Fallpauschalen auch für freie Ärzte?

Kriegen Mediziner je mehr Geld, je länger sie für einen Patienten brauchen, setzt das falsche Anreize. Fixtarife sollen nun das Kostenwachstum eindämmen – die Spezialärzte haben Angst vor dem Staat.

Simon Hehli
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Bei Spezialärzten sind die Kosten stark angestiegen. (Bild: Gaëtan Bally / Keystone)

Bei Spezialärzten sind die Kosten stark angestiegen. (Bild: Gaëtan Bally / Keystone)

Wie viel Geld sollen frei praktizierende Ärzte für ihre Leistungen erhalten? Diese Frage hätte der neue Tarif für die Zukunft beantworten sollen. Doch nach jahrelanger Vorarbeit droht nun ein Scherbenhaufen: Die Ärzte haben in einer Urabstimmung alle Vorschläge vom Tisch gefegt. Sie sind insbesondere nicht bereit, einen Tarif zu akzeptieren, der keine unmittelbaren Kostensteigerungen mit sich bringt. Diese Bedingung hatte der Bundesrat an die Revision gestellt – und fand damit Unterstützung bei den Tarifpartnern, die zusammen mit dem Ärzteverband FMH die neue Struktur erarbeitet haben: dem Krankenkassenverband Curafutura, den Unfallversicherern und dem Spitalverband H+. Dieser hat angekündigt, dass er dem Bundesrat auch im Alleingang einen kostenneutralen, «normiert» genannten Vorschlag einreichen werde.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Gesundheitsminister Alain Berset diese Variante der Tarifrevision akzeptiert, ist jedoch klein. Denn eine weitere Bedingung ist, dass sowohl eine Mehrheit der Leistungserbringer als auch der Krankenkassen hinter der Reform stehen. Das ist einerseits wegen des Neins der Ärzte nicht erfüllt, andererseits, weil sich Santésuisse querstellt. Der grössere der beiden Krankenkassenverbände war bisher nicht involviert in die Erarbeitung des Tarifs. Das soll sich nun aber ändern.

3,8 Milliarden mehr im Jahr

Aus Sicht von Santésuisse wäre eine unnormierte Variante nach dem Gusto vieler Ärzte verheerend gewesen, hätte sie doch zu Mehrkosten von jährlich 3,8 Milliarden Franken geführt. Die Santésuisse-Vertreter wehren sich jedoch auch gegen die normierte Version des Spitalverbands, weil sie nicht auf deren Kostenneutralität vertrauen. Das Problem ist aus ihrer Sicht, dass im neuen Tarif deutlich mehr Leistungen pro 5 Minuten enthalten sind. «Und diese können fast unbeschränkt verrechnet werden», sagt Santésuisse-Direktorin Verena Nold.

Das Kostenvolumen der medizinischen Leistungen von heute rund 10 Milliarden bleibe damit nur theoretisch gleich gross, praktisch drohe jedoch eine massive Mengenausweitung – und damit weitere Prämienschocks für die Versicherten. «Gerade die ‹Leistungen in Abwesenheit› sind eine Blackbox, da können gewisse Ärzte oder Spitalambulatorien fast nach Belieben höhere Summen einfordern, ohne dass man es wirklich überprüfen könnte», sagt Nold warnend. Die Überversorgung könne auch für die Patienten gefährlich werden – etwa wenn Röntgenuntersuchungen häufiger gemacht würden, als eigentlich nötig wäre.

Nold fordert deshalb einen Systemwechsel: weg von der Vergütung von Einzelleistungen, hin zu mehr Fallpauschalen, wie sie seit 2012 in den Spitälern zur Anwendung kommen. Santésuisse hat dabei neben den Spitalambulatorien auch die freischaffenden Spezialisten wie Radiologen oder Kardiologen im Blick. Denn bei diesen sind die Kosten stark angestiegen: Von 2004 bis 2014 wurden die Konsultationen bei den Hausärzten nur um 9 Prozent teurer, beim Rest der Ärzte aber um 29 Prozent.

In Zusammenarbeit mit dem Verband der chirurgisch und invasiv tätigen Ärzte FMCH erarbeitet Santésuisse einen Vorschlag, der das Kostenwachstum dämpfen soll. Im bisherigen Tarif Tarmed fallen 80 Prozent der Kosten in die ersten 6 von gegen 40 Kapiteln. Das mit Abstand teuerste Gebiet sind die Grundleistungen, das ist beispielsweise das Gespräch mit dem Patienten. Diesen Bereich wollen Santésuisse und FMCH nur indirekt antasten; Fallpauschalen soll es in den ebenfalls teuren Gebieten Bildgebende Techniken, Ophthalmologie, Kardiologie, Bewegungsapparat, Dermatologie sowie Vor-/Nachbereitung im Ambulatorium geben. Nur Grundleistungen, die in diesen Bereichen erbracht werden, würden ebenfalls unter eine Pauschale fallen.

Lieber zu viel machen

Ein System mit Fixbeträgen für bestimmte Eingriffe wäre flexibler und günstiger, argumentiert Verena Nold. Wie im Spitalbereich kann sie sich auch abgestufte Pauschalen vorstellen, so dass es für die Behandlung von Patienten mit komplizierten Krankheitsbildern mehr Geld gäbe. Bei Fixbeträgen besteht – ganz im Gegensatz zu den Einzelleistungen – die Gefahr, dass die Ärzte eher zu wenig machen als zu viel. «Einer solchen Entwicklung müsste man mit guten Qualitätskontrollen entgegenwirken», sagt Nold.

Im Gesundheitswesen gilt eigentlich für jede Interessengruppe das Motto: immer möglichst viel für sich selber rausholen. Es scheint deshalb paradox, dass der Spezialistenverband FMCH mit Santésuisse zusammenspannt, obwohl die Vorschläge gerade auf das Portemonnaie der Spezialisten wie Radiologen, Augenärzten oder Kardiologen abzielen. FMCH-Generalsekretär Markus Trutmann erklärt, sein Verband handle durchaus eigennützig – nur denke er längerfristig. Wenn die Ärzte versuchten, unvernünftig viel Geld rauszuholen, fahre man gegen die Wand, meint er warnend: «Die Lage bei den Prämienzahlern ist jetzt schon angespannt, da kann man doch keinen Tarif einführen, der die Kosten weiter in die Höhe treibt.»

Bei einem ungebremsten Kostenwachstum würde der Druck auf staatliche Interventionen steigen, sagt Trutmann. Er fürchtet insbesondere, dass es dann zur Einführung von kantonalen Globalbudgets käme. «Wenn pro Quartal nur noch ein bestimmter Betrag zur Verfügung steht, kommt es zu verheerenden Engpässen in der Versorgung, zu langen Wartezeiten für die Patienten – und zu einem Verteilkampf zwischen den Ärzten, der den kollegialen Zusammenhalt zerstört.» Für Trutmann geht es jedoch nicht nur um die Abwehr eines Schreckensszenarios. Er sieht auch sonst Vorteile bei den Fixtarifen: «Sie vereinfachen die Administration und zwingen die Ärzte, ihre Mittel möglichst effizient einzusetzen.» So hätten sie beispielsweise im Gegensatz zu heute Anreize, die Digitalisierung ihrer Patientenakten voranzutreiben.

Hoffnung auf Bersets Plazet

Weitgehend unbestritten ist, dass Pauschalen in der Grundversorgung wenig Sinn ergeben. «Wenn der Hausarzt Frau Meier mit ihrem hohen Blutdruck, einem entgleisten Zuckerwert und auch noch chronischer Bronchitis behandelt, lässt sich das nicht über einen Fixbetrag abrechnen», sagt Urs Stoffel vom Ärzteverband FMH. Im Bereich der Spezialärzte sieht auch er das Potenzial für Pauschalen bei gut abgrenzbaren Eingriffen, mahnt aber gleichzeitig: «Man darf nicht erwarten, dass wir dadurch die Kostensteigerungen, die in erster Linie aus der Alterung der Gesellschaft und der Zunahme von Mehrfacherkrankungen resultieren, in den Griff bekommen.» Zudem befürchtet Stoffel, dass Pauschalen Anreize setzen könnten, vor allem Patienten mit verhältnismässig geringem Behandlungsbedarf zu bevorzugen. «Dadurch kommt es zu einer Qualitätseinbusse.» Verena Nold glaubt hingen nicht an die Gefahr des Rosinenpickens: «Es gibt jetzt schon ein Überangebot an Spezialärzten, sie müssen deshalb froh sein, wenn sie genug Patienten haben.»

Santésuisse und FMCH schlagen vor, den bestehenden Tarmed noch weiterlaufen zu lassen, einen neuen Tarif mit der Mischung aus Pauschalen und Zeitentschädigungen 2017 zu prüfen und ihn dann 2018 einzuführen. Auf eine gewisse Offenheit bei Bundesrat Berset dürfen sie hoffen. Denn in seiner Agenda Gesundheit 2020 ist eine Stärkung der Pauschalabgeltungen vorgesehen – in der Hoffnung, dadurch Kosten sparen zu können.

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