformen für einen strukturierten Dialog. Dieser ermöglicht es Gesundheitsfachleuten, ihren gelebten Arbeitsalltag samt seinen fragmentierten Informationsflüssen bereichsübergreifend z. B. mithilfe von Prozess-Schaubildern zu visualisieren, zu reflektieren und Verbesserungsmassnahmen zu identifizieren.

Mithilfe regelmässiger Anstrengungen zur Optimierung der Prozessqualität – unter Beihilfe neuer IT-Möglichkeiten – kann mittelfristig der Patientennutzen erhöht und die Bürokratie abgebaut werden. Die Verantwortung, diesen Weg auszuprobieren, trägt weder die «Verwaltung», die Pflege noch die Ärzteschaft alleine. Vielmehr beruht die erfolgreiche Entwicklung einer patientenzentrierten, prozessorientierten Organisation auf gemeinschaftlicher Führungsarbeit. Diese Führungsarbeit sollte gezielt als experimenteller Prototyp neuartiger Formen der Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe konzipiert und praktiziert werden, auf die das Gesundheitswesen künftig dringendst angewiesen sein wird.

Matthias Mitterlechner ist Assistenzprofessor für Healthcare-Management, Johannes Rüegg-Stürm ist Professor für Organization-Studies, Harald Tuckermann ist Assistenzprofessor für das Management pluralistischer Organisationen; die Autoren leiten das Forschungsprogramm «HealthCare Excellence» an der Universität St. Gallen.